20.10.2016
Cinema Moralia – Folge 141

Die Vandalen und das Filmerbe

FADO
Der Mann aus Marmor: Gedenkstein für den soeben verstorbenen polnischen Regisseurs Andrzej Wajda (am heutigen Donnerstag im Münchner Filmmuseum zu sehen) und Mahnmal für den richtigen Umgang mit dem Filmerbe, zu dem es diesen Mittwoch eine Anhörung im Bundestag gab

Reden, reden, wann wird endlich gehandelt? Die Bundesregierung verschludert das Filmerbe; das Münchner Filmmuseum zeigt Wajda – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 141. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Alte Filme zu sehen, heißt auch einen Kontroll­gang durch seine eigene Vergan­gen­heit machen.«
Siegfried Kracauer

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Gespräch in der Film­ga­lerie Berlin, nachdem ich vergan­gene Woche nach dem Nachruf die DVDs mit Andrzej Wajdas Filmen zurück­brachte. Was bleibe denn noch im europäi­schen Kino, seufzte der Mann an der Kasse. »Wie wär’s mit Frank­reich?« Seine Antwort: »Ja, Frank­reich. Stimmt. Die haben Catherine Deneuve und Jeanne Moreau, wir haben Iris Berben und Senta Berger.«
Eine depri­mie­rende Fest­stel­lung. Der Unter­schied zwischen beiden Kine­ma­to­gra­phien zieht sich durch die Gene­ra­tionen. Man könnte auch formu­lieren: Die haben Lea Seydoux, wir haben Karoline Herfurth.

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Das Verhältnis von Realität und Fiktion, Wahrheit und Legende, Leben und Film steht in allen Filmen Andrzej Wajdas im Zentrum. Ganz besonders viel­leicht in Der Mann aus Marmor, einem der wich­tigsten Filme des polni­schen Regis­seurs, der am 9. Oktober im Alter von 90 Jahren in Warschau verstarb. Denn Der Mann aus Marmor ist Wajdas Citizen Kane. Ein Film, der Doku­men­ta­ri­sches und Fiktio­nales vermischt, Gegenwart und Vergan­gen­heit, der über Medien, Propa­ganda, Legen­den­bil­dung, der einem derzeit überaus aktuell vorkommt.
Eine junge Filme­ma­cherin dreht das Portrait eines Arbei­ter­helden, und beginnt über die Filmische Nach­for­schung sich selbst neu in Frage zu stellen. Der Fall eines Helden. Ein Film der Desil­lu­sio­nie­rung. Das Münchner Film­mu­seum zeigt den Film am heutigen Donnerstag, 20.10.2016, um 19.00 Uhr in seiner »Open Scene«.

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An diesem Mittwoch debat­tierte der Bundes­tags­kul­turau­schuss über das Filmerbe. Passend dazu veröf­fent­lichte der Berliner Filme­ma­cher RP Kahl einen span­nenden Text – leider beim Sender­blätt­chen »Blick­punkt Film«, das kaum einer liest, und wenn, dann meist die Falschen. Das nächste Mal viel­leicht bei artechock, dann bekommen es mehr Leute mit. Glück­li­cher­weise hat RP den Text in seinem Blog online gestellt.
Klaus Kreimeier, der 2013 die schwe­lende Debatte in die breite Öffent­lich­keit getreten hatte, hat jetzt seinen seiner­zei­tigen Aufruf ergänzt.
Es gibt andere lesens­werte Texte: Der Histo­riker Dirk Alt hat die Seite »Film­do­ku­mente retten« ins Leben gerufen, bereits im vergan­genen Jahr gab es in Frankfurt eine inter­es­sante Podi­ums­dis­kus­sion, vor wenigen Wochen eine eher staats­tra­gende Debatte in Berlin.

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Gemeinsam ist diesen Wort­mel­dungen zum einen die gemein­same Sorge um das Filmerbe, zum zweiten die Ratlo­sig­keit ange­sichts der Untä­tig­keit und Verschlep­pungs­taktik der Bundes­re­gie­rung, sowie der schieren Unkenntnis der Verant­wort­li­chen. Da die Sachlage kompli­ziert ist, und man sich leicht in Einzel­heiten verhed­dert, versuchen wir hier zunächst mal ein paar Schneisen in den Dschungel zu schlagen.

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Es geht nämlich nicht um Einzel­heiten und Fakten­hu­berei, sondern ums Prinzip. Das Prinzip muss heißen: Fritz Lang ist genauso wichtig wie Thomas Mann. Die Erhaltung und Rekon­struk­tion histo­ri­scher Film­do­ku­mente wie zum Beispiel Stadt­an­sichten Hamburgs oder Kölns oder Münchens, oder der Indus­trie­filme der BASF oder der Krupp-Werke oder frühe private Super-8-Filme sind nicht weniger wichtig, als Erhalt und Rekon­struk­tion der Stasi-Akten oder des zerstörten Kölner Stadt­ar­chivs (die beide in teuren kompli­zierten Verfahren zusam­men­ge­schnip­selt werden) oder der vielen tausenden von Papier­ki­lo­me­tern umfas­senden Akten der deutschen Regie­rungen im 20. Jahr­hun­dert.
So einfach ist es! Davon müssen wir ausgehen, dahinter dürfen wir nicht zurück!!

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Besagte Akten werden ebenso wie allerlei anderes – zum Beispiel die »Diskus­sionen des Parla­men­ta­ri­schen Rates« – auf Zehn­tau­senden von auf Mikrofilm gesichert. Viele lagern etwa unter der Erde im Barba­r­a­st­ollen bei Freiburg.
Warum auf Film und nicht nur digital, wenn digitale Verfahren doch so sicher und so optimal sind? Die Frage kann jeder selbst beant­worten: Weil die Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters und andere Verant­wort­liche sehr wohl wissen, dass Film­ma­te­rial sicherer ist als digitale Daten­spei­cher.
Warum wird Film nicht auf Film gesichert, wo man doch sehr wohl Papier auf Film sichert?

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Es ist pervers, wie sich der Bund verhält.
Monika Grütters, mehr Minis­terin für Kunst­ge­schichte und Reprä­sen­ta­ti­ons­bauten als für die Kultur, verpul­vert Millionen und Aber­mil­lionen für den unnötigen Wieder­aufbau des Berliner Stadt­schlosses der Preußen­kö­nige. Statt­dessen leistet sie der Vernich­tung deutscher Film­kul­tur­schätze Vorschub.

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Ein einziger Offen­ba­rungseid ist in diesem Zusam­men­hang die neueste Stel­lung­nahme der Staats­mi­nis­terin in ihrer Pres­se­mit­tei­lung vom 19. Oktober 2016. Darin heißt es (ungekürzt): »Im Film wird unser aller natio­nales Gedächtnis lebendig. Gut 100 Jahre, nachdem die Bilder laufen lernten, wird es tatsäch­lich zu einer Jahr­hun­dert­auf­gabe, dieses Erbe sowohl analog als auch digital zu sichern. Deshalb stellt der Bund seit Jahren Gelder zur Restau­rie­rung und jeweils 1 Mio. Euro für die Digi­ta­li­sie­rung wichtiger Filme zur Verfügung.«
Kurze Lesehilfe: Eine Million für Digi­ta­li­sie­rung ist nichts. Zumal man in Deutsch­land mit dieser Digi­ta­li­sie­rung kaum ange­fangen hat. In Frank­reich beträgt die Summe ein Viel­fa­ches, etwa 20 Millionen. Für das teure Pres­ti­ge­pro­jekt des Stadt­schlosses allein hat der Bund dagegen seit 2008 über 550 Millionen ausge­geben, Neben­kosten durch die Baumaß­nahmen und Folge­kosten durch den Betrieb nicht mitge­rechnet. Der – sehr begrüßens­werte – Ankauf der Thomas-Mann-Villa in Los Angeles (wozu eigent­lich? Aber ich find’s gut) ist dem Außen­mi­nis­te­rium (nicht der im Prinzip zustän­digen Kultur­mins­terin) allein ca 13 Millionen wert, bevor­ste­hende Restau­rie­rung und Umbau nicht mitge­rechnet.
Bezeich­nen­der­weise nennt Grütters für die Film-Restau­rie­rung in ihrer Mittei­lung dagegen keine Summe. Da müsste sie nämlich schamrot in der Erde versinken.
Ebenfalls bezeich­nen­der­weise erwähnt Grütters noch nicht einmal den Kosten­punkt Archi­vie­rung. Auf die Aufbe­wah­rung der analogen Origi­nal­ne­ga­tive und -posi­tiv­ko­pien wollen sich die Verant­wort­li­chen nämlich so weit wie möglich herum­drü­cken.
Weiter im ungekürzten Text der Grütters-Mittei­lung: »So konnten bereits Klassiker wie Metro­polis restau­riert und mehr als 400 Filme digi­ta­li­siert werden. Dieses Enga­ge­ment des Bundes allein reicht aber bei weitem nicht aus. Für Kultur sind in Deutsch­land die Länder hoheit­lich zuständig, die nun endlich auch beim Filmerbe ihre Verant­wor­tung wahr­nehmen müssen. Auf ein solches Signal und auf einen signi­fi­kanten Beitrag warten wir schon viel zu lange.
Die Kultur­staats­mi­nis­terin hat außerdem den Ausbau eines Bestands­ka­ta­logs gefördert, der einen öffent­lich zugäng­li­chen Überblick über die in den Film­ar­chiven lagernden Filme ermög­li­chen und somit die Digi­ta­li­sie­rung erleich­tern soll (www.film­portal.de).«

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Lesehilfe: Grütters gibt also zu: Ihr Enga­ge­ment reicht nicht aus. Ebenfalls gibt sie durch die Blume zu: Außer dem Sonder­fall »Metro­polis« wurde im Prinzip bislang sehr wenig restau­riert. Es sind pro Jahr besten­falls eine Handvoll Filme. Für Grütters ist der Schutz des Filmerbes ganz offen­sicht­lich nur eine Frage der Digi­ta­li­sie­rung.
Schließ­lich schiebt sie die Schuld auf andere. Die gleiche Minis­terin, die bei anderer Gele­gen­heit gern betont, Kultur könne nicht allein Länder­sache sein, ignoriert das im Feld ihrer maßgeb­li­chem Zustän­dig­keit, beim Film. Anstatt durch eine Vorleis­tung des BKM die Länder unter Zugzwang zu setzen.
Film­ko­pien, also die Originale, werden von den Archi­varen dagegen aktiv zerstört. Michael Hollmann vom Bundes­ar­chiv geht noch über seine Minis­terin hinaus, wenn er wie geschehen öffent­lich ausführt, den Bestand nach 1945 werde man nicht komplett sichern können.
Fazit: Nicht die Bilder, die Minis­terin muss laufen lernen!

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Nach RP Kahls groß­zü­giger Schätzung kann man das komplette deutsche Filmerbe für etwa 600 Millionen Euro sichern. Das ist so viel, wie Grütters' DFFF in zehn Jahren an Förder­geld zur Verfügung stellt. Es ist vor allem weniger, als der Neubau des Hohen­zol­lern-Stadt­schlosses kostet.

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Nur als Erin­ne­rung: Auf die Medici, die der freie Demokrat RP Kahl in seinem schönen, wie gesagt äußerst lesens­werten Text zum Vorbild für unsere Republik ernennt, zumindest in puncto Mäze­na­tentum und histo­ri­schen Sinn, folgte 1527 der »Sacco die Roma«. Davon wird auch die Kunst­his­to­ri­kerin Monika Grütters schon gehört haben.
Es waren deutsche Lands­knechte, die seiner­zeit beflügelt von christ­lich-funda­men­tais­ti­schem Furor die Stadt plün­derten und ihre Kunst zerstörten. Die Vandalen der Gegenwart sparen sich die Reise­kosten und wüten daheim.

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Das BKM und das Bundes­ar­chiv verhalten sich unhis­to­risch, und zerstören aktiv deutsches Kulturgut. BKM und das Bundes­ar­chiv agieren in Bezug auf das Filmerbe als die neuen Vandalen.
Schön wäre es, wenn sich Fach-Verbände und Archive zu einer Sammel­klage wegen Vernach­läs­si­gung der Aufgaben entscheiden könnten.

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RP Kahl bringt es in seinem Text auf den Punkt: »Ständig fragen wir uns, warum wir keine besseren Filme machen. Eine der Antworten darauf könnte sein: Ohne Vergan­gen­heit kein Jetzt und auch keine Zukunft. – Wir müssen das Filmerbe retten!«

(to be continued)