27.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Gefan­gen­schaften, Emigranten und Ghettos aller Art

Omar
Konfliktszenario:
Hany Abu-Assad mit Omar
(Foto: Cineworx (Schweiz))

Filme aus Palästina, Iran, Singapur und Portugal

Von Dieter Wieczorek

Der aus Palästina stammende Filme­ma­cher Hany Abu-Assad entwi­ckelt in Omar ein kompli­ziertes paläs­ti­nen­sisch-israe­li­sches Konflikt­sze­nario. Der Film beginnt mit Szenen unnötiger, sadis­ti­scher Demü­ti­gung der Paläs­ti­nenser. Gleich­zeitig bereitet sich im Unter­grund ein bewaff­neter Wider­stand der Unter­drückten vor. Die zentrale Hand­lungs­dy­namik entwi­ckelt sich als Konse­quenz der Inhaf­tie­rung eines der Rebellen, der gefoltert hinter geschlos­senen Gittern vor die Wahl gestellt wird, sein Leben in Haft zu verbringen oder als Spion zu agieren. Der provo­kanter Punkt in Hany Abu-Assad in der Sektion Un Certain Regard plat­zierten, an Akti­ons­szenen reichen Film ist zu zeigen, dass die Israelis nicht so leichtes Spiel in ihren psycho­lo­gi­schen Torturen hätten, würden sie nicht von Miss­trauen und Miss­ver­s­tänd­nissen unter den Paläs­ti­nen­sern selbst profi­tieren. Sexuelle Tabus und Ehren­codes führen dort oftmals zur Verstel­lung und Heuchelei und zu einer gefähr­liche Unfähig­keit zur Kommu­ni­ka­tion. Dies ist der frucht­bare Nährboden der israe­li­schen Inter­ven­tionen. Am Ende von Assads Werk steht ein Schuss, der beide Seiten tötet. Die Logik der Revanche ist mit dem Leben zu zahlen, ein konse­quent realis­ti­sches Abschluss­bild ange­sichts der ausweg­losen realen Situation.

Gefan­gen­schaft ist Thema auch in dem in der Neben­reihe Quinzaine des réali­sa­teurs gezeigten Werkes L’escale von Kaveh Bakhtiari. Der in Iran geborene, in der Schweiz gradierte Autor geht dem Schicksal irani­scher Emigranten nach, die in Grie­chen­land über Jahre hinweg in Verbor­gen­heit lebend die Entschei­dung über ihre Visa-Anträge abwarten. Ihr Lebens­raum ist meis­ten­teils auf ihr Athener Appar­te­ment beschränkt, bis schliess­lich einige unter ihnen als letzten Verzweif­lungsakt öffent­lich in den Hunger­streik treten, vor den Gebäuden der admi­nis­tra­tiven Aufsichts­behörde. Bakhtiari verbringt Wochen und Monate mit den im erzwun­genen Unter­grund Lebenden. So gelingen ihm intime Porträts seiner Lands­leute, heimatlos, getrennt von ihren Familien und ohne jede Chance einer Lebens­ge­stal­tung verbergen sie hier ihre Emotionen nicht.

Ilo Ilo des aus Singapur kommenden Anthony Chen, ebenfalls gezeigt in der Quinzaine, der einstigen rebel­li­schen Gegen­ver­an­stal­tung zu Cannes Festival, heute lediglich sein wohl inte­grierter Baustein – selbst die Idee einer möglicher Rebellion in Cannes ist in unseren Tagen undenkbar geworden – wirft den Blick auf eine bour­geoise Familie, die sich ein phil­ip­pi­ni­sches Haus­mäd­chen leistet. Der verzogene Sohn macht der gerade Einge­trof­fenen zunächst das Leben zur Hölle, bis er einsieht, dass diese Fremde aufmerk­samer und zärt­li­cher mit ihm umgeht als seine eigene Mutter. Diese wiederum steht unter Arbeits­druck, ist mit möglicher Entlas­sung bedroht und sucht Trost in einer pseu­do­re­li­giösen Gruppe. Ihr Ehemann hat bereits seinen Job verloren. Chen macht die familiäre Degra­da­tion durch die ökono­mi­sche Krise ab dem Jahr 1997 eindring­lich fühlbar, die aller­dings bereits einsetzte als Seiten­ef­fekt des Arbeits­stresses und Erfolgs­zwanges in materiell besseren Zeiten. Er zeigt aber auch die sich neu eröff­nende Lebens­chancen, da wo die Fassaden des perfek­tio­nierten Konsums nicht mehr funk­tio­nieren. Die eigent­lich Gefangene bleibt die junge Phil­ip­pinin, deren weit fort­ge­schrit­te­nere Verarmung sie mit Tausenden Ihres­glei­chen teilt, die zu devoten Haus­ar­beiten degra­diert werden, die sie wider­spruchslos auszu­führen gezwungen sind, um ihren Angehö­rigen ein Über­le­bens­geld über­weisen zu können. Das gerade diese junge Frau Hoffnung und Anmut in diesem sensiblen, wohl beob­ach­teten Werk an den Tag legt, gibt zu denken.

Gerade aus dem Knast entlassen ist Sombra, ein in Lissabon aktiver Drogen­händler, der eigent­lich clean bleiben möchte, aber von seiner Ex-Gang kaum auf freiem Fuß unter Druck gesetzt wird, seine Schulden abzu­zahlen. Bei dem Versuch, das Geld aufzu­treiben, das er selbst verliehen hatte, gerät er schnell wieder in die Fahr­wasser der Krimi­na­lität. Der portu­gie­si­sche, in der Schweiz lebender Regisseur Basil da Cunha bietet in Até ver a luz (Nach der Nacht) ein viel­schich­tiges, zuweilen an der Grenze der Glaub­wür­dig­keit balan­cie­rendes Bild der Drogen­szene, dessen Prot­ago­nisten ihr emotio­nelles Reper­toire oft blitz­schnell wechseln, in alle denkbaren Rich­tungen. Basil da Cunha war schon 2012 mit seinem Kurfilm Os vivos tambem in der Quinzaine preis­ge­krönt worden, wie ebenfalls bereits 2007 Anthony Chen mit seinem Kurzfilm Ah ma. Die Festi­val­sek­tion zieht sich ihre Featu­re­film­kan­di­daten selbst heran, fast eine Fami­li­en­ge­meinde.