09.09.2010

Sintflut am Lido

Balada triste de trompeta
Balada triste de trompeta des Spaniers Álex de la Iglesia
(Foto: PLAION PICTURES)

Venedig kann sehr nass sein: Märchen, Produktionsbedingungen der Filmkritiker

Von Rüdiger Suchsland

So muss es sein, wenn der Welt­un­ter­gang beginnt: Der Himmel war schon länger grau­schwarz, und wer es nicht besser wusste, hätte nie vermutet, sich ausge­rechnet in Italien, an einer der begehr­testen Urlaubs­stätten der Welt zu befinden. Draußen blitzte und donnerte es und der Wind schlug liter­weise Wasser gegen die Fenster. In der Baugrube zum neuen Film­pa­last, die in diesem Jahr nicht anders aussieht als im letzten, nur trauriger, bildeten sich kleine Seen. Drinnen klatschten ein paar unschein­bare Tropfen von der Decke auf einen der Tische, genau in dem Raum, wo die Compu­ter­schreib­plätze der Jour­na­listen stehen. Plötzlich, ohne durch irgendein Geräusch angekün­digt worden zu sein, wurden die Tropfen mehr, und schwollen in wenigen Sekunden an zu einer Art Dusche, und noch einmal eine halbe Minute später trat auch an einer anderen Stelle das Wasser aus der Decke, fiel den etwa zehn Meter hohen, riesige Saal im über­trieben mega­lo­manen, unter dem Faschismus gebauten Casino am Lido herunter, traf mit lautem Geräusch einen zweiten Tisch. Das Tech­nik­per­sonal schrie fassungslos und untätig durch­ein­ander, ein paar Jour­na­listen hatten den nahe­lie­genden Gedanken, ein paar der vielen Plas­tik­pa­pier­körbe in etwa dorthin zu stellen, wo das Wasser einbrach. Trotzdem gab es Bäche im Pres­se­raum, der im übrigen rund 20 Meter hoch im dritten Stock des Gebäudes liegt, die dann in Richtung der Wände, wo auch die provi­so­ri­schen elek­tri­schen Leitungen entlang­führen, abflossen. Mit wieder­ge­won­nener Fassung drehten die Techniker erst einmal den Strom ab. Dann wurden alle Jour­na­listen, auch jene an trockenen Tischen, des Saales verwiesen. Die Photo­gra­phen unter ihnen hatten längst Bilder gemacht, die von den Agenturen in alle Welt verbreitet wurden. Jeder Anrufer aus Deutsch­land sprach einen an den folgenden zwei Tagen auf den Vorgang an. An der Tür des nunmehr geräumten Pres­se­raumes klebte derweil ein Schild: »Pressroom closed until further notice.«

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Obwohl diese drei letzten Worte gerade in Italien das Schlimmste befürchten ließen, war der Pres­se­raum, der nicht zuletzt ein E-mail-Schreib- und Senderaum ist, dann wider Erwarten am nächsten Tag wieder zugäng­lich. Das opti­mis­ti­sche Wesen der Italiener – deswegen lieben wir grum­me­ligen deutschen Nega­ti­visten sie ja so – zeigte sich daran, dass sie die Zeit der folgenden Tage nicht genutzt haben. Denn heute, am Mittwoch, dem achten Tag des Festivals, war der Wolken­bruch zwischen 8.10 und 10.30 am Morgen eher noch schlimmer als vergan­genen Freitag. Schon in der Frühe stand das Wasser im Casino auch im ersten Stock einige unfass­bare Zenti­menter hoch. Der Pres­se­raum war wieder geschlossen. Positiv könnte man sagen: Die Decke ist bislang nicht einge­stürzt. Nur der Himmel.

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Vergleichs­weise ungast­lich ist sowieso in diesem Jahr alles am Lido. Außer den Filmen. Noch nie waren die Arbeits­be­din­gungen der Jour­na­listen so schlecht, noch nie die Bericht­erstatter dem Festival offen­kundig derart gleich­gültig. Und im Lande Berlus­conis sind sie seit jeher... sagen wir mal: Erwartbar. Man wünschte sich einen Gene­ral­streik der Film­kritik. Dass einfach mal ein Jahr keiner kommen und niemand berichten würde. Dann würde hier alles besser werden. Aber das wird natürlich nicht passieren, und so wird es wie bisher in den letzten vergan­genen zehn Jahren, die ich nunmehr dieses Festival besuche, jedes Jahr ein wenig schlechter und unan­ge­nehmer sein, als im Jahr zuvor. Bis eines Tages eine Sintflut den ganzen Lido und das ganze Festival und viel­leicht gleich das ganze Kino hinweg­s­pült. Bis auf, wie gesagt, die Filme.

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Es ging schon gut los: Es ist eine schlicht und einfach groß­ar­tige Szene, wenn Natalie Portman irgend­wann schwarze Schwa­nen­fe­dern aus dem Rücken wachsen. Dies ist nur ein ganz kurzer Moment, aber einer derje­nigen, die unbedingt in Erin­ne­rung bleiben von diesem Film. Kaum weniger eindrucks­voll, wenn sich, zuvor schon wie auch später, immer wieder mal Anmu­tungen einer Gänsehaut auf ihren Gliedern abzeichnen.

Auch sonst sah man Natalie Portman, nachdem sie am Mitt­woch­abend über den Roten Teppich am Lido­strand vor Venedigs Lagune gelaufen ist, in dem Psycho­thriller Black Swan, dem Eröff­nungs­film des Film­fes­ti­vals von Venedig, so wie noch nie zuvor: Als junges kesses Kind wurde sie einst mit Luc Bessons Leon – der Profi an der Seite von Jean Reno bekannt, später spielte sie oft eher starke und burschi­kose Frauen. In dem neuen Film von Darren Aronofsky ist sie hingegen ein ganz verletz­li­cher Charakter, mit, wenn man so will (und alle Gender­for­scherInnen mögen mir das verzeihen), typisch weib­li­chen Problemen: Nina, eine junge ehrgei­zige Ballet­tän­zerin, die den Hauptpart in der »Schwa­nensee«-Auffüh­rung bekommt, und davon zunehmend über­for­dert ist.
Ganz nah rückt Portman die Kamera auf die Haupt, zeigt ihr Gesicht in Groß­auf­nahme, folgt ihr von hinten ganz nahe.

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Vor zwei Jahren gewann Aronofsky, an diesem Ort mit dem Catcher­drama The Wrestler und vor allem mit Mickey Rourkes Comeback den Goldenen Löwen. Auch dieser Film könnte The Wrestler heißen, und bei genauerer Betrach­tung ähnelt Portmans Figur in vielem der des abge­half­terten Catchers, der kein Leben hat außer seiner Show, für die er alles riskiert, bis hin zur Selbst­zer­störung. Beide werfen ihren Körper in den Ring, beide tragen ihre Haut zu Markte, und beiden wird sie aufge­rissen, bis das rohe Fleisch sichtbar ist.

So wie man Aronofsky die Obsession für einen bestimmten »Typ« Frau unter­stellen darf – Jennifer Connelly in Requiem for a Dream, Rachel Weisz in The Fountain, Natalie Portman jetzt –, so auch eine Obsession für Haut und Blut, für das rohe Fleisch, für das Eindringen unter die Haut. Immer wieder wird hier die Haut Portmans aufge­rissen, die Zehen, die Finger, der Rücken... Und immer wieder fließt Blut – das bei Frauen, bei einem »Frau­en­film« wie diesem ja immer noch eine zusätz­liche Bedeutung hat. Blut an den Händen, Blut in den Kleidern, Blut im Schuh. Rucke-di-Ruh...

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Black Swan ist auf seine Art eine Aschen­put­tel­ge­schichte: Nina heißt Portmans Figur, dieser weibliche Wrestler. Sie ist eine von vielen am New Yorker Haus, ist extrem ehrgeizig und diszi­pli­niert, lebt fürs Ballett allein, bekommt seine Chance, will sie nutzen, kann das aber im Grunde erst durch Selb­stü­ber­win­dung, durch Selbst­ver­lust. Ein unter­grün­diger Diskurs in diesem Film ist der über Perfek­tion. »All the disci­pline for what?«»I just wanna be perfect.«»Perfec­tion is as well about let it go. To lose yourself.« Nina ist technisch perfekt, das wird früh klar gemacht, aber im Urteil ihrer Mitmen­schen heißt es auch, sie sei »kalt«, ja »frigide«. Im Gegensatz dazu ihre Kollegin, gespielt von Mila Kunis. Sie sein »imperfect, but effort­less.« sagt der mani­pu­la­tive Impres­sario: »She is not faking it.«

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Schwarz und Weiß und Rosa sieht der Film von Anfang an aus, das Farb­de­sign ist so genau und konse­quent, wie schön anzusehen. Die Farben stehen für Tempe­ra­mente, Schwarz und Weiß für die zwei Seiten der erwach­senen Charak­tere, insbe­son­dere Ninas, das Rosa für ihre Unschuld, für das Kindsein. Ganz in Rosa ist ihr Jung­mäd­chen­zimmer, getaucht, man sieht Stoff­tiere, ein Schmet­ter­lings­muster auf der Tapete, auf dem Nacht­tisch steht eine Spieluhr, die – pling, pling plang pling, plong-plong – Schwa­nensee spielt. Nina ist zuhause weiter Kind. Auch sonst Aronofsky wenig Klischees aus: In der Liebe und Fürsorge der Mutter steckt auch der Neid auf jene Karriere, die sie selber nicht gehabt hat: »I gave up to have you«. Es folgt die Quasi-Entmün­di­gung der Tochter durch die »protec­tive Mum«.

Eine Entjung­fe­rungs­phan­tasie – kein »Coming-of-age« – ist Black Swan, ein Film über das Verhältnis (von Frauen) zur (weib­li­chen) Sexua­lität. »Touch yourself« gibt ihr der Regisseur, quasi als Haus­auf­gabe mit auf den Weg. Als sie es dann tut, merkt sie nicht, dass die Mutter im Raum ist. Gute Kunst braucht guten Sex, oder überhaupt, auch das so ein frag­wür­diges Kunst­kli­schee natürlich. Aber sei es drum: Auch das, Natalie Portman befrie­digt sich am Morgen im Bett, ist ein Bild, das man noch nicht kannte, gern sah, und in Erin­ne­rung behält. Genauso ein Moment, der sich erst im Rückblick als reine Phantasie entpuppt: Sie hat Sex mit ihrer Kollegin...

Nina entpuppt sich im Verlauf des Films als Mensch voller Nervo­sität, nahe an der Hysterie. Zunehmend wird sie von Reali­täts­ver­lust, von Paranoia, von Visionen gepeinigt: Sie hat Sex-Phan­ta­sien, und Mord-Phan­ta­sien, letztere zielen auf die Mutter, die Vorgän­gerin, eine Kollegin, sich selbst.

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Viele Beob­ach­tungen am Rande über weibliche Selbst­be­ob­ach­tung, Konkur­renz, Bewun­de­rung, über Frauen am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Sie klauen sich ihre Accesoirs, unbewußt um der anderen näher zu sein, ihr Geheimnis zu teilen. »Schwa­nensee« ist eine Phantasie des 19. Jahr­hun­derts: Mädchen als Schwäne: rein, weiß, flatternd; zugleich darüber, wie die schwarze Seite die Übermacht gewinnt über die andere. Kurz denkt man an The Red Shoes. Das Kunst nur durchs Extrem beglau­bigt wird, ist die These dieses Films. Das würden viele – und wohl zu recht – als bürger­liche Kunst­my­tho­logie abtun. Kunst durch Selbst­zer­störung, Kunst tötet – hat das irgend­etwas zu tun mit den Filmen in Venedig?

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Aronofsky ist ein span­nendes Werk über den Show- und Kunst­be­trieb geglückt, mit ein bisschen – gutem – Kunst­kitsch, und einer Menge Nach­den­kens­wertem. Man fragt sich unwill­kür­lich, inwiefern dies auch als Portrait der Filmszene, nicht nur in Hollywood zu verstehen ist: Der Regisseur (Frank­reich Star Vincent Cassel) als Mani­pu­lator, die Medien, die immerzu Neues und Frisch­fleisch wollen, die Konkur­renz unter den Stars, ihr Ehrgeiz, und der Druck, der sie an den Rand des Nerven­zu­sam­men­bruchs und darüber hinaus treibt. Black Swan ist auch ein Film über die Diszi­pli­nie­rung des Körpers der Stars, über manche bösen Folgen der rigiden Körper­kon­trolle; Mager­sucht, Wasch­zwang, Selbst­ver­let­zung, und über den Narzissmus auf der anderen Seite. Und wenn man Portmans Auftritt hier sieht, wie auch den der etwa eine Dekade älteren Winona Ryder, die einst ein Weltstar ist und heute fast weg vom Fenster, die hier eine alternde Ballerina spielt, die von Portman verdrängt wird, dann fragt man sich unwill­kür­lich, inwiefern dieser Psycho­thriller auch ein Film über Portman und Ryder ist, über Startum in Hollywood.

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Man hat überdies den Eindruck, Natalie Portman sei die Einzige, die in der Lage ist, sich in ihren Rollen als ein Gegen­ent­wurf zu Angelina Jolie zu insze­nieren. Wo Jolie die Unver­wund­bar­keit feiert, (das Wieder­auf­stehen, die Unsterb­lich­keit des Stars) feiert Portman die Verwund­bar­keit, den Tod, die Sterb­lich­keit des Stars. Portman als Kind war trotz allem besser, als als Frau. Je älter sie wird, um so mehr sieht Portman aus, wie ein Ex-Star von der East Coast, der bald einen Wall-Street-Banker heiraten wird.

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Am Dienstag vor dem Festival kam es zum Angriff der Roll­koffer: Die Touristen begannen den Lido, jenen luxu­riösen Sand­strand vor der Lagune, wo ab Mitt­woch­abend das Film­fes­ti­vals von Venedig statt­findet, zu meiden, weil die Preise mit dem Festival plötzlich nicht mehr luxuriös, sondern einfach unver­schämt astro­no­misch wurden. Ein Beispiel: Das schöne Hotel Hungaria, eines der ältesten Lido-Hotels, eröffnet 1907 und von altmo­disch beschei­denem Charme – hier drehte übrigens Mike Figgis seinen tollen, in Deutsch­land bezeich­nen­der­weise nie gezeigten Kanni­ba­len­film HOTEL – verlangt für ein Doppel­zimmer offziell 120 bis 180 Euro pro Nacht. Wer Glück hat, oder gut im Handeln ist (wie wir an den ersten zwei Tagen) bekommt ein besseres Doppel­zimmer aber schon für unter 100 Euro. Während des Festivals ist das Hotel ausver­kauft, und die Zimmer kosten 370 bis 560 Euro pro Nacht!

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Wie fast alle Jour­na­listen wohnen wir hier in einem Miet­a­par­te­ment, das auch viel zu viel kostet, aber immerhin viel weniger als ein Hotel­zimmer. Freie Autoren müssen das privat bezahlen, während Redak­teure vom Festival oft einge­laden werden. Eigent­lich sollte es natürlich umgekehrt sein. Redak­teure sollten ihre Verlage zur Zahlung bitten, freie Autoren, die fast immer für mehr als ein Medium arbeiten, sollten vom Festival gehät­schelt werden.

In der Praxis bleibt so dann für sie aber vom Honorar wenig übrig. Venedig ist also im Unter­schied zu Cannes und Berlin das reine Vergnügen, fast Urlaub. Glaubt man zuhause. De facto ist es natürlich Arbeit, und wir wollen mal zum Auftakt hoffen, das die Filme den ganzen Aufwand lohnen.

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Redak­teure haben es natürlich auch nicht leicht. Das jüngste Beispiel der gras­sie­renden Kanni­ba­li­sie­rung von Film­kritik kommt vom Kölner Dumont-Verlag: Der schafft seine Film-Redak­teurin jeden­falls für die Venedig-Bericht­erstat­tung kurzer­hand ab! Dafür macht man mit Daniel Kothen­schulte, FR-Pauscha­list aus Köln, den Bock zum Gärtner und lässt ihn für beide Zeitungen iden­ti­sche Texte verfassen, die dann womöglich am soge­nannten »Newsdesk« indi­vi­duell ein wenig frisiert werden. Es gibt also noch einen Grund weniger, die FR zu kaufen, weil alles ja auch in der Berliner steht.

Denkt man das Modell zuende, gibt es irgend­wann nur noch eine Zeitung für alle. Das wäre dann totalitär. Und Kothen­schulte als einziger Kritiker Deutsch­lands... dazu sagen wir jetzt mal besser gar nichts.

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Inter­es­sieren würde uns aller­dings, ob der das doppelte Honorar bekommt. Oder sich getraut hat, danach zu fragen.

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In Italien kennt man derglei­chen schon lange, da sind die Verleger schließ­lich bereits Regie­rungs­chefs. Genau: Berlus­coni! In Italien ändern sich die Dinge schnell – und bleiben, wie schon Lampedusa schrieb, dann doch wie sie sind. So erlebt man auch diesmal wieder das renom­mierte Film­fes­tival, immerhin das älteste der Welt, im Umbruch: 2011 feiert man 150 Jahre italie­ni­sche Einigung, und auch das Festival wird nächstes Jahr 68 Jahre alt, da sollte der seit Ewig­keiten geplante neue Festi­val­pa­last fertig werden. Der bisherige ist zwar schick, stammt aber immerhin noch aus den Zeiten des »Duce« Mussolini, und ist marode. Zudem wurde er über die Jahre durch allerlei Behelfs­bauten ergänzt, trotzdem platzt das Festival aus allen Nähten. So fehlt seit Langem der Raum für einen Markt, weshalb die Konkur­renz aus Toronto und San Sebastian mehr und mehr aufschließt. Dem derzei­tigen Leiter, dem ener­gi­schen Schweizer Marco Mueller hatte man zugetraut, sich gegen die italie­ni­sche Büro­kratie und poli­ti­sche Fehden durch­zu­setzen – und tatsäch­lich war im vergan­genen Jahr ein großes Terrain am Lido abge­sperrt und mit hohen Bauzäunen versehen worden. Kehrt man nun ein Jahr später zurück, ist man ernüch­tert: Nichts hat sich getan, noch nicht mal ein Loch wurde gegraben – kaum zu glauben, dass hier bald ein neuer Film­pa­last steht.

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Aus über 20 Filmen aus aller Welt wird die Jury am Ende den Goldenen Löwen und diverse andere Preis­träger küren. Ihr Präsident ist diesmal US-»Kult«Regisseur Quentin Tarantino. Neben inter­na­tio­nalen Stars wie Sofia Coppola und Julien Schnabel ist auch ein Deutscher dabei: Tom Tykwer mit seinem neuen Film DREI. Der läuft aber erst in zehn Tagen, an vorletzter Stelle. Tykwers Löwen­chancen können damit sogar wachsen: Im Vorjahr lief Fatih Akin mit Soul Kitchen nur einen Tag früher, und gewann am Ende den Regie­preis, und vor zwei Jahren lief Aronof­skys Wrestler an gleicher Stelle. Das Ergebnis ist bekannt.

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Ein Film, wie ein Alptraum. Auch ein Film mit einem Wahn­sinns­an­fang: Kinder­la­chen aus dem Off, zwei Clowns spielen im Zirkus, man hört Bomben aus der Ferne, die Clowns spielen weiter, und ihnen gelingt es so abzu­lenken vom Schrecken, und schnell ist klar, das wir uns irgendwo inmitten des Spani­schen Bürger­kriegs befinden, auf Seiten der Repu­bli­kaner. Ein Offizier besetzt die Zirkus­räume, zwangs­ver­pflichtet Artisten und Clowns als Mitkämpfer gegen den bevor­ste­henden Sturm­an­griff der Faschisten. Nur der traurige Clown will sich verwei­gern, ohne Erfolg, aber der Offizier vermerkt aner­ken­nend: »Me gusta tu amigo. Tiene Cojones!«.

Um cojones, um Hoden und Männ­lich­keit wird es viel gehen in den folgenden zwei Stunden. Zunächst sieht man noch einen Jungen, den Sohn des Clowns, und mit ihm einen großen Löwen, dein irgendwie aus der Zeit heraus­ge­ris­senes Bild, eindrück­lich und voller Symbol­kraft, ohne das man genau sagen könnte, was da jetzt symbo­li­siert wird. Dann erst beginnt der rasante Vorspann von Alex de la Iglesias neuem Film Balada triste de trompeta: Leuch­tendrot und tief­schwarz sind Schrift wie Hinter­grund; in schneller Abfolge sieht man davor Portrait­bilder von Francisco Franco, erst jung, dann in Uniform und als Putschis­ten­ge­neral, daneben sieht man eine weinende Madonna, Christus, Francos Adler, das päpst­liche Kreuz, spät­mit­tel­al­ter­liche Bild­aus­schnitte, die vom Bosch und Breugel sein könnten, Franco mit Hitler, Strand­schön­heiten der 60er...

Dann ist der Film zurück im Zirkus, der gerade ange­griffen wird. Der Clown kämpft mit Machete – eine hübsche Erin­ne­rung an Roberto Rodriguez Machete, der hier vor einer Woche lief – radiert ein ganzes Regiment aus, des fließen überhaupt Unmrengen von Blut bei diesem gegen­sei­tigen Abschlachten. Dann ist der Krieg vorbei mit dem Sieg der Fran­quisten. Auf den Fahnen steht »Arriba Espana!«, der Clown endet im Lager und muss im Valle de los Caidos, im »Tal der Gefal­lenen« am Ehrenmal für Francos Sieg schuften, wie unzählige andere. Dem Sohn, der Clown werden will, wie alle in der Familie hat er vor dem Abtrans­port noch auf den Weg mitge­geben, er müsse ein trauriger Clown werden. Und dann »Ease your pain with revenge.« Das wird der Sohn, Javier, wörtlich nehmen, und viele Fran­quisten töten, beim Versuch den Vater zu befreien. Auch der stirbt, dann endet dieser zweite Auftakt mit einem weiteren Zwischen­clip, tollen schwarz­weißen Werbe­spots des Fran­qu­ismus in den 60er Jahren, Fern­seh­ver­gnügen, und Show­be­trieb. Dann erst ist der Film da, wo er hin muss, im Madrid des Jahres 1973. Ein Zirkus, und Javier heuert hier an, ein kleiner häss­li­cher Dicker, der knapp 40 ist, und den traurigen Clown spielt.

Wie Irre im Kino ist auch Zirkus im Kino doof, auch bei Fellini, norma­ler­weise zumindest. Hier nicht. Hier geht es aller­dings auch kaum um den Zirkus. Es geht um den traurigen Clown, der sich in die schöne Artistin verliebt, ein bisschen wie in Les enfants du paradis, und wie sie in der aller­ersten Szene, wenn sie sich treffen, auf ihn zustürzt, dann spiegelt das, wie sie am Ende sterben wird.

Diese Liebe wird erwidert, kann aber nicht glücklich sein, nicht nur, weil da Sergio ist, der andere Clown, sondern auch, weil Javier selbst zuviel Angst und Bitternis in sich trägt. Es beginnt ein Zweikampf, bei dem alle aufs Äußerste verwundet und verun­stal­tetet werden, in dem die Figuren zugleich durch das Horror­ka­bi­nett der Geschichte reisen, eine Höllen­fahrt mit Bildern wie von Bosch, Breugel und Goya. Ein Zweikampf bei dem Javier irgend­wann nackt im Wald landet, in einer Höhle lebt wie Kaspar Hauser, dann gefunden wird, von einem Fran­quis­ten­ge­neral, bei dem er ein Leben als Hund führt. er wird auch da ausbre­chen, als »a bloody rocker« sich den Weg frei­schießen zur schönen Arztistin Natalia. Er wird Zeuge des Carrero-Blanco-Attentats von 1973, und er wird Sergio wieder­treffen.

Am Ende treffen die Schöne und die Bestien alle zusammen, zum Showdown auf dem Kreuz des Valle de los Caidos. Ein wenig erinnert das sogar an Hitch­cocks North by Northwest, nur das es bitterer ist, und die Frau, das Objekt, am Ende stirbt, während die mit Cojones überleben.

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Iglesia (Acción Mutante, Perdita Durango) ist hier etwas wirklich Neues und Anderes geglückt, ein Film, wie ein Alptraum, ein katho­li­scher Exor­zismus, der sich am Teufel Franco abar­beitet und seinen Spuren in Spaniens Gesell­schaft bis heute. Man kann sich am ehesten das als seriösere und spanische Variante von »Inglou­rious Basterds« vorstellen, oder auch als einen Film, wie ihn ein Bunuel heut­zu­tage drehen würde.

Balada triste de trompeta ist schrill, burlesk, grotesk, ein »genial fucking shit«, ich habe ihn nicht verstanden, aber er hat mir sehr sehr gut gefallen. Der Film ist unter­haltsam und doch todernst, katho­li­scher Splatter, expres­sives Blut-und-Hoden-Kino, »seine beste Arbeit« meint Markus aus Wien spontan, und man kann ihm da nur zustimmen, ansonsten lässt sich dies gar nicht beschreiben, man muss es sehen.
Filmi­scher Expres­sio­nismus, und das wird Tarantino mögen, darum kann man wetten, dass dieser starke, konse­quente Film aus einem Guß einen Preis bekommt, warum nicht sogar den Goldenen Löwen?