17.02.2014
64. Berlinale 2014

Archi­tektur und Verzweif­lung: Forum/Expanded

Airstrip
Heinz Emigholz, hier mit Kreidler: Airstrip
(Foto: Filmgalerie 451 GmbH & Co.KG)

Emigholz und seine Schüler, über das Stocken der Avantgarde und ein paar Anmerkungen zum Anstehen im Arsenal-Foyer – Berlinale-Rückschau, Teil 1

Von Dunja Bialas

Fleisch­lappen fliegen durch ein Flug­ha­fen­foyer, zwischen den Reisenden hindurch, die zur Landebahn gehen. Dazu Elektro-Pop von Kreidler: Wir befinden uns im neuesten Film von Heinz Emigholz. Emigholz, der ehemalige Professor für expe­ri­men­telle Film­ge­stal­tung an der UdK Berlin, ist bekannt für seine strengen Archi­tek­tur­filme, die dem rechten Winkel und der Hori­zon­ta­lität trotzen. Stets in gekippten Linien zeigt er uns seit den achtziger Jahren bedeu­tende Bauwerke, von der Antike bis zur Moderne. Jetzt hat Emigholz mit einem 21. Teil diese mit dem langen Atem von 30 Jahren angelegte Serie abge­schlossen und präsen­tierte auf der Berlinale Airstrip – Aufbruch der Moderne, Teil III. Uner­wartet offen, ließ Emigholz zum ersten Mal einen Text­kom­mentar zu, grandios und mit brüchiger Stimme aus dem Off vorge­tragen von Natja Brunck­horst. Die Refle­xionen gelten den histo­ri­schen Bezügen, die in den Gebäuden stecken, und die Emigholz gerne auf den einen, einfachen, aber eingän­gigen Gedanken herun­ter­bricht. Warum gibt es heute noch den Mercado de Abasto, erbaut von Viktor Sulcic, aus den dreißiger Jahren in Argen­ti­nien? – Weil die Argen­ti­nier keinen Weltkrieg hatten. – Was aber passierte in dem Stadion La Bombonera, ebenfalls erbaut von Viktor Sulcic? – Es wurde von den Argen­ti­niern während der Diktatur als Konzen­tra­ti­ons­lager miss­braucht, um von dort aus die Menschen massen­haft in den Tod der »Verschwun­denen« zu schicken. Durch ähnliche Gegenü­ber­stel­lungen und kontras­tie­rende Geschichts­be­trach­tungen unter­nimmt Emigholz eine Reise rund um den Globus, mit einem zentralen geogra­phi­schen Zwischen­stopp in Japan, von dem aus die beiden Atom­bomben gestartet wurden. (Warum bin ich heute am Leben? – Weil die Amis den Japanern die Atombombe geschickt haben. – Und nicht uns, wie die ursprüng­li­chen Pläne gewesen waren, musste er dann doch im Publi­kums­ge­spräch erklären.) Airstrip bleibt anders als Emigholz' früheren Filme immer in Bewegung, die titel­ge­bende Landebahn dyna­mi­siert seinen Film zum gedank­li­chen Abflug und visuellen Aufbruch. Dabei kann Emigholz bisweilen sogar komisch sein. »Ich hasse Musik im Doku­men­tar­film. Man sollte sie durch ein Gesetz verbieten«, lässt er einmal sagen – und gleich darauf setzt der dröhnend-leichte Elek­tropop Kreidlers ein. Macht sich Emigholz am Ende über seine eigene Prin­zi­pi­en­rei­terei lustig? Oder streift er hier die Maske der Strenge ab, die er über die Jahre kunstvoll angelegt hat? Ein offener Film zum Abschluss eines Zyklus', der viele Fragen unbe­ant­wortet lässt, der aber auch viele Türen als Ein- und Ausgänge öffnet, durch die Emigholz selbst oder der Zuschauer gehen kann. Wie in dem absurden und leicht-sinnigen Musik­video, Teil von Airstrip, mit dem Emigholz/Kreidler letztes Jahr in Ober­hausen den Muvi-Award gewannen.

Mehrere Tage lang war Airstrip der beste, weil über­ra­schendste Film der Berlinale. Sicher­lich lag dies an dem Wagnis, sich in das Programm des Forum Expanded zu begeben, das dieses Jahr zum neunten Mal abge­halten wurde. Im Vergleich zum Vorjahr war es ambi­tio­niert gewachsen: 15 Programme, die als »Artist’s Talk« abge­halten wurden, zehn mehr als noch im Jahr zuvor.

Retro-Avant­garde

»Artist’s Talk«: Die Idee, die sich dahinter verbirgt, ist ein Programm aus wenigen kurzen und mittel­langen Filmen zu präsen­tieren, die inhalt­lich-thema­tisch oder auch ästhe­tisch zusam­men­passen, um mit den Filme­ma­chern anschließend ein gemein­sames Gespräch zu führen. Stringent war dieses Konzept, wenn das Programm aus einem Guss war und die Fokus­sie­rung auf einen »Artist« genug Anschau­ungs­ma­te­rial und damit Gesprächs­grund­lage lieferte, auch wenn die Gespräche oft harmlos oder ehrfürchtig abliefen. Die öster­rei­chi­sche Expe­ri­men­tal­fil­merin Friedl vom Gröller beispiels­weise präsen­tierte aktuelle Filme und bewies mit ihnen, wie altbacken und bieder »Avant­garde« sein kann, wenn sie sich selbst ästhe­tisch und thema­tisch nur repetiert. Einzig der vier­minü­tige Poetry For Sale gab eine Stoßrich­tung nach vorne. Er machte deutlich, wie wichtig es ist, dass sich auch die »klas­si­sche Avant­garde« (was für ein Wider­spruch in sich!) neuen Medien und Themen öffnet: Vom Gröller fährt hier in der Pariser Metro, fängt die Menschen mit ihrer Bolex-Kamera ein und lässt aus dem Off die Gedichte eines Poetry-Straßen­ver­käu­fers aufsagen. Dort, wo sich Friedl vom Gröller von sich selbst und dem umfas­senden Thema »Frau« ab- und sich einem offenen sozialen Raum zuwendet, wirkt ihr Filmen plötzlich frisch und unver­braucht. Ähnlich wie in dem gespielten einminü­tigen Witz Warum es sich zu leben lohnt, in dem sie sich selbst beim Zähne­ziehen filmt. Eine ironische Anspie­lung an die körper­li­chen Selbst­ver­s­tüm­me­lungen vor laufender Kamera der Wiener Aktio­nisten und mit weitaus mehr Asso­zia­ti­ons­raum als Im Wiener Prater, in dem sie sich beim Pinkeln filmt (was wieder die üblichen, ihren Mut zur Selbst­ent­blößung bewun­dernden Kommen­tare des Publikums hervor­brachte).

Von Sesseln und Dolmet­schern

Bezeich­nen­der­weise wurden zwei Filme, die in ihrem Interesse an Archi­tektur und Design gut der Emigholz-Schule entstammen könnten, High­lights des Forum-Expanded-Programms. Proven­ance von Amie Siegel geht der Spur von Sesseln nach, die in Europa im sechs­stel­ligen Bereich verstei­gert werden, bis zurück in die von Le Corbusier und Jeanneret entwor­fene indische Stadt Chan­di­garh. Hier, ange­sichts der riesigen Lager­hallen, in denen sich die hoch gehan­delten Möbel als form­schöne Massen­ware anstauen, verliert der Design-Fetisch der west­li­chen Welt seine vormals insze­nierte Aura, wird die Hysterie des Kunst­marktes ad absurdum geführt. Proven­ance, mit dem neuen »Think:Film Award« ausge­zeichnet, wäre nur halb so schlau, gäbe es nicht noch einen filmi­schen Nachsatz. In Lot 248 wird doku­men­tiert, wie Proven­ance auf den Kunst­markt geschleust und auf einer Christie’s Auktion zu einer absurden Summe verstei­gert wird: Die Perver­tie­rung des Kunst­markts schließt sich im Kreis.

Amie Siegel bevorzugt klare Aufnahmen und zeigt die Menschen als funk­tio­nale Hand­langer im Dienste des Designs (das Aufpols­tern eines Sofas, das Arran­ge­ment einer Sitz­gruppe für einen Foto-Termin). Dies ändert sich schlag­artig mit der Ankunft in Indien. Hier sorgt ein stark benutztes Sitz­kissen für mehr Bequem­lich­keit auf Stühlen, auf die sich im Westen wegen ihrem Geld- und Design-Wert keiner setzen würde, und in den Hallen lagert Mobiliar, das mit dem Verfall von Chan­di­garh und dem Ende des Kolo­nia­lismus ausran­giertes Souvenir geworden ist.

Archi­tektur und ihre Funk­tionen stehen auch im Zentrum von Stefanie Gaus' und Volker Sattels Beyond Meta­bo­lism, ein Titel, der auf die japa­ni­sche Archi­tek­tur­be­we­gung des »Meta­bo­lismus« abzielt. Anders als aber der Titel androht, richtet sich der Film jedoch keines­wegs nur an Archi­tektur-Nerds. Sondern befasst sich mit mensch­li­cher Kommu­ni­ka­tion, ihren Wegen, die sie in Gebäuden nehmen müssen, bei inter­na­tio­nalen Kongressen und mit den Konse­quenzen für die Anfor­de­rungen an Archi­tektur, die sich im konkreten Beispiel in einer waben­ar­tigen Bauweise reali­sierte. Auch hier: mit Ruhe kadrierte Aufnahmen, aber auch Gespräche mit den Dolmet­sche­rinnen und Takes von Kongressen. Und auch hier wieder die Zurich­tungen des Raumes auf seine Funk­tio­na­lität hin (Tische werden abge­wischt, Kopfhörer verteilt, Stühle gerückt).

In Schönheit sterben: Dies könnte durchaus für die Emigholz-Siegel-Gaus-Sattel Filme gelten. Auf den ersten Blick. Hinter den archi­tek­tu­ralen Konstruk­tionen, die sie sorg­fältig kadrieren, offen­baren sie jedoch viel mehr, was sie so sehens­wert macht, (globale) Geschichte, Gesell­schaft und nicht zuletzt: den Menschen.

Anstehen im Arsenal

Apropos, der Mensch. Wie die Menschen, vulgo die Zuschauer, von einer so ambi­tio­nierten Sektion wie das Forum Expanded behandelt werden, ist leider einen eigenen Absatz wert. Wer sich vorge­nommen hatte, die Programme des Forum Expanded zu sehen – in stun­den­plan­mäßiger Regel­mäßig­keit täglich um 15, 17 und 18 Uhr 30 – wird dies bald bereut haben. Lange Schlangen bildeten sich bereits eine halbe Stunde vor offi­zi­ellem Film­be­ginn und ballten sich zum Berlinale-Peak am Wochen­ende bis in die hinteren Winkel des Arsenal-Foyers. Ein Warten ohne Ende: der Einlass verzö­gerte sich regel­mäßig um bis zu einer halben Stunde. Nicht näher defi­nierte »tech­ni­sche Probleme« seien daran Schuld, eine Mode­ra­torin des Forum-Expanded-Teams empfahl den Wartenden, sich mit dem Nachbarn zu unter­halten, um bis zum Filmstart zu über­brü­cken (zu diesem Zeitpunkt war man schon durch eine halbe Stunde Über­fäl­lig­keit zermürbt). Dies ohne große Entschul­di­gung, wie man als Besucher der Film­pro­gramme generell vom Personal wie ein Stör­faktor behandelt wurde, der lästi­ger­weise Filme sehen wollte. »Filme ohne Publikum« mag zwar program­ma­tisch für manche der gezeigten Werke zutreffen, wenn sich aber dennoch eins einfindet, sollte man es zumindest so behandeln, dass es seine Würde wahren kann. Erschwe­rend kam hinzu, dass maximal drei kurze bis ein kurzer und ein mittel­langer Film in ein Programm zusam­men­ge­fasst waren. Was konkret bedeutete: bis zu einer Stunde anstehen für 20 bis 40, manchmal auch 60 Minuten Film. Wer dies dreimal hinter­ein­ander am Tag gemacht hat, an mehreren Tagen, fragte sich nicht nur ange­sichts der präsen­tierten Filme, warum die Zuschauer eigent­lich ausge­rechnet vom Forum Expanded so schlecht behandelt werden, und warum es einem so schwer gemacht wurde, das Programm der Berlinale zu sehen, auf das sich nicht zwangs­läufig der allge­meine Fokus richtet. Eine Bündelung der Filme zu größeren Programm­punkten jenseits des »Artist’s Talk«-Konzeptes hätte zumindest die Wartezeit ökono­mi­siert und die Verzö­ge­rungen, jetzt nicht mehr im 20-Minuten-Slot, kalku­lier­barer gemacht.