01.11.2012

In eine andere Welt

Isabelle Huppert inHong Sangsoos In Another Country
Sich fortküssen: Isabelle Huppert in
Hong Sangsoos In Another Country
(Foto: Jeonwonsa Films)

Ein Blog zur 50. Viennale, in umgekehrter Reihenfolge zu lesen (wenn man mag)

Von Dunja Bialas

2. Tag: Die Schau­spieler
Veröf­fent­licht am 1. November 2012 von dunja­bi­alas
http://artechock­blog.wordpress.com/2012/11/01/2-tag-die-schau­spieler/ – respond
I. Alain Resnais – Vous n’avez encore rien vu
Es heißt anstehen im Foyer des Metro­kinos, zwischen den verlo­ckenden Angeboten von Kürbis­suppe & Co. und der aufge­regten Schar, den neuesten, viel­leicht letzten Film von Alain Resnais zu sehen. Ein Muss, der Kürbis­suppe zu wider­stehen (trotz der im Laufe des Tages fehl­ge­lei­teten Ernährung). Ankunft im Kinosaal. Thea­ter­hafte Holz­ver­tä­fe­lungen, das Gegenteil des unsicht­baren Kinos, das den Blick ganz auf die Leinwand konzen­triert. Wir nehmen in den plüschigen roten Sitzen Platz. Die Leinwand geht auf, der Film fängt an. Fängt er an? Vous n’avez encore rien vu versam­melt, wie als Echo von Godards gespro­chenen Film­vor­spann in Le mépris, verbal erst einmal via Telefon (und Kamera) alle Akteure des Films. Hallo? Spreche ich mit Mathieu Amalric / Pierre Arditi / Sabine Azéma / Anny Duperey / Anne Consigny / Michel Piccoli / Lambert Wilson…? – Ja, am Apparat. Sie werden einbe­rufen als sie selbst, als Schau­spieler, die als Akteure in Eurydice des (fiktiven, aber an Anouilh/Resnais ange­lehnten) Antoine d’Anthac mitge­wirkt haben. Hier sind wir bereits ange­kommen in der Binnen­fik­tion, die durch den extra­die­ge­ti­schen Umschwung, es mit den Schau­spie­lern von Alain Resnais zu tun zu haben, in eine eigen­ar­tige Spannung gerät.

I. Seid ihr alle da?

D’Anthac – ohne das vertiefen zu wollen – hat sich bei einem Reini­gungs­manöver mit seinem Jagd­ge­wehr ins Jenseits befördert, dies ein lange geplanter Selbst­mord. Jetzt sehen sich die von ihm posthum einbe­ru­fenen Schau­spieler eine Insze­nie­rung seines Ever­greens Eurydice an, die er mit Jung­dar­stel­lern gemacht hat. Bald beginnen die Schau­spieler der alten Garde, die Texte mitzu­spre­chen, die Handlung vor der Leinwand zu beleben. Eurydike und Orpheus sind dabei doppelt als Paar vertreten: durch Azéma/Arditi und Consigny/Wilson. Hier beginnt das Spiel mit Wieder­ho­lung und Variation, das Spiel der Möglich­keiten und der verschie­denen Tonfälle. Azéma/Arditi verkör­pern eine spie­le­ri­sche Leich­tig­keit in der Tragik, Consigny/Wilson geben ihm Verrucht­heit und Direkt­heit.

II. Wieder­kehr des Anderen

Resnais lenkt hier das Augenmerk auf das Schau­spiel an sich: Wie würde sich das Stück anfühlen bei anderer Inter­pre­ta­tion, bei anderer Tonalität? Wie ist es, wenn Orpheus und Eurydike immer wieder dem Orkus der Illusion entrissen werden, wenn Szenen sich wieder­holen und in anderen Schat­tie­rungen andere Sicht­weisen auf die Handlung freilegen?
»Vous n’avez encore rien vu«: Ihr habt noch nichts gesehen, in dem Moment, wo ihr meint, etwas gesehen zu haben, gibt es immer noch die andere Möglich­keit. Resnais’ Alters­werk (Kollege Willmann) ist ein anstren­gendes Unter­fangen und doch Quint­essenz dessen, was Resnais beim Kino immer auch faszi­niert hat: Eine Möglich­keit, Varia­tionen im Schnitt zusam­men­zu­denken, während das Gefilmte die pure Präsenz der thea­ter­haften Perfor­mance und damit des einen, einzigen Augen­blicks zeigt. Stre­cken­weise anstren­gend, aber erhellend. Und die Frage aufwer­fend: Was gibt das Theater dem Kino, das Kino dem Theater? – Über allem schwebt die Frage nach der Wieder­kehr und dem unwie­der­bring­li­chen Verlust, nach dem Moment im Fluss der Zeit, wenn sie vorü­ber­schweift wie im Film. – Einen besseren Vorführort als das thea­ter­gleiche Metrokino hätte man sich für den Film nicht wünschen können.

II. Hong Sangsoo – Da-reun na-ra-e-seo (In Another Country)

Schnell ins Künst­ler­haus. Hier läuft Hong Sangsoo mit In Another Country, einem Film, der durch die Huppert dominiert sein wird. Das allein ist keine Über­ra­schung, gilt Hong Sangsoo ja als der Vertreter des korea­ni­schen Kinos, der dem fran­zö­si­schen ganz nahe ist, der das parlando so gut beherrscht wie sonst nur Rohmer.

I. Die Huppert, rauchend

Eine Versuchs­an­ord­nung: Eine junge korea­ni­sche Frau ersinnt sich drei verschie­dene Dreh­bücher für eine fran­zö­si­sche Schau­spie­lerin, deren Handlung in genau dem lang­wei­ligen Küstenort spielt, in dem sie selbst fest­steckt. Anne heißt ihre Figur, Huppert verkör­pert sie. Wir sehen sie, wie sie mit giraf­fenähn­lich gestreckten Hals durchs Bild stakst, mit einem lustigem Touristen-Englisch auf der Zunge und mit sicht­li­chem Spaß an der Hohlheit der Dialoge, wenn man als Besucher in einem fremden Land, in another country Begeg­nungen mit Menschen hat, die man nicht kennt.

II. Die Huppert, küssend

Die Begeg­nungen wieder­holen sich im Laufe der drei Episoden des Films, gleiche oder ähnliche Dialoge kehren wieder und fördern einen riesen­großen Spaß am Spiel bei der Huppert zutage. Die Dialoge sind mehr als banal: es geht um geborgte Regen­schirme, um nicht voll­zo­gene Wegbe­schrei­bungen und um dem Verste­hens-Gap der engli­schen Sprache zwischen der Französin und den Koreanern. Wie Hong Sangsoo Spaß erzeugt, während Huppert mit Worten und Gesten und einem Dauer­lächeln auf den Lippen versucht zu erklären, was ein Light­house ist, ist allein schon den ganzen Film wert. Sie ist die Schau­spie­lerin in dem Film, während die anderen die Konstanten bleiben; an ihr kann beob­achtet werden, wie Inter­pre­ta­tionen aufgrund der vorge­ge­benen Parameter sich ähneln und sich dann doch die Film-Tona­li­täten umkehren können.

III. Der korea­ni­sche Life Guard

Dabei geht es In Another Country immer auch um mehr als nur um das Gefühl des Lost in trans­la­tion. Ein korea­ni­scher Life Guard, der in jeder Episode immer­gleiche Kraulzüge im Meer schwimmt, ist Epizen­trum des Films. Er verführt (die dreifache) Anne zu einem Stell­dichein in seinem Zelt, verkör­pert das Junge und Ungestüme als Sehn­suchts­ho­ri­zont und zugleich das Wesent­liche von Hang Sangsoos Kino. Dialoge werden in Alkohol ertränkt, Unver­s­tänd­nisse werden weggelächelt, und bei allem geht es immer auch um das Physische des Zwischen­mensch­li­chen, was da meint, das Emotio­nale: Just give me a kiss.

1. Tag: Gefangen im Gedan­ken­raum – Brillante Mendozas Sina­pu­punan
Veröf­fent­licht am 31. Oktober 2012 von dunja­bi­alas
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Selten das Gefühl im Kino: Ich verstehe überhaupt nicht, wie ich das dort vorne einordnen soll. Wie kann das Denken ankommen bei einem Gedanken, wenn sich permanent neue Fragen dazwi­schen schieben und soeben Gedachtes wieder verworfen wird? Und dass dieses fort­wäh­rende Neudenken- und Begrei­fen­wollen einen nicht begeis­tert, sondern nur Zeichen ist einer allge­meinen Genervt­heit, dem Film, den man da sieht, etwas Gutes abge­winnen zu wollen. Zu wollen!
Direkt und gleich am ersten Tag der Viennale passiert, was nie passiert: Dass man sich einem Film innerlich zutiefst zur Wehr setzt und dennoch bereit­willig dem folgen möchte, was da vorne passiert. Brillante Mendozas Sina­pu­punan (Thy Womb) wurde zum Präzen­denz­fall. Die Geschichte handelt von einem armen Ehepaar, das im Süden der Phil­ip­pinen auf einer vornehm­lich von Moslems bewohnten Insel­gruppe lebt und sich – trotz fort­ge­schrit­tenem Alter und offen­sicht­li­chem Kinder­reichtum der Region – nichts mehr wünscht als ein Kind.

I. Das alte Ehepaar: Sie ist Hebamme, er assis­tiert (wenn sie keine Matten flechten)

Da es an der Frau liegt, dass es nicht klappt, beschließen beide, dass der Mann eine zweite – jüngere – Frau ehelicht, um den Kinder­wunsch zu erfüllen (das geht bei den Moslems so). Viel Geld muss gesammelt werden, um die Zweitfrau, die gar nicht so leicht zu finden ist, von ihrer Herkunfts­fa­milie frei­zu­kaufen. Ihre Bedingung: Wenn das Kind da ist, muss die erste Ehefrau gehen. In der entspre­chenden Szene dann tief erschüt­terte Blicke über die Tragik, mit der es das Schicksal mit dem alten Ehepaar meint.

II. Die junge, clevere Zweit­ehe­frau in spe

Der Gang der Handlung ist absehbar und hält einen winzig kleinen offenen Horizont bereit, der aller­dings durch die sorg­fäl­tige drama­tur­gi­sche Vorbe­rei­tung mehr als Behaup­tung Mendozas verstanden werden muss als tatsäch­lich gemeint. Während des Films Fragen über Fragen, euro­zen­tris­ti­scher Natur, wider­sprüch­lich, selbst­of­fen­ba­rend und allesamt nicht bei einer Antwort ankommend: Wieso verschuldet sich ein in Armut lebendes Ehepaar, dem es bereits an allem fehlt, über Maßen, um sich einen Kinder­wunsch zu erfüllen (ein Kind scheint gerade nicht zu fehlen)? Ist dieser Kinder­wunsch als egois­tisch zu bewerten, oder ist dies eine westliche Wohl­stands­per­spek­tive (auf Selbst­er­fül­lung)? Haben Menschen in Armut nicht das Recht auf Selbst­er­fül­lung (zuerst gelte es, die Existenz zu sichern)? Welche Familie der Welt (und sei sie noch so sehr Schwel­len­welt) übergibt ihre junge, hübsche und gut ausge­bil­dete Tochter gegen einen Haufen Gold und mehrere Bündel Geld­scheine an einen, mit Verlaub, armen, alten Sack? Warum sollen wir Zuschauer mitleiden mit dem geal­tertem Ehepaar, dessen Proku­ra­ti­ons­zeit abge­laufen ist, wenn es sich ein junges Ding quasi als Leih­mutter nehmen will? Und wenn diese dann eine Forderung in den Raum stellt, die erstens ihren scharfen Verstand unter Beweis stellt, zweitens die Zweitehe als egois­ti­sches Manöver entlarvt?
Wider­s­tände tun sich auf gegen die Geschichte und gegen den Film. Militär bedroht die Einwohner, Mendoza versucht nach dem Film im Q&A – ohne über­zeugen zu können – mit dem Eindruck auszu­räumen, es würde hier auch um den Konflikt Christen (90%) gegen Moslems (10%, auf dem Archipel aber in der Mehrheit) gehen: Das Militär beschützt die Bewohner, es gehe ihm nicht um den Konflikt Christen gegen Moslems. Sagt er, während Abge­sandte der Phil­ip­pi­ni­schen Botschaft im Publikum sitzen. Immerhin heißt der Film Thy Womb, mit der christ­li­chen Wendung, will man Gott anspre­chen. Und auch die Bildern erzählen anderes, ohne dass man es gleich­wohl verstanden hätte.
Doku­men­ta­risch sei der Film, so ist überall nach­zu­lesen. Das Denken läuft ins Ungewisse bei dem Versuch, es zu glauben. Zu bunt, zu pracht­voll sind die gezeigten Bräuche der armen Insel­be­wohner. Hier haben Kame­ra­fahrten, Ausstatter und Beleuchter kräftig nach­ge­holfen. Bunt, bunt, bunt sind alle ihre Kleider.

III. Die Ankunft der präch­tigen Hoch­zeits­ge­sell­schaft

Viel­leicht aber kann nur ich nicht verstehen, woher all diese pracht­vollen Gewänder kommen, und wieso sich die Feier einer Hochzeit wie die Werbe­ver­an­stal­tung des örtlichen Touristik-Unter­nehmen anfühlt (im Abspann gibt es einen Hinweis auf eine touris­ti­sche Betei­li­gung, was aber dennoch nichts heißen mag). Auch die Kamera-Kranfahrt über die Dächer der armse­ligen Hütten ist schweres und störendes Geschütz, will man die Echtheit der Story unter­mauern. (Mendoza sagt über­flüs­si­ger­weise im Q&A, dass sein Film auf einer wahren Geschichte beruht. Das glauben wir ihm sofort: Eine wahre Geschichte? Viele wahre Geschichten! – Oder etwa nicht?)
Was bleibt? Ein Regisseur, der nach dem Film seltsam dünne Antworten gibt. Ein Film, der Folklore-Kitsch-verdächtig ist. Eine Geschichte, die ärgert, weil man nicht mitgehen will. Daran kann auch der Hinweis auf die Darsteller der Alten nichts mehr ändern, beide Stars des ruhm­vollen phil­ip­pi­ni­schen Kinos (Nora Aunor gilt als Superstar in Phil­ip­pine Enter­tain­ment Industry, Bembol Roco kennt man aus Lino Brockas Manila at the claw of bright­ness, von 1975). Mendoza, das hat man schon in seinen früheren Filmen gefühlt, sieht sich als direkten Erben von Lino Brocka. Das Sozi­al­kri­ti­sche und Melo­dra­ma­ti­sche seiner Filme stehen in Tradition mit dem Monument der phil­ip­pi­ni­schen Kino­ge­schichte. Viel­leicht aber verlangt die Gegenwart nach anderen Geschichten, auch wenn diese hier noch so echt sein mag. Und schon wieder führt ein Gedanke in den Raum ohne Antwort.

Von den Rändern der Viennale
Veröf­fent­licht am 24. Oktober 2012 von dunja­bi­alas
http://artechock­blog.wordpress.com/2012/10/24/von-den-randern-der-viennale/ – respond

Vom 25. Oktober bis 7. November findet das viel­leicht schönste Film­fes­tival im deutsch­spra­chigen Raum statt. Auf der Viennale kann man erleben, was es heißt, wenn das Festival in der ganzen Innen­stadt spielt, in den wunder­schönen Kinos der Stadt, die alt sind und nicht renoviert, in Sälen mit über 700 Sitz­plätzen und haushohen Lein­wänden oder intim und holz­ver­tä­felt: kein Multiplex weit und breit, und doch alles einen Steinwurf vonein­ander entfernt. Als leicht morbide Kulisse setzt sich Wien dabei gekonnt in Szene, um die alljähr­liche Herbst­stim­mung zu komplet­tieren. Dieses Jahr feiert die Viennale ihr 50. Jubiläum. Begonnen hat sie übrigens unpas­sen­der­weise als Festival der Heiter­keit». Komödien standen im Zentrum des Film­pro­gramms, um den Vorwürfen einer pro-kommu­nis­ti­schen Agitation zu entgehen, wie es auf der Jubiläums­seite des Festivals heißt. Ab 1968 bis Ende der 80er Jahre entwi­ckelte sich die Viennale zur Gussform, in der man sie heute noch kennt: mit einem anspruch­vollen Film­an­gebot fürs Publikum aus einer Mischung aus Filma­vant­garde und Arthouse, inte­griert in das Programm des Öster­rei­chi­schen Film­mu­seums.
Für alle, die es nicht wissen: Werner Herzog war kurze Zeit Leiter der Viennale, nach ihm kamen Wolfgang Ainberger und Alexander Horwath, heute Leiter des Öster­rei­chi­schen Film­mu­seums. Hans Hurch, dem immer wieder nach­ge­sagt wird, dass er irgend­wann als Kultur­mi­nister in die öster­rei­chi­sche Politik gehen wird (ein Gerücht, dass sich trotz mannig­fa­ch­iger Vertrags­ver­län­ge­rungen hart­nä­ckig hält) ist seit 1997 Festi­val­di­rektor. Sein Bobo-Bashing hat Legende geschrieben (Man darf denen diesen hedo­nis­ti­schen, halb­kri­ti­schen Genuss nicht durch­gehen lassen.). Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, den bour­geoisen Bohèmes immer wieder fran­zö­si­sche Filme zu servieren, die durchaus schön anzusehen sind.
Mal sehen, ob auch im 50. Jahr derart kraft­volle Zitate aufzu­schnappen sind: von den Rändern der Viennale wird dieser Blog berichten.«