17.09.2015
72. Filmfestspiele von Venedig 2015

Die »Mexican Connec­tion«

Desde allá, Gewinner des Goldenen Löwen
Selten war ein Goldener Löwe so unverdient, wie der für Desde Allá
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Ein Preis mit »Geschmäckle«: Der Goldene Löwe von Venedig geht an einen venezuelanischen Film – und verdirbt den Abschluß eines guten Festivals – Notizen aus Venedig, Folge 8

Von Rüdiger Suchsland

Der Jury­prä­si­dent, der Mexikaner Alfonso Cuaron trat auf die Bühne, und da war er, der Goldene Löwe der Mostra di Cinema von Venedig des Jahres 2015: Er geht an den vene­zue­la­ni­schen Film Desde alla (zu deutsch: »Von weit weg«) von Lorenzo Vigas.

Diese Auszeich­nung war für all jene, die den Film gesehen hatten, noch über­ra­schender, als für die, die von ihm in den letzten zehn Tagen noch nie etwas gehört hatten. Es war mal wieder so ein Preis­träger, den überhaupt niemand vorher auf der Rechnung hatte.

Im ersten Moment mochten manche sich noch freuen: Ein Erst­lings­film, ein unbe­kannter Filme­ma­cher, noch dazu der aller­erste Wett­be­werbs­bei­trag aus Venezuela, das neben den großen Film­na­tionen Latein­ame­rikas, neben Argen­ti­nien, Mexiko, Chile und Brasilien, im Weltkino völlig bedeu­tungslos ist.

Als dann aber die Preis­träger die Bühne betraten, stach schnell anderes ins Auge: Der Produzent ist Michel Franco – ein Mexikaner. Der Dreh­buch­autor ist Guillermo de Arriaga – ein Mexikaner. Und überdies, und das ist jedem bekannt seit Jugend­zeiten mit Alfonso Cuaron befreundet. Eine »Mexican Connec­tion« also. Ein Preis mit »Geschmäckle«.

Das wäre trotzdem viel­leicht nicht weiter schlimm gewesen, denn persön­liche Bezie­hungen lassen sich in der über­sicht­li­chen Welt des Kinos kaum völlig vermeiden. Diese ist nur viel­leicht eine Spur zu eng.

Vor allem aber recht­fer­tigt Desde Allá diesen wichtigen Filmpreis in keiner Weise – wie man es auch dreht und wendet, und egal von welcher Seite aus man auf den Film blickt – viel­leicht, wenn man von dem Gemein­platz absieht, dass jeder Film auch etwas von dem Land erzählt, in dem er entsteht.

Selten war ein Goldener Löwe so unver­dient, wie dieser. »Desde alla« beginnt mit einem etwas fünf­zig­jäh­rigen, Mann, der, von hinten gefilmt, durch die Stadt läuft. Schnell verstehen wir: Der bürger­lich Geklei­dete spricht junge Männer aus offen­kundig armen Schichten an. Gegen Geld will er sexuelle Dienst­leis­tungen.
Nach zehn Minuten wissen wir, dass er Zahn­tech­niker ist, und mit seinem Vater schwere Probleme hat, mögli­cher­weise von ihm miss­braucht wurde. Er hat so eine heftige Wut auf ihn, dass er sagt er wünsche dem Vater den Tod. Bald freundet sich einer der jungen Männer mit ihm an. Beide entwi­ckeln eine Art Liebes­ver­hältnis, das aber immer von dem Klas­sen­un­ter­schied und der ökono­mi­schen Abhän­gig­keit geprägt bleibt. Der junge Mann sucht Liebe und Respekt. und tötet irgend­wann den Vater des Älteren, um diesem eine Freude zu machen. Der Ältere aber verrät den Jungen der Polizei.
Erzählt im präten­tiösen, mit Stille und Vagheit arbei­tenden Stil, der heute in Teilen des Kunst­films Mode ist, erscheint »Desde alla« als sado­ma­so­chis­ti­sches Kammer­spiel in quälenden Längen und Lakonien, in seiner Haltung dem Zuschauer gegenüber autoritär, zudem unglaub­lich konstru­iert und auch deshalb sehr vorher­sehbar.
Dieser Preis mit »Geschmäckle« wird dem Film und Cuaron nicht gut tun. Vor allem aber wird er dem Festival schaden. Denn das Festival hätte verhin­dern müssen, dass der eine Freund den anderen bewerten muss.

Die anderen Preise immerhin versöhnten zum Teil mit dieser Fehl­ent­schei­dung: Den Regie­preis bekam der Argen­ti­nier Pablo Trapero für seinen Film El Clan, ein abgrün­diges, aber unter­halt­sames Vexier­spiel, das in ein Form einer Krimi­nal­ge­schichte von den Folgen der Diktatur erzählt.

Der Spezi­al­preis der Jury ging an den jungen türki­schen Regisseur Emin Alper für Abluka, zu deutsch »Bela­ge­rungs­zu­stand« – den Film des Festivals, der am ehesten eine scharfe, erschre­ckend aktuelle poli­ti­sche Botschaft – in diesem Fall die Kritik an einer von Paranoia und Propa­ganda geprägten Türkei, die mehr und mehr zum Poli­zei­staat wird – mit einer künst­le­risch beson­deren Film­sprache verband.

Ansonsten ließ die Jury das richtig Inno­va­tive aber links liegen. Das Neue im Kino kam in der Auszeich­nung kaum vor, obwohl gerade der dies­jäh­rige Wett­be­werb in dieser Hinsicht einiges zu bieten hatte. So gab es keinen einzigen Preis für jene essay­is­ti­schen Filme, die wie Alexander Sokurovs Fran­co­fonia, oder Heart of a Dog von der Musikerin Laurie Anderson Fiktio­nales, Doku­men­ta­ri­sches und sehr Persön­li­ches in span­nender Form verbanden.

Und auch keinen Preis gab es für Jerzy Skoli­mowski. Der älteste Regisseur im Wett­be­werb macht mit 11 Minutes den Film, der am jüngsten wirkte: Ein exis­ten­tia­lis­ti­sches Spiel über die Macht des Zufalls. Skoli­mowski verdichtet mehrere Schick­sale immer mehr bis zu einem absurden Finale, bei dem durch eine Ketten­re­ak­tion die meisten Haupt­fi­guren ums Leben kommen – von Skoli­mowski genüss­lich im Wechsel aus Schnitt­ge­wit­tern und Zeitlupe erzählt. Skoli­mowski erinnert uns daran, was wir zu oft vergessen, was Kino am Ende wirklich ist: Mani­pu­la­tion, Feti­schismus, Schönheit.

Immerhin in der Nebensek­tion Orrizonti wurde ein ästhe­tisch anspruchs­voller Film gleich zweimal ausge­zeichnet: Der Ameri­kaner Brady Corbet bekam den Preis den »Besten Erst­lings­film« und für »Beste Regie« für seine von Jean-Paul Sartre inspi­rierte Verfil­mung Childhood of a Leader – ein ungemein aktueller Histo­ri­en­film über die Entste­hungs­be­din­gungen der Gewalt, die durch die Musik von Scott Walker noch zusätz­li­chen Glanz erhielt.

Insgesamt hatte das Festival von Venedig in diesem Jahr viel Qualität und eine große Spann­breite an Stilen und Themen zu bieten. Eindeutig ist, nicht nur durch die Preis­ver­gabe, wie stark das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino diesmal war. Wohin­gegen das oft so starke asia­ti­sche Kino in diesem Jahr in allen Sektionen schwach blieb.
Wie immer kann man über Einzel­heiten des Programms und über Präsen­ta­ti­ons­formen streiten – aber das gehört dazu.