20.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Vor dem Erschießung­kom­mando

Juste la fin du monde
Von Québec-Wunderkind Xavier Dolan läuft in Cannes diesmal Juste la fin du monde. Der Film zeigt ihn fast vorzeitig gealtert.
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Neue Filme von Xavier Dolan, Hirokazu Kore-eda, Albert Serra – Cannes-Notizen, 10. Folge – von Rüdiger Suchsland

Von Rüdiger Suchsland

»Je m'en vais, mais l’etat demeurera toujours.«
– Ludwig XIV., am 26.August 1715, auf seinem Ster­be­bett zu seinem Nach­folger Ludwig XV.

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»Es war wie vor einem Erschießungs­ko­mando zu stehen: Nein, bitte nicht schießen!«, sagt Diego. Mir ging es eher so wie in der ersten Reihe in einem Boulevard-Theater, wo man sich die Ohren zuhalten muss, weil die Leute für die letzte Reihe schreien. Und man dann trotzdem immer noch die Spucke abbekommt. »Ich war mir sicher, als ich aus dem Kino raus ging: Alle hassen den Film. Aber dann gab es doch viele, die meinten, was willst du denn, der ist doch gut, oder zumindest gar nicht schlecht.«

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Klar ist jeden­falls eines: Nach Xavier Dolans Juste la fin du monde (It’s Only the End of the World) sehen die Dardennes mit ihrer La fille inconnue gar nicht so schlecht aus. Denn der ist ein über­me­lo­dra­ma­ti­sches, innerlich total leeres Gehäuse.

Lange hat man keine ähnliche Ansamm­lung von unsym­pa­thi­schen, einen ähnlich kalt lassenden, Figuren gesehen.

Dolan, einer der Darlings des inter­na­tio­nalen Festi­val­be­triebs, erzählt in seinem mit vier fran­zö­si­schen Welt-Stars besetzten Film von der Wieder­ver­ei­ni­gung einer Familie.
Ein verlo­rener Sohn kehrt nach zwölf Jahren zurück ins Eltern­haus, für einen knappen Tag. Draußen in »der Welt« hat Louis sein Glück gemacht, ist viel gereist und als Autor von Thea­ter­s­tü­cken zu Ruhm gekommen. Mit der Familie, der Mutter, der Schwester und vor allem dem verhei­ra­teten, ihn in Rivalität verbun­denen Bruder, hat er nur über unzählige Post­karten losen Kontakt gehalten. »Immer nur diese Drei-Worte-Antworten«, wirft ihm die Mutter einmal vor. Sie kann dieses Schweigen nicht verstehen. Denn sie braucht, wie ihre beiden anderen Kinder, für alles weitaus mehr Worte...
»Warum bist Du zurück­ge­kommen?«, wird er darum, auch gefragt. Sie verstehen es nicht. Er hat irgend­etwas. Aber was? In der Mitte des Films wird klar: Er muss ihnen etwas sehr Unan­ge­nehmes gestehen. Aber bis zum Schluss kommt er nicht raus mit dem, was er eigent­lich hat. Eine tödliche Krankheit, so steht zu vermuten. Denn einfach nur die Frage, wie er seiner Familie sagt, dass er schwul ist, kann es nicht sein.

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Aber jede Möglich­keit eines intimeren Gesprächs wird erstickt vom ständigen Rede­schwall, der hier dominiert. Sobald Louis das Eltern­haus erreicht hat, prasseln die Worte auf ihn ein: Laut, vulgär, mono­ma­nisch nicht auf Antwort hoffend, narziss­tisch nur um den jeweils Spre­chenden kreisend. Dieses endlose Reden, klar, es ist Konzept, es soll uns nahelegen, uns mit dem Sohn zu iden­ti­fi­zieren, der auch darunter leidet, es soll, ganz klar Kommu­ni­ka­ti­ons­un­fähig­keit ausdrü­cken. Aber der Effekt ist, dass alles auf der Stelle tritt, dass man als Zuschauer sich gepeinigt fühlt von den Figuren. Es wäre aber schön, wenn man den einen oder die andere lieben, zumindest schätzen könnte.
Doch selbst Louis (Gaspard Ulliel) kommt einem nicht nahe. Er wiederum ist in seiner Passi­vität und Schweig­sam­keit zu vage, zu sehr in Watte gepackt.
Zur inter­es­san­testen Figur wird dann uner­war­te­ter­weise ausge­rechnet die von Marion Cotillard gespielte Schwä­gerin Catherine. Zwar sind es auch hier pure Schau­spiel­ma­nie­rismen, wenn sie, die auch unter dem fort­wäh­renden Wort­kas­kaden leidet, nach Worten sucht, das falsche findet, mit ihnen ringt, sich verspricht, stammelt. Aber immerhin ist das erhol­samer... Inter­es­sant an der Figur ist auch, dass sofort eine intimere Verbin­dung zwischen Catherine und Luis klar wird, dass sogar visuell nahe­ge­legt wird, unter anderen Umständen könnten die beiden ein Liebes­paar werden – trotzdem Catherine mit Louis' Bruder verhei­ratet ist, und vor allem trotzdem Louis wahr­schein­lich schwul ist.
Gepasst hätte auf die Rolle übrigens besser Léa Seydoux, die Louis' ein bisschen bedau­erns­werte Schwester spielt, und das so, dass man sie dauernd – und ganz ohne Hinter­ge­danken – in den Arm nehmen möchte.
Zu einer kleinen Kata­strophe gerät der Auftritt von Nathalie Baye als Mutter. Unter der schwarzen Perücke und Zenti­me­tern von Make-up zwar kaum erkennbar; man möchte dennoch schreien, sie möge endlich den Mund zumachen.

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Sobald die Figuren mal nicht reden, wird der Film besser, mitunter sogar gut. Aber das passiert so selten. Es ist ein Paradox: Dass Xavier Dolan ein sehr talen­tierter, sehr visuell denkender Filme­ma­cher ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber dem Wunder­kind ist der Ruhm zu Kopf gestiegen. Zu einfach macht er sich die Dinge, zu schlampig rotzt er seine Filme hin, zu viel verlässt er sich auf Worte, zu inko­herent sind die Bilder und Insze­nie­rungs­stra­te­gien.
Denn immer wieder gibt es den erkenn­baren Versuch, aus dem Dialog­ge­fängnis auszu­bre­chen und den Film visuell aufzu­peppen. Das sieht dann aller­dings zu oft aus wie Werbe­fern­sehen: Schnell geschnitten und clean. Wenn dann noch die Sprach­ma­niersmen von Doland Dialog­in­sze­nie­rungen dazu kommen, die Hysterie der Charak­tere, ist es kaum zu aushalten.

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Szene reiht sich an Szene, Auftritt an Auftritt. Das Thea­ter­s­tück von Jean-Luc Lagarce, das die Vorlage bildet, ist reine Mechanik, es klappert gleich­förmig so dahin, ohne drama­tur­gi­schen Bogen, rechts geht eine Tür auf, links eine zu oder umgekehrt, Auftritt auf Auftritt – und so ist es irgend­wann einfach zuende, könnte aber auch noch weiter­gehen, oder schon früher aufgehört haben.
So hat Juste la fin du monde nur dann ein paar wenige Reize, wenn Léa Seydoux ein paar Sekunden lang Airobic macht, oder wenn man den Film als Trash-Version von Ozons Die Zeit die bleibt begreift, der im Übrigen seiner­zeit nur in »Un Certain Regard« lief.

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»It’s a test«, sagt lachend der Sicher­heits­mann. Gerade hat man eine dritte Variante des Betretens des »Grand Théâtre Lumiere« auspro­biert. Im »Salle Debussy«, dem anderen großen Kino für Pres­se­vor­füh­rungen, ist es ähnlich. Während man Cannes vieles jahrelang per Autopilot erledigen konnte, ist diesmal alles anders. Fast jeden Tag ist der Weg zu den Kinos ein neuer. Schon seit Jahren glich er einem Hinder­nis­par­cours. Denn »Betreten« muss man hier in Anfüh­rungs­striche schreiben: Man steht zunächst einmal Schlange, von wenigen Sekunden bis zu vielen Minuten lang. Dann muss der persön­liche Code gelesen und die Akkre­di­tie­rung überprüft werden. Dann werden die Taschen genau kontrol­liert. Man darf ins Kino nichts zu essen mitnehmen, auch keinen Apfel für den Drei­stun­den­film. Und nichts zu trinken. Auch kein Wasser des Sponsors. Schließ­lich wird man selber gescannt.
Trotzdem weiß jeder hier, der nicht ganz neu ist, wie man kaum kontrol­liert ins Innere des Palais hinein­kommt.
Man kann sich das, glaube ich, alles gar nicht vorstellen, wenn man nicht hier ist, und die Fülle der Zumu­tungen mit stoischem Gleichmut hinnimmt, und dem inneren Gefühl, mach nur voran, ich weiß, dass ich kein Terrorist bin, keine Bombe dabei habe, ich weiß, dass ich heute noch nicht mal Wasser hinein­schmuggle...
Viel­leicht ist das alles ja wirklich nur ein Test, der der Aufmerk­sam­keits­stei­ge­rung der Film­kritik dient.

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Die ist in diesem Fall für After the Storm vom norma­ler­weise groß­ar­tigen Japaner Hirokazu Kore-eda, der schon oft im Wett­be­werb lief. Ein Schrift­steller bekommt nach frühem Ruhm sein Leben nicht mehr auf die Reihe, versucht einen Neuanfang. Ein sehr humanes Werk über zwei Familien, über Alter und unter­drückte Gefühle. Ein Taifun wird zum Kata­ly­sator ihres Ausbruchs.

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Ein sehr mensch­li­cher, und trotz grund­sätz­li­cher Ironie warm­her­ziger Film, ist La mort de Louis XIV vom Spanier Albert Serra. Vor zehn Jahren war Serra der hippste aller Autoren­filmer, der Darling und Männer­bund-Kumpel des seiner­zei­tigen genialen »Quinzaine«-Leiters Olivier Père. Alle sind da um ihn herum­schar­wen­zelt – ein kleiner König von Cannes, der dicke Ringe trug, klug und lakonisch daher­re­dete, mit deutschen Kritikern, zum Beispiel über Fass­binder, und viel trank. Sein Momentum ist ihm darüber abhanden gekommen, und jetzt ist Serra plötzlich nicht mehr inter­es­sant, sondern führt bei vielen nur zu Augen­rollen.
Viel­leicht kommt dieser Zustand aber der Konzen­tra­tion auf das Eigent­liche, die Filme zugute. Kein Gerin­gerer als Nouvelle-Vague-Star Jean-Pierre Léaud spielt den alten Sonnen­könig: Mit zehn verschie­denen Perücken, alters­mildem Gesichts­aus­druck.
Histo­risch genau recher­chiert ist Serras Film über den letzten Monat im Leben dieses Mannes, der Frank­reich 72 Jahre lang regierte, groß­ar­tiges, zugleich beschei­denes Ausstat­tungs­kino, und nicht nur für histo­risch Inter­es­sierte reizvoll. Ohne eine einzige Totale, ohne Estab­li­shing-Shots, rückt Serra seinen Figuren sehr nahe, belauscht das Geflüster hinter dem Rücken des Monarchen, und beäugt den Kampf der zwei Körper des Königs, des sterb­li­chen, kranken und des symbo­li­schen, dem auch Ludwigs XIV. Geist gehört.

(to be continued)