11.09.2014
71. Filmfestspiele von Venedig 2014

Die Bank­rott­erklärung der Phantasie

Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence
Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence: Der Gewinner des Goldenen Löwen 2014
(Foto: Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Ein Stimmenimitator des alltäglichen Horror: Roy Anderssons Sieg und die Jury – Venedig-Notizen, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»To scan­da­lize is alright. Beeing scan­da­lized is a pleasure. I am more militant than ever.« – Pier Paolo Pasolini

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Als der fran­zö­si­sche Präsident der inter­na­tio­nalen Jury, der Film­kom­po­nist Alexandre Desplat am Sams­tag­abend verkün­dete, wer den Goldenen Löwen von Venedig gewinnen würde, stand fest: Das schwe­di­sche Kino erlebte eine histo­ri­sche Stunde.
Der Sieg für Andersson ist einer der größten Erfolge des schwe­di­schen Kinos in der Film­ge­schichte, der größte seit über 50 Jahren, seit Ingmar Bergman 1958 für Wilde Erdbeeren in Berlin den Goldenen Bär gewann. Danach hatte er seine Filme seitdem zwar regel­mäßig auf den Festivals von Venedig, Cannes, Berlin gezeigt, aber immer nur noch »außer Konkur­renz«.

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Schon der Titel des Gewin­ner­films Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach deutet den beson­deren Stil dieses Werks an, seine Einzig­ar­tig­keit.
Statische, immer eindeutig künstlich anmutende Schau­plätze, auch wenn ausnahms­weise mal in der freien Natir gedreht wurde. Meist aber baut Andersson im Studio seine Ort selbst, arran­giert wie ein Maler im Atelier alles, kontrol­liert das licht perfekt. Wenn das Ganze draußen spielt, ist der Horizont wie im klas­si­schen Hollywood gemalt, oder meter­große Photo­pro­jek­tionen schaffen die perfekte Illusion.
Zwischen Illusion und Entlar­vung pendelt auch, was Andersson zeigt: Kurze Szenen, scheinbar zusam­men­hanglos, die sich dann doch, nach etwa 20 Minuten allmäh­lich zu einem immer detail­lier­teren Puzzle fügen. Figuren kehren wieder, Situa­tionen wieder­holen sich. Aus jedermans Alltag vertraute Motive wechseln mit Abson­der­li­chem, Absurdem, scheinbar Banalem, und dann wieder real Unmög­li­chem, etwa in jener Szene, als Karl XII., Schwedens letzter Abso­lu­tist, der versuchte ein schwe­di­sches Weltreich zu errichten, mit komplettem Hofstaat in einer Kneipe der Gegenwart auftaucht.
So bildet sich ein Netz, in dem jeder Faden mit vielen anderen verbunden ist und am Ende etwas formt, das einem Kalei­do­skop mensch­li­cher Existenz gleich­kommt: Jede Drehung arran­giert das Bild neu, jeder Perspek­tiv­wechsel läßt etwas entdecken.
Es gibt viel Humor, gele­gent­lich Slapstick, aber vor allem einen bitteren Sarkasmus der gele­gent­lich die Grenze zum Zynismus über­schreitet.

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Andersson ist ein Stim­men­imi­tator des alltäg­li­chen Horrors, unserer aller Abgründe und des Schei­terns. Er ist kein Künstler der Hoffnung, der Liebe, der Sehn­süchte und der gelin­genden Utopie. Diese Distanz zum Prinzip Hoffnung trennt ihn dann nicht nur von Bergman, sondern auch von anderen ganz Großen wie Antonioni, Bunuel, oder Godard.
Sich selbst stellte Andersson in seiner Preisrede in die Tradition des italie­ni­schen Neorea­lismus, und erwähnte seine Liebe zu Vittorio de Sica.

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Mit ihrer guten Entschei­dung hat die inter­na­tio­nale Jury, der unter anderem auch der deutsche Regisseur Philip Gröning und die Öster­rei­cherin Jessica Haussner angehörten, wichtige Maßstäbe gesetzt.
Denn dies ist eine Part­ei­nahme für radikale Kunst, für Film als Medium des Unbe­quemen, der Kritik, des philo­so­phi­schen Nach­den­kens über die Welt, der Beun­ru­hi­gung und der Heraus­for­de­rung Beste­henden.
Das kann auch unter­halten, das kann sogar sehr lustig sein – so wie man auch beim Lesen einer Geschichte von Kafkas oder Thomas Bernhard manchmal lauthals lachen muss. Aber Enter­tain­ment ist eben nicht alles und Ende das Unwich­tigste.

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Diese Entschei­dung ist aller­dings teuer erkauft. Denn die anderen wichtigen Preise über­zeugen weit weniger, und schaffen im Gegenteil ein derart dispa­rates Gesamt­bild, dass man nur ahnen kann welche Debatten, welche Geschmacks- und Vers­tänd­nis­dif­fe­renzen sich hinter ihnen verbergen.
Dass mit Joshua Oppen­heimer und Andreij Kont­scha­low­skij gleich beide – zugegeben unge­wöhn­liche – Doku­men­tar­filme im Wett­be­werb die anderen zentralen Preise gewannen, wirkt wie eine Bank­rott­erklärung der Phantasie. Hier werden Fakten prämiert, wie die selbst­ver­s­tänd­liche, aber auch politisch überaus billige Part­ei­nahme für die Opfer von Massakern vor 50 Jahren in Indo­ne­sien – und im Fall des 77-jährigen Konscha­low­skij ein Prolet­kult-Kino, das man in der Vergan­gen­heit begraben hoffte: In seinem Film über einen Wodka-trie­fenden Dorf­kosmos in einer male­ri­schen nord­si­bie­ri­schen Seen­lands­schaft, spielen Laien sich selbst – alles ist hier sichtbar eingeübt, nichts spontan, alles ist behauptet, nichts wahr­haftig – kitschiges Bauern­theater mit dünner Kunst­tünche lackiert.
Der letzt­jäh­rige Sieg des Doku­men­tar­films Sacro GRA war vertretbar. Aber die Häufung von Doku­men­tar­film­preisen in einem vom Spielfilm domi­nierten Festival wird diesem lang­fristig schaden.
Wo Fiktion mit Fakten wett­ei­fert, ist das kein Wett­be­werb unter Gleichen, erst recht nicht, wenn die Doku­men­tar­filme so form­be­wusst auftreten wie in diesem Fall, und eine Jury Kompro­misse finden muss – auf Tatsachen kann man sich viel leichter einigen, als auf Stile. Und so kommt die Phantasie schnell unter die Räder.

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Dabei hat die Mostra genug andere Probleme: Die Konkur­renz aus Toronto hat mehr Geld, und lockt mit moderner Infra­struktur, während die alten Gebäude in den Lagu­nen­schwaden verfallen.
Der Lido, einst mondänes Feri­en­mekka des europäi­schen Jet Set, rottet vor sich hin und ist immer noch teuer, aber hässlich wie noch nie. Seit nunmehr fünf Jahren klafft in Sicht­weite des Roten Teppich direkt vor dem Festi­val­zen­trum ein riesiges Loch, das nur notdürftig mit Plas­tik­planen bedeckt ist. Die Foto­grafen weichen dem Motiv geschickt aus, für alle anderen ist es unüber­sehbar.
Hier sollte noch unter dem Vorgänger von Festi­val­chef Barbera ein neues Zentrum gebaut werden – dafür fehlt nun das Geld. Immerhin wurde das Vorhan­dene für viele Millionen renoviert. So bleibt das Festival eines im Übergang, dessen Zukunft lang­fristig bedroht scheint. Aber immer noch ist dies nach Cannes die zweit­wich­tigste Schau der Welt fürs Autoren­kino. Und schließ­lich hat Venedig schon ganz andere Stürme über­standen.

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»Viel­leicht gibt es bald Film­fes­ti­vals nur noch nur für ›real cele­bri­ties‹ und die Brache«, »schon heute schreiben viele Jour­na­listen über Festivals, obwohl sie gar nicht da sind. Das ist ein Teil der Zukunft.« Mit einer befreun­deten Pres­se­agentin, die wir hier einmal N. nennen wollen hatte ich dieser Tage ein inter­es­santes Gespräch. Sie verschickt die Filme, die sie betreut per Link. »Ich habe jetzt schon dreißig Abdrucke, am Ende der Woche fünfzig. Die Hälfte der Autoren ist nicht hier.« N. hat auch diverse Filme, die sie betreut als Link. »Was irgendwie im Netz ist, wird auch piratiert«, da macht sie sich keine Illu­sionen.

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Es ist immer ein beson­deres Erlebnis: Am Morgen des Sonntag nach der Preis­ver­lei­hung radele ich immer nach ein letztes Mal mal zum Festi­val­zen­trum. Ich würde es wohl auch tun, wenn ich nicht müsste, aber ich muss sogar. Früher war de Pres­se­raum noch geöffnet, und da saßen dann die übrig­ge­blie­benen Jour­na­listen im Dutzend um ihren Text wegzu­schi­cken, oder überhaupt erst zu schreiben. In Zeiten von Wireless, Ultrabook, und Tablet gibt es das nicht mehr. Dafür sitzen die Jour­na­listen nun in den Cafés mit WiFi am Boulevard Sta.Elisa­betta und drängeln sich dort um die wenigen Schat­ten­plätze. Ich bin einer der ganz wenigen, die trotzdem (und glück­li­cher­weise) noch einmal zum Sala Grande müssen. Denn ich mache Radio und dort liegen die Studios der Rai, in denen, geht es nach dem Aussehen, schon der Duce gesessen hat.
Die Fahrt ist wunder­schön, und zugleich stimmt sie melan­cho­lisch. Alles vorbei! Purer Abschied. Alles Geschäf­tige ist verschwunden, die Ufer-Straße ist fast menschen­leer. Früher, als das Nobel­hotel »Des Bains« noch nicht geschlossen war, sah man hier wenigs­tens noch die Spät­som­mer­gäste. Heute sieht man nur die Arbeiter, die die Sperr­holz­ku­lissen der Mostra abbauen.
Auch der Wind wirkt kühler, es ist als ob in der Nacht der Herbst einge­zogen wäre.

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Die Abschluß­feier war depri­mie­rend. Um halb neun ging es los, um zehn Uhr bereits gab es weder Essen noch Trinken. Die Preis­träger waren mit viel­leicht 150 besonders wichtigen Gästen im ersten Stock des Hotels Excelsior, das gemeine Volk wurde ins Bett geschickt. Wir aßen dann im »Afrika« und dann ging’s natürlich noch ein letztes Mal ins Maleti.

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Dort sinnierte Jupp Schnelle dann erstmal über seine derzei­tige Lieb­lings­these, den »Nieder­gang des Lido«. Ich will diese Schwa­nen­ge­sänge nicht glauben. Und das Gerede über Toronto, das diesmal wieder besonders laut klang, kenne ich inzwi­schen auch seit meinem ersten Mostra-Besuch, seit 14 Jahren also. Immer unter­nimmt Toronto gerade irgend­etwas: Ein neuer Palast, eine neue Reihe, mehr Geld, mehr Einla­dungen. Venedig dagegen bleibt, wie es ist – schön und attraktiv also. Toronto kann damit nicht konkur­rieren. Schade nur, dass viele, vor allem Deutsche und Anglo­phone so auf die Ameri­kaner fixiert sind. Die ziehen Toronto vor. Aber was dann dort läuft sind dann halt nur ameri­ka­ni­sche Sachen, und die europäi­schen Filme, die Venedig nicht haben wollte, also zum Beispiel Phoenix von Christian Petzold. In irgend­einer deutschen Zeitung lese ich eine Schlag­zeile darüber, in der die Begriffe »KZ« und »High Heels« vorkommen, und dann lese ich besser nicht weiter. Ich will mir den Film nicht verderben, und warte die eigent­liche Premiere im Wett­be­werb von San Sebastian ab. Dort kann man nämlich dann das sehen, was in Toronto lief.

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Venedig kann meiner Ansicht nach Toronto getrost igno­rieren. Die eigenen Schwächen aller­dings nicht. Es muss ein Festival des Weltkinos sein.
Mit Susanne aus München rede ich über Archi­tektur. Wie schreck­lich der Lido aussieht, meint sie, die ganze neueren Gebäude verfielen. Die Formel »Alte Archi­tektur hält, neue verfällt« ist ein bisschen zu schlicht und mir zu konser­vativ, trifft ab er die Grund­ten­denz.

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Man kann jetzt auch nicht behaupten, dass das Festival in diesem Jahr höllisch spannend gewesen wäre. Es war eher anständig und nett, und das sind beides Worte, die nicht wirklich ein Lob sind. Jeder einzelne Film für sich war in Ordnung. Zusammen ergab sich kein Bild, keine Tendenz, und dann kam dazu, dass man vieles nicht sehen konnte. Die Neben­reihen liefen in zu kleinen Sälen. Die Filme der Offi­zi­ellen Auswahl schienen sich mehr zu über­la­gern und gegen­seitig zu blockieren, als in früheren Jahren.
Festi­val­chef Alberto Barbera ist ein viel sympa­thi­scherer Mensch als Marco Müller, aber womöglich ist der unsym­pa­thi­sche Müller doch der bessere Festi­val­di­rektor. Barbera versteht viel vom Kino, er liebt Filme und er guckt sie wirklich an – im Gegensatz zu manch anderem Festi­val­chef. Als ich ihn dieser Tage auf der Straße traf, und begrüßte, wollte er sich sofort über meinen Film unter­halten, und kannte ihn offen­sicht­lich genau.
Aber er program­miert nicht gut. Ihm gelingt es nicht, die Filme so zu aufein­ander folgen zu lassen, dass eine große Erzählung des Festi­val­jahres entsteht, mit Paral­lel­ge­schichten, Zusam­men­hängen und zugleich Konflikten, Wider­sprüchen, die sich anein­ander entzünden, sich gegen­seitig befruchten, und so dialek­tisch weitere Zusam­men­hänge herstellen. Auch bei Müller konnte man über viele Entschei­dungen streiten, aber... es gab immer etwas zu debat­tieren.

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Ist der Goldene Löwe für Roy Andersson jetzt ein Grund fürs deutsche Kino stolz zu sein? Manche Pres­se­mit­tei­lungen klingen so: »Goldener Löwe für deutsche Kopro­duk­tion« tönte es bei der Süddeut­schen, wie sonst nur in der Pres­se­stelle des FC Bayern.

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Die Schweden über­setzen den Titel übrigens, Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. Weil wir nach der Vorstel­lung den schwe­di­schen Kollegen ein Interview gegeben haben, hat es jetzt auch Von Caligari zu Hitler in eine schwe­di­sche Tages­zei­tung geschafft. Mit Über­set­zungs­funk­tion versteht man sogar, was da geschrieben steht. Und offenbar sehen es auch die Schweden nicht anders als wir: »In der spek­ta­kulärsten Aufnahmen reitet Karl XII in eine moderne Bar für Mine­ral­wasser trinkt, während seine Caro­li­nians marschieren Poltawa vor den Fenstern.«

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Auch abseits des Wett­be­werbs sah man Bemer­kens­wertes: Von Larry Clarks Erfor­schungen der Teen­ager­ab­gründe (The Smell of Us) über Chris­tophe Honores Ovid-Anver­wand­lung Meta­mor­phoses, über die ich schon geschrieben habe, bis hin zu einem Spielfilm über die Lage kuba­ni­scher Künstler 23-Jahre nach Ende der UdSSR von Laurent Cantet, der 2008 die Goldene Palme gewonnen hatte. Viele bekannte Namen tummeln sich diesmal in den Nebensek­tionen. So auch James Franco, der auch in seinem dritten Spielfilm als Regisseur wieder die Abgründe der Südstaaten aufsucht, und eine Faulkner-Story verfilmt: The Sound and the Fury hat einen epischen Atem, und beschreibt den Verfall einer Groß­be­sit­zer­fa­milie aus vier Perspek­tiven anhand der Schick­sale ihrer vier Kinder: Der eine Sohn ist schwer­be­hin­dert, der zweite bringt sich um, der dritte ein neuro­ti­scher Sadist und die Tochter hat ein unehe­li­ches Kind. Zuvor hatte sich der Vater bereits totge­soffen – Budden­brooks in Missis­sippi.

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»Life’s but a walking shadow, a poor player/ That struts and frets his hour upon the stage/ And then is heard no more. It is a tale/ Told by an idiot, full of sound and fury/ Signi­fying nothing.« Shake­speares Macbeth (Act 5, Scene 5) wird zitiert zu Beginn des Films, wie bei Faulkner. Dessen Vater­figur, ein belesener Säufer und mitfüh­lender Patriarch redet in Faulkners Worten kaum schlechter als Shake­speare: »Man – the sum of its clima­c­ting expe­ri­ence ... a stalemate ... the saddest of all, lower than ... sometimes water ... men are just accu­mu­la­tions – dolls stuffed with souldust.«

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Franco spielt selbst den behin­derten Benji, eine starke Leistung und dich das Problem des Films. Insgesamt ist dieser zu langsam, zu affek­tiert, beein­dru­ckend, aber auch ein klein wenig unbe­frie­di­gend. Oder muss es reichen, dass der Bösewicht am Schluß Gefühle zeigt: »Bring my brother back, bring him back.« Da ist sowieso alles zu spät.
Aber immer wieder richtige Sätze: »Quentin loved the shadows« über den Bruder, der sich dann umbringen wird, eine Film­stunde später.
Und alles in allem macht es Spaß, den Film zu sehen, wie immer bei Franco.

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Als die Linke noch Fußball gespielt hat, war sie besser. Scheint mir jeden­falls bei Ansicht von Ferraras Pasolini, auf den ich noch mal zurück­kommen will.

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»Is Sex political?« – Pasolini: »Of course. There is nothing, which is not political«.
Pasolini: »To scan­da­lize is alright. Beeing scada­lized is a pleasure. I am more militant than ever.«
Pasolini: »narrative art is dead.«
Pasolini redet. Viel, dauernd. Pasolini ist in diesem Film erstmal ein Sprüche­klopfer, nahe am Maulheld. Einer der zu allem was zu sagen hat, nie den Mund hält. Pasolini redet englisch. Was er dann auf Englisch sagt, ist unüber­bietbar.
Wenn er mal ruhig ist, kommt Bach. Nicht irgendwas, sondern klarer­weise die Matthäus-Passion. Kleiner kann Ferrara nicht. Er ist ein Katholik, opulent, blut­dürstig. Viel­leicht ist das genau der richtige Zugsng für Pasolini, einen, der so gar nict in unsere Zeit passen will.
Dieser Zeit und diesem Publikum, uns also mutet Ferrara eine acht Minuten lange Inter­view­szene zu, in der größere Teile von Pasolinis letzten Interview nach­ge­spielt werden. Recht so! Der Text ist berühmt, aber heute kennt das keiner mehr. Pasolini – was würden unsere lieben deutschen Kritiker wohl mehr­heit­lich über einen Pasolini-Film schreiben, wenn sie ihn zu sehen bekämen? Nichts Gutes ist zu vermuten.

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Über Pasolini kann man streiten. Willem Dafoe spielt Pasolini, der Christus Scorseses den Ferraras, der Passi­ons­dar­steller, den für uns gestor­benen Messias der Linken. Mutter Mutter, warum hast Du mich verlassen?

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Zwei Haupt­pro­bleme hat der Film, nein drei: Die visua­li­sierten Szenen aus Pasolinis unge­drehtem Werk können an das gedrehte gar nicht heran­kommen. So wie man Träume träumen möchte, aber nicht bebildert sehen, so ist das verfilmte unge­drehte Drehbuch eben nur ein Werk zweiter Ordnung. Dann: Die Ästhetik Ferraras ist der Pasolinis nicht gewachsen. Man fragt sich daher gele­gent­lich wie wohl dieser das Werk Ferraras beur­teilen würde, und diese Frage kann nicht zu Ferraras Gunsten ausgehen.
Und schließ­lich: Es ist ein so eindeu­tiger Hetero-Film, dass es unan­ge­nehm berührt. Die Frauen, die Ferarra zeigt sind wam und sexy, die Männer verdruckst und kaum zu sehen – von Pasolini/Dafoe abgesehen. Es ist Ferraras Blick der aber den des Mannes, den er bewundert, demen­tiert.

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»Narrative art is dead« – »mine is not a tale. It is a parabel.« Damit erklärt Ferrara seine Methode. Um Realismus geht es ihm gar nicht. Er verdichtet die letzten 24 Stunden des großen Künstlers zur Synthese seines Lebens: Mit dem Dreh­buch­autor Maurizio Braucci (»Gomorrha«) geht es eher um Verfrem­dungs­mittel und um Mosa­ik­steine, die ein Bild seines Lebens entstehen lassen.
Diskon­ti­nu­ier­lich switched der Film zwischen Ereig­nissen hin und her. Er visua­li­siert Pasolinis Texte.

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»All I want is that you look around and take notice of the tragedy. What is the tragedy? It’s that there are no longer any human beings; there are only some strange machines colliding with each other. ... But not what I know and what I see. I want to say it plain and clear: I go down into hell and I see things that do not disturb the peace of others. But be careful. Hell is rising toward the rest of you. ... Don’t be fooled. And you are, along with the educa­tional system, tele­vi­sion, your pacifying news­pa­pers, the great keepers of this horren­dous order founded on the concept of posses­sion and the idea of destruc­tion. Luckily, you seem to be happy when you can tag a murder with its own beautiful descrip­tion. This to me is just another one of mass culture¹s opera­tions. Since we can¹t prevent certain things from happening, we find peace in cons­truc­ting shelves where to keep them.« – Pier Paolo Pasolini, letztes Interview

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Kinder­spiele in Schnee­land­schaft. Ein kleiner Junge, viel­leicht zehn, elf, rauft etwas mehr als andere. Er heißt Aslan, ist in Ayse verliebt, die bei der Schul­in­sze­nie­rung von »Schnee­witt­chen und die sieben Zwerge« das Schnee­witt­chen spielt. Er möchte Prinz sein, wurde vom Lehrer aber nur als einer der sieben Zwerge bestimmt. »The teacher should made me prince.«
Er lebt mit seinem viel älteren Bruder und seinem Vater auf einem Hof in einem kleinen armen ostana­to­li­schen Dorf. Irgend­wann kann das Pferd nicht mehr ausrei­chend arbeiten, da wird der Kost­gänger ausge­setzt. Eine Katharsis für den Jungen. Tiere sind eine Sache in dieser Welt, und auch Aslan denkt nicht anders, er guckt aber genauer hin. Darum sieht er, dass Sivas, ein bei Hundekämpfen besiegter, schwer verwun­deter Hund, mehr wert ist, und wählt ihn zu seiner persön­li­chen Mission. Er kümmert sich um ihn, päppelt ihn auf.
Regisseur Kaan Müjdeci taucht tief ein in die Welt der (illegalen) Hundekämpfe, über die er zuvor einen Doku­men­tar­film gedreht hast.

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Wie wird ein Mann zum Mann? Dass ist die tiefere Frage. Müjdeci erzählt von der Männer­welt der türki­schen Gesell­schaft. Aslan wird zum »richtigen« Jungen. Und der Film das Portrait einer Männer­ge­sell­schaft. Sobald der Hund da ist, hat der Film trotzdem Probleme. »Die Dinge sind nicht so wie Du sie Dir vorstellst« – das ist der letzte Satz. Ein Abschied von der Kindheit.

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Das erste Drittel des Films ist das Beste. Sobald der Hund auftaucht hat der Film Probleme. Kinder und Hunde... soll man ja auch nicht. Mir gefällt der Film, aber gerade gegen Schluß nimmt er viele jener Motive und Erzähl-Fäden nicht mehr auf, die er zuvor angelegt hatte. Schade.

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Flug­zeug­ab­stürze sind gut für die Kunst, denke ich, als die Szene aus Pasolinis hinter­las­senem Roman­frag­ment visua­li­siert wird. Heute gibt es so etwas nicht mehr, weil sie Flugzeuge sicherer sind. Da braucht die Kunst neue wahr­schein­li­chere Kata­stro­phen.

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Draußen ist Vollmond. Aus dem Nebenhaus klingt Raffaela Carrá. »Doku­men­tar­filme sind schwierig«, sagt N. dann auch noch. Auch ein schöner Satz aus Pasolini: »The end doesn’t exist. We just wait. Something will happen.«