24.12.2015
Cinema Moralia – Folge 123

Milieu­stu­dien, fremde Blicke, und Prio­ri­sie­rungen...

Na und?
Helmut Herbst und Marquard Bohm fragen 1966 Na und...?
(Foto: Quelle: Helmut Herbst)

»Berlin Babylon« und die berechtigte und interessante, weil allgemeine Frage: Warum gelangen bestimmte Filme in die die Berlinale-Retrospektive und andere wichtige Produktionen nicht? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 123. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feier­tagen/ Als ein Gespräch von Krieg und Kriegs­ge­schrei,/
Wenn hinten, weit, in der Türkei,/ Die Völker aufein­ander schlagen./
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus/ Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;/
Dann kehrt man abends froh nach Haus,/ Und segnet Fried und Frie­dens­zeiten.«
»Herr Nachbar, ja! So laß ich’s auch geschehn:/ Sie mögen sich die Köpfe spalten/
Mag alles durch­ein­ander gehn/ Doch nur zuhause bleibt’s beim alten.«
Goethe: »Faust I.«

Pres­se­mit­tei­lungen erreichen uns am Tag dutzend­weise. Fast alle von ihnen sind dröge oder anbie­dernd, in jedem Fall stink­lang­weilig. Nichts davon trifft auf jene Mittei­lung zu, die und Ende November zum Start von Jacques Audiards Cannes-Sieger-Film Dämonen und Wunder – Dheepan erreichte. Sie stammt von Michaela Strattner, Mitar­bei­terin in der für den Film tätigen Pres­se­agentur »Panorama Enter­tain­ment«, und ist im Vergleich zu dem Aller­meisten, das ich so bekomme, schlechthin großartig. Jeden­falls eine große Freude zu lesen.

In wenigen Zeilen stehen da klügere Dinge als in vielen langen Film­kri­tiken.
Titel: »Der fremde Blick in 'Dämonen und Wunder'. Jacques Audiard kombi­niert Kultur­phi­lo­so­phie mit poli­ti­schem Kommentar und Milieu­studie.«
Und dann: »Montes­quieus 'Persische Briefe', das surrea­lis­ti­sche Gedicht 'Treibsand' und die krasse BBC-Doku­men­ta­tion 'No Fire Zone' nennt Jacques Audiard als Inspi­ra­tion für 'Dämonen und Wunder' – weiter könnten die Impulse nicht ausein­ander liegen, doch dem Meister des Genre-Mixes gelingt wie bei Der Geschmack von Rost und Knochen das Kunst­stück, scheinbar Unver­ein­bares zu einem Ganzen zu fügen: Als 'Post-It, das wir ganz am Anfang als Rich­tungs­vor­gabe an das Projekt hefteten' beschreibt Audiard den Einfluss des fran­zö­si­schen Aufklä­rers Montes­quieu, der durch die fiktiven Briefe zweier Perser im 18. Jahr­hun­dert der fran­zö­si­schen Gesell­schaft den Spiegel vorhielt. Die Prot­ago­nisten Usbek und Rica beschreiben ihrer Familie staunend und kopf­schüt­telnd den Pariser Alltag und entlarven poli­ti­sche, religiöse und gesell­schaft­liche Skur­ri­li­täten. Der Blick von außen, den Neuan­kömm­linge aus einer anderen Kultur auf die Vorgänge in der fran­zö­si­schen Vorstadt­sied­lung werfen, wäre an sich bereits inter­es­sant genug – Audiard gibt sich damit aber nicht zufrieden: Statt­dessen wird aus dem ersehnten Zufluchtsort für Dheepans 'falsche' Familie eine neue Zone von Angst und Gewalt.
Unge­se­henes ans Licht bringen – so könnte man Audiards Anspruch formu­lieren. Ein befreun­deter Autor zeigte dem Regisseur die Doku­men­ta­tion No Fire Zone, ein Zeugnis des Bürger­kriegs, der von 1983 bis 2009 in Sri Lanka tobte. 'Der Film, dessen Gewalt­las­tig­keit', so Audiard, 'im Übrigen kaum zu ertragen ist', beleuchtet einen Kriegs­schau­platz, von dem der Rest der Welt noch nie etwas gehört hat. Den blutigen Konflikt auf Sri Lanka, den Dheepan, Yalini und Illayal mit der Flucht nach Europa scheinbar hinter sich lassen, trans­for­miert Audiard und verwehrt seinen Helden das Happy End: Die falsche Familie tauscht das tami­li­sche Krisen­ge­biet gegen den Drogen­sumpf der Banlieue, eine Umgebung, die bereits durch ihre Fremdheit einschüch­ternd auf die Neuan­kömm­linge wirkt.
Fremdheit drückt sich bereits im Titel des Films aus: Jacques Préverts Gedicht 'Treibsand', aus dem die Zeile 'Dämonen und Wunder' entlehnt ist, sperrt sich in seiner surrea­lis­ti­schen Rätsel­haf­tig­keit gegen jede Deutung und wird so zum Sinnbild der Ausweg­lo­sig­keit: Dheepan kann seinem Krie­ger­da­sein nicht entfliehen, egal ob er für die Befreiung Yalinis am Ende des Films oder für die Befreiung der Tamilen am Beginn kämpft. Nie ist das Paradies weiter entfernt als im von Engel­schören durch­wehten Garten des erträumten engli­schen Exils, das zeigt, dass Dheepan ein ganz anderer sein könnte – wenn er nicht beständig ums Überleben kämpfen müsste.«
Ich kann mir Audiards Film nicht viel anfangen. Aber nach diesem Text habe ich Lust bekommen, ihn mir nochmal anzu­gu­cken.

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Eine richtige Hiobs­bot­schaft wäre, sollte sie zutreffen, eine andere Meldung: »Wackelt ›Babylon Berlin?‹ fragt DWDL.de. Denn am Montag hatte WDR-Intendant Tom Buhrow über­ra­schende Zweifeln an der Umsetzung des bishe­rigen ARD-Pres­ti­ge­pro­jekts ›Babylon Berlin‹ geäußert, bei der Tom Tykwer Regie führen soll, und das von ARD, Sky, Beta Film und X-Filme gemeinsam ankündigt wurde. Als ›wegwei­sende Produk­tion‹ wurde ›Babylon Berlin‹ schon im vergan­genen Jahr allein durch seine Ankün­di­gung (voraus)gelobt.
Am Tag danach wurde dann von allen Seiten versi­chert, so ernst sei es nicht gemeint. Geplanter Dreh­be­ginn ist im Frühjahr 2016.«

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Ein paar Tage vor Weih­nachten erreicht uns ein gar nicht so weih­nacht­li­cher Offener Brief. Verfasser ist Helmut Herbst, Filme­ma­cher, Film­ar­chivar, und renom­mierter Film­his­to­riker. Adressat ist Berlinale-Direktor Dieter Kosslick und das Thema ist die Berlinale, genau gesagt die kommende Berlinale-Retro­spek­tive. Ihr Thema »Deutsch­land 1966 – Filmische Perspek­tiven in Ost und West«.
Die Pres­se­mit­tei­lung der Berlinale behauptet, dass es sich bei dem Jahr 1966 um einen »Wende­punkt im deutschen Kino« handelt, der fünfzig Jahre zurück­liegt. Schlüs­sige Begrün­dung: »Vier Jahre nachdem die Verfasser des Ober­hau­sener Manifests erklärt hatten: 'Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen', erfährt der Neue Deutsche Film 1966 erstmals Aner­ken­nung auf bedeu­tenden Festivals: Die Berlinale zeichnet Peter Schamonis Debütfilm Schonzeit für Füchse (BR Deutsch­land 1966) mit einem Silbernen Bären aus, Volker Schlön­dorffs Film Der junge Törless (BR Deutsch­land / Frank­reich 1966) erhält den Film­kri­tiker-Preis in Cannes und Alexander Kluges Abschied von gestern (BR Deutsch­land 1966) den Silbernen Löwen in Venedig.«
Ebenfalls schlüssig: Dass die Retro­spek­tive einen breiten Begriff von deutschem Autoren­kino vertritt, der nicht auf die wenigen Größen des »Neuen Deutschen Kinos« verengt ist. Zu ihm gehören Roland Klick, Jeanine Meerapfel, Will Tremper, May Spils, Edgar Reitz, Helke Sander, Ulrich Schamoni, Ula Stöckl.

Allemal war es eine Zeit, in der das deutsche Kino das komplette Gegenteil von heute war: Aufbruch­stim­mung; Jugend­lich­keit im Denken und Formen, nicht nur im Alter der Filme­ma­cher; Kino, dass Wider­sprüche der Gegenwart offensiv in den Blick nahm, das den Alltag kriti­sierte und befragte. Ihre Figuren lassen sich treiben, begehren auf oder sind auf der Suche. Sie sind Rebellen und Indi­vi­duen.

So weit, so gut.

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»Lieber Dieter,
aus unseren gemein­samen Zeiten im Vorstand des Hamburger Film­hauses erinnere ich mich noch gut an Deine Über­zeu­gung, dass in bestimmten Situa­tionen an die große Glocke geschlagen werden muss. Nun ist es wieder einmal so weit, und es betrifft Dein Haus.
Zur Berlinale-Retro 2016 schreibst Du einlei­tend in der Pres­se­mit­tei­lung: ›Das Jahr 1966 steht für heraus­ra­gende Filme in West und Ost, die künst­le­risch neue Wege gingen. Die Retro­spek­tive 2016 zeigt das selbst­be­wusste Aufbe­gehren und das tastende Erkunden einer Zeit im Umbruch‹. Leider geht die von Dr. Rainer Rother, Deutsche Kine­ma­thek, verant­wor­tete Retro­spek­tive des gesamt­deut­schen Film­jahres 1966 aber ganz eigene Wege, die weniger einer histo­risch annähernd korrekten Präsen­ta­tion der ›heraus­ra­genden Filme, die künst­le­risch eigene Wege gingen‹ als einer leicht zu durch­schau­enden aktuellen Haus­po­litik Rainer Rothers folgen. Wie sonst ist es zu erklären, dass von den damals als wegwei­send disku­tierten Hamburger Kurz­filmen des immens wichtigen Jahres 1966 nur Helmut Costards Klammer auf, Klammer zu und der cine­grafik-Film Na und...? in die Retro aufge­nommen wurden, nicht aber Franz Winz­ent­sens Erleb­nisse der Puppe und mein Film Der Hut (Eckelkamp-Preis u. Bundes­film­preis 1966) etc. – dafür aber z.B. die ersten Filme der jetzigen Präsi­dentin der Akademie der Künste Jeanine Meerapfel, die sie während ihres Studiums in Ulm produ­zierte. Hamburg wurde damals – das muss ich Dir nun wahrlich nicht weiter erklären – für das Expe­ri­ment und die Erneue­rung des deutschen Kurzfilms zeit­weilig zum wich­tigsten Ort in der BRD.
Das Ganze entbehrt zudem leider nicht einer pikanten Geruchs­note: In der Branche ist ja bekannt, dass ich mit Rainer Rother unsere stark diver­gie­renden Posi­tionen in zentralen Fragen des Erhalts des deutschen Filmerbes auf den Inter­net­seiten kine­ma­theken.info und Filmerbe-in-Gefahr.de und in der Presse öffent­lich disku­tiere. Könnte es sein, dass er die Petition ›Filmerbe-in-Gefahr‹ und die öffent­liche Diskus­sion über den richtigen Weg zur Rettung des Filmerbes als aufmüp­fige Einmi­schung in seinen Hoheits­be­reich empfindet? Ich möchte der Berlinale und mir solche Diskus­sionen über Personen (und nicht über Filme) ersparen, ziehe hiermit offiziell und mit allen Konse­quenzen meinen Film Na und...? aus der Retro der Berlinale zurück und verzichte auf eine Teilnahme. Ich möchte mit dieser ›Retro­spek­tive‹ nichts zu tun haben. Na und ?«

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Herbsts berech­tigte und inter­es­sante, weil allge­meine Frage, lautet: »Wozu und warum gelangen bestimmte Filme in die die Retro­spek­tive des Film­jahres 1966 und andere wichtige Produk­tionen nicht?«
Herbst folgert in weiteren Schreiben: »Was auf den ersten Blick wie eine – wie auch immer – zustande gekommene 'harmlose« Besich­ti­gung und Neube­wer­tung des Film­jahr­gangs 1966 aussieht, ist in Wirk­lich­keit die Gene­ral­probe für etwas, das die Archive 'Prio­ri­sie­rung' nennen: D. h. die nach dem 'Arche-Prinzip' (PWC-Gutachten für die FFA) vorzu­neh­mende Auswahl der wenigen Filme, die es wert sind, durch ihre digitale Aufbe­rei­tung vor dem Vergessen und dem physi­schen Zerfall gerettet zu werden. Verant­wort­lich für die Auswahl der Berlinale-Retro­spek­tive 2016 sind Dr. Rainer Rother und das Retro­spek­tive-Team, bestehend aus seiner Assis­tentin und Conni Betz, sowie deren Assis­tentin.
Nie zuvor hatten Archi­va­rinnen und Archivare eine solche Macht. Durch einfaches Heben oder Senken des Daumens selek­tieren sie aus dem traurigen Zug von zigtau­send Film­ti­teln, der an ihnen vorüber defiliert, wer überleben darf und wer nicht. Statis­tisch gesehen könnte so nach der jetzigen Planung (10 Mio. p.a.) von gut 300 Titeln jeweils nur einer gerettet werden.
Demge­genüber steht die in den Inter­net­foren filmerbe-in-gefahr.de und kine­ma­theken.info arti­ku­lierte Forderung nach einer Natio­nal­bi­blio­thek des Filmerbes, die auf HD-Niveau den von der UNESCO gefor­derten OPEN ACCESS zu mit öffent­li­chen Mitteln produ­ziertem Wissen bietet. Die Sichtung und Klas­si­fi­zie­rung des Filmerbes und auch die Auswahl der digital in hoher Auflösung zu restau­rie­renden Filme könnte dann an mehrere Teams von Film­wis­sen­schaft­lern an unter­schied­li­chen Orten delegiert werden.

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Diese Fragen müssen und werden tatsäch­lich weiter disku­tiert werden. Frohe Weih­nachten!

(To be continued)