09.09.2015
72. Filmfestspiele von Venedig 2015

Das Monster mit den 1000 Köpfen

El Clan von Pablo Trapero
Latino-Clan in Venedig: El Clan von Pablo Trapero
(Foto: Prokino)

Faustrecht der Freiheit: In Lateinamerika ist das Kino politisch engagierter, als anderswo – Notizen aus Venedig, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Money comes and goes, life doesn’t.« – aus: El Clan von Pablo Trapero

»Cambia lo super­fi­cial/ cambia también lo profundo
cambia el modo de pensar/ cambia todo en este mundo
Cambia el sol en su carrera/ cuando la noche subsiste
Cambia todo cambia/ Cambia todo cambia« – Mercedes Sosa

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»Schreib etwas richtig Nettes«, sagt der ältere Herr: »Ich liebe Dich Papa, und mir tut jeder Moment leid, an dem ich dir das nicht gesagt habe.« Der das sagt, ist selbst Vater von fünf Kindern, und er tut alles für seine Familie. Oder für sich, so genau würde er das kaum unter­scheiden. Gerade hat er einen Freund seines Sohnes gekid­nappt, und im eigenen Haus, in einem ausge­bauten Bade­zimmer, ange­kettet, um von dessen reichen Eltern viel Geld zu erpressen – natürlich für seine Familie. Aber er weiß auch jetzt schon, dass er den Entführten nie frei­lassen, sondern irgendwo in der Pampa erschießen und liegen­lassen wird.

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25 bis 30 Jahre ist es jetzt her, dass in Latein­ame­rika die Dikta­turen allmäh­lich ihren Geist aufgaben. Es war ein mühsamer und zäher Prozess: Chiles brutaler Diktator Augusto Pinochet wurde per Refe­rendum abgewählt – vor drei Jahren machte der Chilene Pablo Larraín darüber einen zwar kurz­wei­ligen Film, aber inhalt­lich enttäu­schenden Film: No!, in dem Weltstar Gabriel García Bernal den Leiter der Anti-Pinochet-Kampagne spielte, und der viele Latein­ame­ri­kaner gegen sich aufbrachte – tat der politisch eher unzu­ver­läs­sige Larraín doch so, als seien Lüge und Werbung die besten Mittel, um eine Diktatur zu besiegen.

Argen­ti­nien tat sich schwerer: Erst die Nieder­lage im Falkland-Krieg gegen England bereitete in der Folge der brutalen Mili­tär­dik­tatur ein Ende, die 30.000 Menschen auf dem Gewissen hatte. Von deren Folgen handelt jetzt im Wett­be­werb von Venedig der Spielfilm El Clan vom Argen­ti­nier Pablo Trapero – einer der bislang über­zeu­gendsten Wett­be­werbs­bei­träge. Der Film beginnt mit Archiv­auf­nahmen, in denen die Militärs ihren Rückzug erklären, und mit einer Rede des ersten demo­kra­tisch gewählten Präsi­denten Raúl Alfonsín. Dann erzählt El Clan eine auf Tatsachen beruhende unglaub­liche Geschichte: Mindes­tens drei Jahre lang entführte eine ganze Familie – Mann, Frau, drei erwach­sene Kinder – reiche Argen­ti­nier, erpresste ihre Familien und ermordete die Geiseln.

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»Walking on a sunny afternoon«, tönt aus dem Radio, die Jungs spielen Rugby, die Mädchen feuern an und bewundern sie, danach gibt es Schnitt­chen und Drinks. Amerika ist in, man trägt Polo­hemden, Ray Ban, und inter­es­siert sich fürs Surfen, jeden­falls in diesem Kreisen. Es ist der hungrige obere Mittel­stand, das, was bei Europas Sozio­logen Wirt­schafts­bür­gertum heißt, oder Bour­geoisie, um sie vom Bildungs­bür­gertum zu unter­scheiden. Besonders gebildet ist hier keiner, aber man hält auf sich. Es ist das faschis­ti­sche Milieu, die Leute, die die Militärs unter­s­tützen, wie früher andere auto­ri­täre Regimes, nicht nur Perón.
Auch jetzt, wo das Land demo­kra­tisch geworden ist, lästert man: »Wie lang wird sich eine Demo­kratie schon halten? Zwei Jahre viel­leicht?«

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El Clan ist aber kein Krimi­nal­film, sondern das Portrait eines Milieus, das durch die Gewalt und die faschis­ti­schen Werte der Diktatur geprägt wurde, und, als der Vater, der beim Geheim­dienst für »Gast­freund­schaft« zuständig war, sprich fürs Bereit­stellen von Räumen, Kellern, Garagen, in denen heimlich gefoltert und gemordet wurde, gewis­ser­maßen ein neues Geschäfts­mo­dell brauchte, deren Methoden ins Private überträgt, um schnelles Geld zu machen. Eine Analogie zu anderen »new economies« darf man darin sehen. Es ist ein abgrün­diger, in seiner cleveren Insze­nie­rung auch unter­hal­tender, starker Film, in dessen Zentrum der überaus böse Vater­ty­rann steht, glänzend gespielt von Guillermo Francella. Die Familie wohnt in einem Eckhaus in San Isidoro in Buenos Aires, oben und im Hinter­haus ist die Wohnung, unten vorne der Shop, dazwi­schen ein Hof. Dort steht der Mitsu­bishi-Bus, mit dem die Opfer entführt werden.

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Der Film fängt besser an, als er aufhört, er hat ein paar Längen und kleine Hänger im letzten Drittel. Aber alles in allem ist er hervor­ra­gend.

»Into each life some rain must fall/ But too much is falling in mine/ Into each heart some tears must fall/ But some day the sun will shine/ Some folks can lose the blues in their hearts...«

kommt aus dem Off und nach vielen Innen­an­sichten des Fami­li­en­le­bens und der Menta­lität der Familie werden sie dann doch gefasst.
»Papa did this for us, remember«, sagt die Mutter zum Sohn, der Vater dagegen »du bist ein Verräter, ein Undank­barer«. »Du bist alles geworden nur wegen mir.« – Der Sohn dagegen: »Du hast mein Leben ruiniert.«

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Zugleich ist dies ein Gesell­schafts­por­trait und bizarres Sitten­bild vieler Gesell­schaften Latein­ame­rikas. Bei den Film­fest­spielen von Venedig ist das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino nach vielen Jahren, in denen in Venedig immer nur zwei, drei Latino-Filme in den Neben­reihen liefen, diesmal auffal­lend stark vertreten. Drei Filme aus Argen­ti­nien, je zwei aus Brasilien und Mexiko, dazu ein Werk aus Chile und – selten zu sehen – aus Venezuela, sind ein starker Auftritt dieses gele­gent­lich gegenüber Boom- und Krisen­re­gionen über­se­henen Konti­nents. Latein­ame­rika hat seit langer Zeit ein besonders reich­hal­tiges Kino, zugleich fragen viele dieser Filme direkt oder unaus­ge­spro­chen auch danach, was die Gemein­sam­keiten dieser Länder zwischen Rio Grande, Äquator und Pata­go­nien sind – jenseits der außer in Brasilien überall gespro­chenen spani­schen Sprache.

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Eine solche Gemein­sam­keit kris­tal­li­siert sich schnell heraus: Die Latino-Filme sind oft sozial enga­gierter als anderswo. Und der Ton ist ein anderer: leichter, anar­chis­ti­scher. Eine solche Farce ist etwa Un monstruo de mil cabezas vom Uruguayer Rodrigo Pia, der aber in Mexiko spielt. Alles beginnt mit einer Frau, deren Mann schwer an Krebs erkrankt ist. Das titel­ge­bende tausend­köp­fige Monster ist aber dann nicht etwa der meta­sta­sie­rende Tumor, sondern die Kran­ken­kasse, die teure Behand­lungs­me­thoden nicht zahlen will. Da ergreift die Gattin die Initia­tive und entführt den Vorstands­chef der Kran­ken­kasse, um ihn zur Geneh­mi­gung der Medi­ka­mente zu zwingen: Eine Verzweif­lungstat, die aber nie verzwei­felt oder depressiv insze­niert ist, sondern wütend, als surreale Farce, mit einer gehörigen Portion Witz. Sympathie mit der Anarchie!

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Eine Faszi­na­tion, die das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino entfaltet, liegt darin, bunte und viel­fäl­tige Lebens­welten zu zeigen, eine Kultur, die wir zu wenig kennen. Das gilt zum Beispiel für den brasi­lia­ni­schen Film Neon Bull von Gabriel Mascaro. Vor den Hinter­grund der Pampa und des Machismo der Rinder­farmer erzählt er von einem etwa elfjäh­rigen Mädchen, das das Faust­recht der Freiheit und sich selbst entdeckt – zwischen Blut, Schweiß und Bullen­sperma ist dies der bislang erotischste Film der Mostra.

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Das Kino Latein­ame­rikas zeigt sich in Venedig engagiert und grund­sätz­lich gut gelaunt. Dazu kommt dann noch ein Film wie Zonda, Folklore Argentina – der neue Film des spani­schen Altmeis­ters Carlos Saura, inzwi­schen 83 Jahre alt. Einst kämpfte er gegen die Franco-Diktatur, im hohen Alter beschäf­tigt er sich mit den schönen Dingen des Lebens, besonders der Musik: In Zonda, Folklore Argentina, der in der Nebensek­tion »Giornate« gezeigt wird, feiert er die tradi­tio­nelle argen­ti­ni­sche Volks­musik, vor allem die jenseits aller Tango-Rhythmen. Zu Beginn guckt die Kamera einmal in den Spiegel. Dann sieht man nur noch profes­sio­nelle Tänzer tanzen.
Wie schneidet man Tanz­szenen? Ob Saura mit seiner Entschei­dung gegen lange Einstel­lungen und für viele Nahauf­nahmen immer recht hat, sei dahin­ge­stellt. Aber er ist ein intel­li­genter Regisseur. In stili­sierten, thea­tra­li­schen Bildern in der Tradition seiner Filme Carmen, Blut­hoch­zeit, und Fados entfaltet Saura, für den dies auch eine Reise in seine persön­liche Vergan­gen­heit ist, als er als junger Mann eine Weile im argen­ti­ni­schen Exil lebte, die Vielfalt der argen­ti­ni­schen Musik und damit die der Gesell­schaft kennen­lernte: Argen­ti­nien ist divers, Argen­ti­nien ist die Zukunft. Wer kennt schon Chalambo, Baguala, Chacarera, Chamamé, Vidala und Gato, um nur einige der hier vorge­stellten Rhythmen zu nennen. Und es gibt eine Hommage an die unver­ges­sene Mercedes Sosa: »Cambia, todo cambia« – ihren Ohrwurm vom Wandel als Grund­ge­setz des Lebens haben bisher alle Gene­ra­tionen Latein­ame­rikas am eigenen Leib erfahren. Das verbindet, im Guten wie im Schlechten.

(to be continued)