24.08.2017
Cinema Moralia – Folge 160

Der hyste­ri­sche Mann

Der verrückte Professor
Dies war seine berühmteste Rolle: Der verrückte Professor
(Foto: Österreichisches Filmmuseum)

Die drei Leben des Jerry Lewis: Zum Tod des großen amerikanischen Komikers – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 160. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Einver­nehmen mit dem Tod ist Einver­nehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott.«
Herbert Marcuse

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Nachrufe sind traurig, nicht nur, wenn es um Personen geht, die man persön­lich kannte. Sie sind aber auch eine lästige Ange­le­gen­heit. Die letzten Wochen traf es uns alle – mich und die Kollegen – immer am Montag. Vor vier Wochen George Romero und Martin Landau, vor drei Wochen Hans Hurch, dann Jeanne Moreau und Sam Shepard.
Nun Jerry Lewis.

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Ich überlege, ob ich Lewis und seine Filme eigent­lich mochte, oder doch nicht so sehr. Dieses Grimas­sieren war eigent­lich gar nicht so lustig, sondern anstren­gend. Woran ich mich erinnere: Die nervigen Mitschüler, die am nächsten Morgen die Lewis-Filme vom Vorabend nach­er­zählt haben.
Ich frage mich auch, wer von den unter jüngeren Lesern Jerry Lewis eigent­lich noch kennt? Mal ehrlich: Wie bekannt ist er unter jenen, die sich jetzt nicht speziell für Kino inter­es­sieren? Und woher kommt diese Begeis­te­rung, die jetzt in den Nachrufen anklingt? Oder bin ich einfach nur humorlos?
Viel­leicht war ich ja auch einfach neidisch auf die Unbe­schwert­heit des Lachens der Anderen. Aber mit Lewis, im Unter­schied zu Chaplin, Keaton, und selbst Louis de Funes war man immer erstmal unter seinem Niveau.

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Zuletzt hatte er es gar in das »Museum of Modern Art« geschafft. Im vergan­genen Jahr ehrte das »MoMa« Jerry Lewis zu dessen 90. Geburtstag mit einer Ausstel­lung und der Auffüh­rung von zehn seiner Filme. Jetzt, da der »King of Comedy« im 92. Lebens­jahr verstorben ist, wird endgültig erkennbar, dass es eigent­lich drei Jerry Lewis gibt, drei ganz verschie­dene Berufs- und Lebens­phasen im Leben dieses Mannes, der am 16. März 1926 als Joseph Gerald Levitch in Newark, New Jersey vor den Toren von New York in klein­bür­ger­li­chen jüdischen Einwan­de­rer­ver­hält­nissen geboren wurde – und seine Kindheit und das hohe Alter sind damit nicht gemeint.

Eine Kindheit im herkömm­li­chen Sinne hat Jerry Lewis sowieso nie gehabt. Bereits mit fünf Jahren stand der Sohn eines Nacht­club­sän­gers auf der Bühne – bei seinem ersten Auftritt begann er angeblich aus Lampen­fieber zu weinen: »Die Leute brüllten vor Lachen. Da wusste ich, was ich für den Rest meines Lebens zu tun hatte: stolpern, ausrut­schen, hinfallen«, erzählte er Jahr­zehnte später.

»The emotion is in the emulsion.« – »Das Gefühl ist das Binde­mittel«. Es gibt niemanden, der in den sechziger und siebziger Jahren aufwuchs, der Jerry Lewis nicht zumindest aus dem Fernsehen kennt. Die sehr spezielle, einmalige Komik dieses Komikers war immer eine, die sich ganz besonders an das Kind im Erwach­senen und direkt an die Kinder richtete: Grimas­sen­schneiden, Augen­rollen, zappeln, stolpern, schnell sprechen, schreien, jaulen, Haupt­sache hektisch – ein hyste­ri­scher Mann. Vor allem sein Gesicht war einmalig, war pure Anarchie, das Gegenteil der unbe­wegten ausdruckslos-beherrschten Gesichter von Buster Keaton oder Jacques Tati. Lewis war eher ein Clown und naher Verwandter von Harpo, dem irra­tio­nalsten der vier »Marx Brothers«. Im Gesicht von Jerry Lewis, das schrieb immerhin Jean-Luc Godard, verbinde »sich das Äußerste an Künst­lich­keit mit der Noblesse des wahren Doku­men­tar­films.«

Lewis mag aus heutiger Sicht zeitlos wirken, aber er ist doch zual­ler­erst, von seiner künst­le­ri­schen Herkunft, wie seiner Karriere her, ein Reprä­sen­tant der 50er Jahre, dem Jahrzehnt, in dem Amerika wirklich auf dem Höhepunkt seiner Geschichte der Nabel der (west­li­chen)= Welt war, also eigent­lich schon wieder auf dem abstei­genden Ast.
Lewis war auch ein ameri­ka­ni­scher Heinz Ehrhardt, also in seinem Humor ein sehr typischer Reprä­sen­tant all der Verklem­mungen, des Repres­siven seiner Zeit.

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Lewis war gerade erst 20, da traf er mit Dean Martin zusammen, dem Italo­ame­ri­kaner aus so ganz anderen Migranten-Aufstei­ger­kreisen. In den verrauchten Nacht­clubs von Atlantic City ging es los, und dann schnell nach oben. Die scheinbar komplett impro­vi­sierten Auftritte der witzigen Wort­akro­baten »Martin & Lewis« wurden eine Sensation und erzielten Höchst­gagen. Auf eigene Shows in Radio und Fernsehen folgten schon 1949 erste Spiel­filme.
Siebzehn Filme machten beide in den nächsten zehn Jahren zusammen. Dean Martin war der Dummkopf, der singen konnte und gut aussah, Jerry Lewis der intel­li­gente Toll­patsch. In den Filmen hat Dean Martin immer die Mädchen bekommen, die Jerry Lewis zuvor ange­schleppt hatte – weil er lustig war, und auf sie voll­kommen unbe­droh­lich wirkte. In Wirk­lich­keit war das Verhältnis wohl ausge­gli­chen, und wer genauer hinsah, der erkannte in Lewis öffent­li­cher Persona immer auch einen Anar­chisten, den voll­kommen unbe­re­chen­baren Ausdruck des Trieb­haften, die rohe Gewalt des unbe­wussten »Es«, das Sigmund Freud beschrieben hat.

Irgend­wann wurde die Rivalität zu groß und 1956 brach das Duo ausein­ander. »Die klügste Entschei­dung meines Lebens war es, mich mit Jerry Lewis zusam­men­zutun. Die zweit­klügste war es, mich von ihm zu trennen«, sagte Dean Martin einige Jahre später über das Ausein­an­der­gehen. Beide begannen Solo­kar­rieren, Martin zunächst vor allem als Sänger in den Shows von Las Vegas, kurz darauf auch als Teil des »Ratpack« in groß­ar­tigen Filmen wie Vincente Minellis Some came running. Jerry Lewis dagegen musste sich für seine zweite Karriere als Solo­künstler regel­recht neu erfinden.

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Ohne das Alter Ego von »Dino« suchte sich Lewis nicht etwa ein neues Gegenüber, sondern übernahm gewis­ser­maßen beide Rollen in Perso­nal­union: Immer wieder verkör­perte er in seinen späteren Filme schi­zo­phrene Figuren. In einem seiner berühm­testen, The Nutty Professor, Der verrückte Professor, parodierte er dies 1963 sogar offen zu einer Jekyll & Hyde-Komö­di­en­ver­sion. Aber auch hinter der Kamera übernahm er komplett das Kommando, und war für alles allein verant­wort­lich: Regie, Drehbuch, Haupt­rollen. In Das Fami­li­en­juwel spielte unter eigener Regie einen Chauffeur und sechs Onkel, unter denen sich eine kleine Waise ihren neuen Vater aussuchen darf. Die deutschen Titel anderer Filme sprechen Bände: Aschen­blödel, Der Büro­trottel, Die Heulboje, Das Mondkalb... In zahllosen Filmen war Lewis das ewige Kind, der dumme Junge und Kasper, der Klas­sen­clown.

Aber er forderte auch heraus, provo­zierte den Konsens mit kreativer Albern­heit in der Tradition der Dadaisten und Surrea­listen. Hallo Page (1960) ist eine wage­mu­tige Arbeit, pures Kino, das fast ohne Dialog und ohne strin­gente Story auskommt. Jerry Lewis war nicht allein ein groß­ar­tiger Schau­spieler und Regisseur in der späten Hochphase von Holly­woods klas­si­scher Ära. Er war auch wichtiger Erneuerer der Komik und den Techniken, die ihr zugrun­de­liegen – zu denen auch die Fähigkeit gehört, diese Technik ganz unsichtbar zu machen. Lewis dachte jenseits der Normen seiner Zunft und verän­derte diese dadurch.

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Nachdem der Erfolg trotzdem abnahm, und der Körper den jahr­zehn­te­langen Belas­tungen Tribut zollte, versuchte Lewis Anfang der 1970er noch einmal etwas komplett Neues: Doch der Versuch, eine zweite Karriere mit mehr Ernst und brüchigem Humor zu starten, ging drama­tisch schief. The Day the Clown Cried von 1972 sollte eine Komödie im Konzen­tra­ti­ons­lager spielen lassen – der Film, von dem Roberto Benigni für Das Leben ist schön schamlos klaute, liegt juris­tisch unter Verschluss. Mit der Regie­kar­riere war es dann vorbei. Erst in den letzten Jahr­zehnten bekam Lewis von Anderen, Jüngeren die Chance, der Rolle des ewigen Kindes zu entkommen: The King of Comedy (1983) von Martin Scorsese zeigt einen »Lewis«, der von einem Fan unter Druck gesetzt wird. In Cookie (1989) ist er ein zynischer Casino-Boss.

Es gibt keinen zweiten Komiker, den das Kino selbst so oft zum Thema gemacht hat, wie ihn: Bei Emir Kusturica (Arizona Dream) spielt er ebenso sich selbst, wie in Funny Bones von Peter Chelsom. Am abgrün­digsten aber ist der Thriller Where the Truth Lies. Darin fiktio­na­li­siert Atom Egoyan das Ende der Zusam­men­ar­beit mit Dean Martin, und zeigt zwei Komiker, die im wahren Leben noch ganz anders die Sau raus­lassen als auf der Bühne: »Wir waren nicht bloß Helden«, erzählt da Lewis' Alter Ego (Kevin Bacon) aus dem Off, »wir waren Götter. Ich war Spaß, er war Kontrolle. Ich war Rock 'n' Roll, und er war Klasse. Seine Anwe­sen­heit erlaubte Amerika, mich zu lieben.«
Jetzt ist der größte Anarchist der Film­ge­schichte, der gelieb­teste Uner­zo­gene der Film­ge­schichte gestorben.

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Gestorben ist auch der Münchner Komponist Wilhelm Killmayer. Gestern, einen Tag nach Lewis. Mit Film hatte er nichts zu tun mit der Kunst des 20.Jahr­hun­derts aber sehr viel.

Sein Schüler Moritz Eggert hat einen – bis auf die letzte Zeile, aber sonst... – sehr schönen, klugen, persön­li­chen Nachruf über Killmeyer geschrieben. Ich habe Killmeyer wie Moritz Eggert immer nur am Rand erlebt in den Münchner Jahren, und verstehe von Musik, von dieser zumal, viel zu wenig, aber mensch­li­chen Eindruck haben beide hinter­lassen.
Eggert schreibt von: »Wider­s­tän­dig­keit ... die größt­mög­liche Reali­sie­rung von Freiheit ... Glauben an bedin­gungs­lose Freiheit ... von herr­schenden Vorstel­lungen« – das ist es, worauf es nicht nur in der Musik, der Kunst, sondern im Leben wirklich ankommt. Jetzt will ich Killmeyer hören!

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Für den, der Nachrufe beruflich schreibt, ist dies schwer: Man will den Toten gerecht werden, ebenso der Emotion des Augen­blicks. Und es ist die letzte Gele­gen­theit, »noch einmal« und »richtig« über den Toten zu schreiben.

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Oder auch nicht. Einige Stunden nach der Nachricht über Jeanne Moreaus Tod kam die Nachricht, dass auch der ameri­ka­ni­sche Drama­tiker, Schau­spieler und Regisseur Sam Shepard gestorben ist, mit 73 Jahren. Er wurde weit weniger erwähnt, ebenso wie Margot Hielscher, die mit 97 in München verstarb, nur wenige Stunden nach Jerry Lewis.

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Wie immer schreiben wir an gegen das Rasen der Zeit. Und werden doch von ihm nach vorne getrieben. Und trotz all dem werden wir in den nächsten Wochen noch über weitere, andere Tote schreiben müssen. Sie haben unsere Aufmerk­sam­keit verdient.

(to be continued)