21.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Poesie, Psycho­an­lyse und andere Krank­heiten

Seduced and Abandoned
Der Film zu Cannes:
Seduced and Abandoned von James Toback und Alec Baldwin
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Poesie mit den Coen Brothers, Psychoanalyse à la Desplechin und ein Dokumentarfilm über die Krankheiten der Filmindustrie

Von Dieter Wieczorek

Der Pres­se­an­sturm auf den US-ameri­ka­ni­schen Film Inside Llewyn Davis der Coen Brüder war nach der ersten Durstrecke in Cannes leicht nach­zu­voll­ziehen. Die Erwartung eines hohen tech­ni­schen Niveaus wurde nicht enttäuscht. Darüber hinaus besticht das Werk durch seine szeni­schen Unvor­her­seh­bar­keit. Im Mittel­punkt steht der gestresste, um sein mate­ri­elles Überleben kämpfende Sänger und Gitarist Llewyn Davis. Sein Reper­toire besteht vorwie­gend aus exis­ten­zi­ellen, komplexen und poeti­schen Songs. Vers­ei­chenden Kompro­misse oder der Main­stream Folk sind keine Option für ihn. Von seiner schwan­geren Freundin verstoßen, von Managern vernach­läs­sigt und Kollegen miss­achtet, hastet er von einer Schwie­rig­keit zur nächsten. Ethan und Joel Coen bieten kein Happy End, besten­falls ein offenes. Eine Stärke ihres Werkes ist der verspielte Figu­renset, der die Groteske nicht scheut und doch einen Realismus treu bleibt. Die Gestal­tung der anhal­tenden, ange­spannten Ausge­lie­fert­heit und Degra­die­rung wird durch immer wieder heitere Sequenzen in Balance gehalten.

In origi­neller Weise vermischt findet sich ethno­lo­gi­sches Wissen und psycho­ana­ly­ti­sche Praxis im fran­zö­si­schen Wett­be­werbs­bei­trag Jimmy P. Psycho­the­rapy of Plains Indian von Arnaud Desplechin. Ein verspielter und lebens­lus­tiger Psycho­ana­ly­tiker – hervor­ra­gend darge­boten von dem sich hier für den Schau­spiel­preis empfeh­lenden Mathieu Amalric – versucht seine in den Staaten nicht aner­kannte Thera­pie­form an einem im krieg­trau­ma­ti­sierten india­ni­scher Herkunft unter Beweis zu stellen, sein einziger Patient, seine einzige Chance. Gewiss wird Psycho­ana­lyse bei Desplechin wieder einmal zum Detek­tiv­spiel reduziert. Doch die Dialog­se­quenzen halten zumindest eine perma­nente Entde­ckungs­span­nung wach. Situiert ist das Werk in den USA am Ende des Zweiten Welt­krieges. Die Begegnung zwischen dem jungen Gelehrten, der gegen Ignoranz ankämpft und dem entwur­zelten, degra­dierten Mann, der seine Kraft und Würde zurück zu gewinnen sucht, macht den Film sehens­wert. Eine kine­ma­to­gra­phi­sche Beson­der­heit lässt er jedoch vermissen.

Auf die Frage, wo in der aktuellen Film­in­dus­trie der Wurm steckt, antworten Auto­ri­täten wie Roman Polanski, Bernado Berto­lucci, Francis Coppola, Martin Scorsese, Diane Kruger u.a. in dem Doku­men­tar­film Seduced and Abandoned von James Toback (USA). Alle sind sich einig: Die großen, visi­onären, eigen­s­tän­digen und eigen­ar­tigen Filme haben heute kaum noch eine Chance auf Reali­sie­rung. Es gibt keine einzel­gän­ge­ri­schen Produ­zenten mehr, die ihrer eigenen Version folgen. Filme entstehen heute in Produ­zen­ten­kar­tellen als Misch­fi­nan­zie­rung, wo sich origi­nelle Filmideen schnell verwäs­sern. Werke wie Berto­luc­chis Der letzte Tango fänden heute schlicht keine Produk­ti­ons­mittel mehr. Einige der einfluss­reichsten Produ­zenten kommen zu Wort, die offen zuge­stehen, keine Dreh­bücher mehr zu lesen, dagegen ihr mögliches Budget allein am Marktwert der auftre­tenden Schau­spieler zu kalku­lieren.

Die Befra­gungs­stra­tegie des Doku­mentar­teams James Toback und Alec Baldwin ist, den Produ­zenten ein virtu­elles Film­pro­jekt schmack­haft zu machen: Zwei trau­ma­ti­sierte ameri­ka­ni­sche Soldaten treffen sich zu befremd­li­chen Sex. Über dieses Konzept finden dann ernst­hafte Diskus­sionen statt mit verschie­denen natio­nalen Film­kom­mis­sionen und selb­stän­digen Produ­zenten. Und in der Tat... die Zusagen kommen. Hier könnte ohne große Schwie­rig­keiten Geld fließen, bis zu fünf Millionen Dollar, viel­leicht mehr, da die Schau­spie­ler­namen hinrei­chend Erfolg verspre­chen. Auch der Festi­val­lei­ters Cannes, Thierry Fremeaux, kommt zu Wort. Er vertei­digt die große Show um die teuren Filme auch als Protek­tion der kleineren und unab­hän­gi­geren Werke. Doch die Frage bleibt offen, ob man die großen nichts­sa­genden Filme und den Schau­spielg­la­mour wirklich braucht, um eine Filmkunst am Leben zu erhalten, die mit sehr viel weniger Mittel auskommt und nicht von Schau­spie­ler­prä­senzen abhängig ist, da sie der Origi­na­lität eines Konzepts folgt und Ideen der Bild­ge­stal­tung und Sounds in den Vorder­grund stellt. Tobacks Werk gewinnt am Ende noch an Inten­sität. Nahezu allen aufge­tre­tenen Schlüs­sel­fi­guren stellt er die schließ­lich die Frage, wie sie ihrem eigenen Tod entge­gen­sehen. Die Antworten können unter­schied­li­cher nicht ausfallen.