22.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Goldene Palme für Ken Loach, Regie­preis für Cristian Mungiu und Olivier Assayas, Grand Prix du Jury an Xavier Dolan!

I, Daniel Blake
Die Jury-Entscheidungen bringen Rüdiger Suchsland auf die Palme. Hier: Der Goldene-Palme-Gewinner I, Daniel Blake von Paul Laverty respektive Ken Loach
(Foto: Prokino Filmverleih GmbH / Studiocanal GmbH)

Inhaltismus und Biederkeit: Die diesjährige Preisvergabe in Cannes ist eine einzige große Fehlentscheidung – Cannes-Notizen, 16. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Through early morning fog I see/ visions of the things to be/
the pains that are withheld for me/ I realize and I can see...
that suicide is painless/ it brings on many changes
and I can take or leave it if I please.«
M*A*S*H – Suicide Is Painless

Der britische Regisseur Ken Loach gewinnt in Cannes zum zweiten mal die Goldene Palme – für das Sozi­al­drama I, Daniel Blake. Den Regie­preis teilten sich der Franzose Olivier Assayas (für Personal Shopper) und der Rumäne Cristian Mungiu (Bacalau­reat), der »Grand Prix du Jury« ging an den Kanadier Xavier Dolan für seinen bisher schlech­testen Film Juste la fin du monde. Den Preis für das Beste Drehbuch gewann der Iraner Asghar Farhadi (Forus­hande), die Darstel­ler­preise gingen an Jaclyn Jose (Ma'Rosa) und Shahab Hosseini (Forus­hande). Den »Preis der Jury« gewann Andrea Arnold (American Honey).
Damit ging die deutsche Regis­seurin Maren Ade mit ihrem gefei­erten und im den letzten Tagen favo­ri­sierten Film Toni Erdmann bei der offi­zi­ellen Jury leer aus. Ade gewann aller­dings den Preis der Inter­na­tio­nalen Film­kritik.

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Scho­ckierte Gesichter im Pres­se­raum. Ohne den Kollegen zu nahe zu treten, aber damit hatte überhaupt niemand gerechnet. Eine Zusam­men­bal­lung an Fehl­ent­schei­dungen und Geschmacks­un­si­cher­heit, wie sie in Cannes in all den Jahren, in denen ich hierher komme, ohne Beispiel ist.
Diese Preis­ver­gabe ist nur erklärbar als die typische Entschei­dung einer mehr­heit­lich mit Schau­spie­lern besetzten Jury. So rückt dann ein Film ins Preis­trä­ger­feld, der eine einzige Karikatur großen Schau­spiels ist, aber haupt­säch­lich aus Groß­auf­nahmen besteht: Juste la fin du monde. Und ein zweiter, in dem eine Vorstel­lung von »Tod eines Hand­lungs­rei­senden auf holz­schnitt­ar­tigem Schü­ler­thea­ter­ni­veau präsen­tiert wird.
Neben dem austra­li­schen Mad Max-Regisseur George Miller gehörten der Jury mit Vanessa Paradis, Kirsten Dunst, Valeria Golino, Mads Mikkelsen, Donald Suther­land gleich fünf Schau­spieler an und nur zwei Regis­seure Arnaud Desplechin und László Nemes. Die iranische Film­pro­du­zentin Katayoon Shahabi als neuntes Jury­mit­glied ist die große Unbe­kannte: Selbst manche Iraner kennen sie nicht, und das Lexikon IMDB verzeichnet nur zwei von ihre produ­zierte Filme – völlig unklar, womit sie die Einladung nach Cannes verdient hat.«

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Nach­fol­gend meine Live­no­tizen von der Preis­ver­lei­hung: Ich habe spontan notiert, und lasse es jetzt einfach so stehen...
Schöne Musik, zuerst aus Le mépris, dann aus M*A*S*H*: »Suicide is painless«. Dann eine bewegende Ehrung für Jean-Pierre Léaud. Warum konnte sein Auftritt nicht in den Wett­be­werb?

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Na servus, das fängt ja »gut an: Preis für Asghar Farhadi. Und dann Andrea Arnold. Das sind schon mal schlechte und risi­ko­lose Filme, mit denen sich die Jury auch nicht aus dem Fenster lehnt. Zugleich können diese Preise auch nur den Grund haben, Filme schon mal abzu­speisen. Die Goldene Palme werden Farhadi und Arnold schon mal nicht gewinnen.
Auch die Haupt­dar­stel­lerin von Ma' Rosa ist nicht der beste Preis für die Asiaten. Park Chan-wook wird leer ausgehen.
Und jetzt ein zweiter Preis für Asghar Farhadi. Oh je. Ja spinnen die denn?«

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Ja, sie spinnen! Das jetzt Cristian Mungiu den Preis für die beste Regie bekommt – für seinen biederen Bacalau­reat. Der Film ist in Ordnung, aber ein Lehrstück, das nur über den Inhalt funk­tio­niert. Bisher reprä­sen­tiert kein einziger Film, irgend­eine ästhe­ti­sche Vision, irgend­eine stilis­ti­sche und formale Radi­ka­lität, cinephile Heraus­for­de­rungen.
Immerhin jetzt der zweite Regie­preis an Assayas. Das freut mich für ihn.
Aber nun der »Grand Prix an Dolan. Unglaub­lich! So unglaub­lich, dass die Kollegen im Saal nur noch höhnisch lachen.«

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Da hab ich Cannes-Jurys im letzten Blog noch gelobt. Aber zum ersten Mal macht mich eine Jury­ent­schei­dung von Cannes richtig aggressiv. Das ist nicht falsch oder schwach, sondern kata­stro­phal. Die möchte man wirklich alle zusammen in die Luft sprengen. Und das hat nichts damut zu tun, dass Toni Erdmann nichts bekommen hat – wenn die anderen Preise gute gewesen wären, hätte man damit leben können. Aber so...
In nahezu jeder möglichen Hinsicht hat die Jury falsch entschieden. Nur ein einziger der guten Filme hat eine Auszeich­nung bekommen.
Fast alle Preis­träger waren Filme der zweiten, schwächeren Hälfte. Alles Filme der Cannes-Darlings. Inhal­tismus und Bieder­keit, das prägt diese Entschei­dung. Damit tut sich auch das Festival keinen Gefallen.

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»A brave man once requested me/ to answer questions that are key
is it to be or not to be/ and I replied 'oh why ask me?'
'Cause suicide is painless/ it brings on many changes
and I can take or leave it if I please.«

(to be continued)