16.09.2010

Die Welt unserer Zukunft...

Somewhere
Somewhere
Sofia Coppola und der Goldene Löwe
(Foto: Tobis Film GmbH)

...und das Drama des modernen Menschen, Sofia Coppolas Gewinn des Goldenen Löwen und ein Killer an der US-mexikanischen Grenze; Leben zwischen Kafka und de Sade

Von Rüdiger Suchsland

»Nepo­tismus« – von Enrique, den wir schon seit Jahren kennen, haben wir das Wort hier zum ersten Mal gehört. Enrique kommt aus Chile, und sein Blick mag ein wenig gefärbt sein dadurch, dass der chile­ni­sche Beitrag Post Mortem hier gar nichts bekommen hat. Nicht völlig unver­dient, fand ich. Aber Enrique hat natürlich auch seinen Punkt: Jurychef Tarantino und Sofia Coppola waren mal ein Paar. Tarantino und Vincent Gallo sind befreundet. Monte Hellman ist Taran­tinos Mentor. Aber man könnte auch sagen: Tarantino verehrt Tsui Hark. Tykwer ist mit Tarantino befreundet. Tarantino hat im letzten Film von Miike Takashi mitge­spielt. Hätten die einen Preis bekommen, wäre nicht weniger von Nepo­tismus die Rede gewesen.

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Aus der Einsam­keit eines Holly­wood­stars wird das Drama des modernen Menschen, der alles hat, und doch nicht weiß, wie er glücklich sein kann. Davon erzählt die US-ameri­ka­ni­sche Regis­seurin Sofia Coppola in Somewhere, für den sie jetzt bei den Film­fest­spielen von Venedig einen Goldenen Löwen gewann. »Ich kann es nicht glauben und ich bin so stolz ... ich habe nie davon geträumt, den Golden Löwen zu bekommen. Es wird unserem Film so sehr helfen und Mut machen auf kleine persön­liche Filme.« freute sich Coppola im Gespräch nach der Preis­ver­lei­hung, und erzählte, ihre Vorbilder seien die Filme der fran­zö­si­schen »Neuen Welle« gewesen, besonders von Jean-Luc Godard.

Je zwei Preise gingen an die wohl künst­le­risch aufre­gendsten Filme des Wett­be­werbs: »Beste Regie« und »Bestes Drehbuch« gewann der spanische Regisseur Alex de la Iglesia (geb. 1965) für Balada triste de trompeta – einer der größten Festi­val­er­folge aller Zeiten für das Spanische Kino. Mit obses­siven, expres­siven Bildern, die an die Filme von Bunuel und Saura erinnern, erzählt der Film von zwei Clowns in der Spätzeit des Fran­co­re­gimes, und rührt an diverse Tabus der spani­schen Geschichte.

Nicht weniger tabu­bre­chend war Essential Killing vom polni­schen Altmeister Jerzey Skoli­mowski (Jury- und Darstel­ler­preis): Der Ameri­kaner Vincent Gallo – der erste Preis füre einen Darsteller, der einen ganzen Tonfilm über kein Wort spricht – spielt einen Taliban der aus einem US-Geheim­ge­fängnis in den polni­schen Wäldern flieht: Er hat keine Chance, aber er nutzt sie, und rennt, so weit die Füße tragen durch eine fast spiri­tu­elle Schnee­land­schaft. Auf dem Weg tötet er vier Verfolger, saugt aus Hunger an der Brust einer stil­lenden Bäuerin, isst Rinde und rohe tote Tiere. Das ist unglaub­lich konstru­iert, aber gleich­zeitig doch ein sehr guter, bewun­derns­wert insze­nierter Film, der einen nicht loslässt.

Jury­prä­si­dent Quentin Tarantino lobte die beiden sehr radikalen und wage­mu­tigen Filme zum Abschluss voller Enthu­si­asmus: »Das war kein typisches Arthouse-Kino, das war muskulöses Kino, das war schmerz­haft und berührte uns in einer körper­li­chen Weise, der wir uns nicht entziehen konnten.«

In den vergan­genen zehn Tagen erlebte das Festival von Venedig einen der besten Wett­be­werbe des vergan­genen Jahr­zehnts. Kaum ein Film war wirklich miss­glückt, oder auch nur lang­weilig. Zudem präsen­tierte sich das Programm thema­tisch wie stilis­tisch sehr abwechs­lungs­reich und voller Facetten. Einmal mehr funk­tio­niert das Kino auch als sehr präziser Seis­mo­graph: Hatten im vergan­genen Jahr auch als Reaktion auf die Banken­krise in vielen Filmen Welt­un­ter­gangs­sze­na­rien dominiert, kreiste diesmal vieles thema­tisch um jene gewisse Rat- und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit west­li­cher Gesell­schaften, um 30-50-jährige, die sich nicht recht entscheiden können und wollen zwischen dem Fest­halten an alten Träumen und alltäg­li­chem Prag­ma­tismus. Heißt Erwachsen zu werden, seine Träume aufzu­geben, oder viel mehr gerade an ihnen fest­zu­halten, und sie leben zu können? Das gilt zum Beispiel auch für Tom Tykwers neuen Film DREI, der bei der Preis­ver­gabe – auch verdient – leer ausging.

Auch stilis­tisch ließ sich ein Trend ausmachen: Das Kino wird ganz allgemein schriller, bunter, lauter, barocker und expres­siver. Als ob den Filme­ma­chern das Ruhige, Stille, das Auskosten der Dauer, dieser ganze, allmäh­lich zum Arthouse-Main­stream sich verdich­tende Arthouse-Stil auf die Nerven geht. Dafür standen die Filme aus Polen und Spanien, aber auch diverses außer Konkur­renz. Das Weltkino ist im Aufbruch begriffen, und Venedig funk­tio­nierte dieses Jahr als perfekte Start­rampe dafür.

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Ob das so bleiben wird steht aller­dings in den Sternen. Am Sonntag gab Festi­val­leiter Marco Mueller noch eine Pres­se­kon­fe­renz – wohl auch auf Reaktion auf heftige Kritik in der italie­ni­schen Presse. Viele Hotels machten zuletzt zu, die Festi­val­ge­bäude sind marode, der Lido scheint insgesamt auf dem abstei­genden Ast, die Konkur­renz in Locarno, Toronto und San Sebastian zeigt sich finan­ziell und orga­ni­sa­to­risch besser aufge­stellt. Sollte es nicht bald gelingen, den ewig angekün­digten neuen Festi­val­pa­last fertig­zu­stellen, und Venedig neu zu etablieren, dürfte die Mostra trotz guter offi­zi­eller Zahlen rapide an Bedeutung verlieren. Ande­rer­seits verändern sich die Dinge in Italien immer schnell. Bald sind wieder Wahlen, danach wird ein neues Kapitel in der uralten Festi­val­ge­schichte aufge­schlagen.

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Was der Mann erzählt, ist unvor­stellbar. Er weiß es selber: »There are forms of inter­ro­ga­tion, you cannot imagine...« Etwa jene 70 Menschen, die nach­ein­ander – »they got a very special treatment« – in einer dafür eigens herge­stellten Anlage bei leben­digem Leib langsam gekocht wurden. Man zog sie immer heraus, wenn sie ohnmächtig wurden, schnitt die gekochten Körper­teile ab, belebte sie wieder, und begann von Neuem, bis sie tot waren. Oder jenes Verfahren, bei dem der Gefangene nackt ausge­zogen wird. Man legt dem Gefes­selten ein Bettlaken über die Haut. Dann gießt man Benzin darüber, oder, wenn gerade keines zur Hand ist, Alkohol. Dann zündet man es an. Nach ein paar Sekunden zieht man das Laken weg. »Dabei gehen drei Schichten Haut mit« erzählt der Mann: »Dann gießt man Alkohol drauf....«

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»No hay limites«, es gibt keine Grenzen erzählt der Mann. Er ist mit einem schwarzen Tuch über dem Gesicht maskiert, und das hat auch seinen guten Grund: Denn auf seinen Kopf hat das Drogen­kar­tell von Juárez ein Kopfgeld von 250.000 US-Dollar ausge­setzt. Er sitzt den ganzen Film über in einem Zimmer in einem Motel im ameri­ka­nisch-mexi­ka­ni­schen Grenz­ge­biet und redet. In dem Zimmer, darum hat er es als Treff­punkt vorge­schlagen, hielt er einst einen gekid­nappten Mann drei Tage lang gefangen. Trotzdem man weiter nichts sieht, ist El Sicario, Room 164 vom italie­ni­schen Doku­men­tar­filmer Gian­franco Rosi, der soeben bei den Film­fest­spielen von Venedig Premiere hatte, ein unglaub­lich span­nender Film. Das liegt zum einen an dem Mann, dem Sicario selbst. Er ist offen­kundig recht intel­li­gent, sehr selbst­re­flek­tiert, er ist ein guter, plas­ti­scher Erzähler, drückt sich knapp und klar und dabei eloquent aus. Vor allem aber sind da seine Hände. Feine, zur Hand hin dicker werdende Finger, die keine Spur von den Dingen tragen, die sie getan haben. Sie sind das Einzige, was man direkt von seinem Körper sieht. In der linken Hand hält er einen gebun­denen Zeichen­block und in der rechten einen braunen Filzstift. Mit ihm zeichnet er fast unun­ter­bro­chen, ergänzt und illus­triert, was er gerade erzählt. Es sind sehr klare, einfache, trotzdem spre­chende Zeich­nungen, eine ganz eigene dritte, auch origi­nelle Ebene in diesem Film.

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Der Sicario, wie wir ihn nennen wollen, wie ihn auch Rosi nennt, der seinen wahren Namen nicht kennt, nicht kennen will, hat hunderte von Menschen getötet. Er erzählt davon, wie auch von den Menschen, die er gefoltert und entführt hat. Er sagt Sätze wie »Its ugly to see a woman tortured.« oder »First kill them, then cut of, whatever you want.« Damit es nicht blutet. Und er beschreibt, wie das Drogen­kar­tell durch die Art, in der eine Leiche irgendwo abgelegt wird, Botschaften über­bringt: »Gesicht nach oben, oder nach unten, einen Finger in den Mund, oder im Arsch; die Augen heraus­ge­schnitten, oder die Zunge...«

Trotz solcher und vieler anderer Erzäh­lungen ist einem dieser Mann, es lässt sich gar nicht anders sagen, sympa­thisch. Der Sicario ist keines­wegs ein Sadist, er genießt nicht, was er getan hat, oder davon nun zu erzählen. Eher redet er sich etwas von der Seele. Man hört manchmal seinen schweren Atem, man bemerkt die Verän­de­rungen seiner Stimme, man sieht an den Händen, was in ihm vorgeht. Er ist ein Bericht­erstatter aus der Hölle, der real exis­tie­renden unserer Zeit.

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Man kann natürlich sagen: Kafka trifft de Sade in diesen Erzäh­lungen, die einen tatsäch­lich an Kafkas Kurz­ge­schichte über die Straf­ko­lonie denken lassen. Aber das, was diese Geständ­nisse in ihrem Wahnsinn zu einem sensa­tio­nellen Dokument macht, ist nicht ihr poeti­scher Gehalt, nicht der Abgrund an Phan­tastik, nicht die gele­gent­li­chen surrealen Momente. Es sind die Tatsachen und die Nüch­tern­heit, mit der sie präsen­tiert werden, die Nüch­tern­heit mit der hier das Gangster- und Mafi­al­eben in seiner ganzen Fakti­zität vor uns entfaltet wird, in der ihm aller Glamour und alle Mythen entzogen werden, und es – viel­leicht zum aller­ersten Mal im Kino – quasi in seiner kris­tal­linen Substanz sichtbar wird.

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Das eigent­lich Sensa­tio­nelle ist nicht die perverse Poesie der Leichen­zei­chen­sprache, es ist nicht das Theater der Grau­sam­keit der Folter­me­thoden, deren Realität wir uns, wie oben gesagt, eben doch nie wirklich vorstellen können, und die deswegen doch immer wieder ins Phan­tas­ti­sche, Litera­ri­sche, in die Kunst abgleiten in unserem Hirn. Das eigent­lich Sensa­tio­nelle sind die nackten Fakten und die nackten Zahlen: Dass von 300 bis 400 Kidnap­ping-Opfern pro Jahr in Mexiko nur 20 überleben. Dass die Infor­manten der US-Drogen­behörde ein Microchip-Implantat in ihrem Körper tragen, damit man ihre Leiche besser und schneller finden kann. Dass von 200 mexi­ka­ni­schen Poli­zisten 50 bereits zu Beginn ihrer Laufbahn Mitglieder des Kartells sind. Dass die »Polizei-Akademien Trai­nings­lager für die Ange­stellten der Kartells sind. Alles, was man für das Geschäft braucht, bekommt man beigebracht: Wieder­erkennen von Gesich­tern, Verfolgen von Fahr­zeugen, Entschlüs­seln von Nummern­schil­dern, Schießen...«. Dass das Kartell ein arbeits­tei­liger Exper­ten­be­trieb ist. Für alles gibt es Spezia­listen: Exekution, Leichen­be­sei­ti­gung, Über­wa­chen der Über­wa­cher, Über­wa­chen der »sicheren Häuser«....

»Man braucht Courage, Erfahrung, Nerven aus Stahl« sagt der Sicario. Der US-Jour­na­list Charles Bowden, der den Sicario entdeckt hat, und auf dessen Artikel in »Harpers magazine« der Film zurück­geht, sagt im Gespräch: »Die Welt unsrer Zukunft sieht Juárez viel ähnlicher, als Berlin oder New York.«