27.05.2010
63. Filmfestspiele Cannes

Von Göttern, Menschen, Palmen und Geheimnissen aus Jurykreisen

Schnellschüsse sind was für die Tageszeitungen

»Dies ist ein Typ Kino, das ich normalerweise nicht angucke – und genau darum geht es in Cannes.« – eine erste, vorläufige Bilanz vom Filmfestival in Cannes

»Eine erste, vorläufige Bilanz« wird dieser Text genannt. Warum? Ganz einfach: Cannes, das Mekka des Weltkinos, ist zwar vorbei. Aber es ist auch unglaublich reichhaltig. Man sieht dort so viel, dass es schwer innerhalb von zwei Tagen nach der Preisverleihung alles verarbeitet und angemessen beschrieben ist. Und da wir Schnellschüsse lieber den Tageszeitungen überlassen, aber gerne auch aktuell sein wollen und unseren Lesern angemessenen Service bieten möchten, hier jetzt eine knapp gehaltene allgemeine Cannes-Bilanz. Und nächste Woche dann noch eine ausführlicherer Rückblick auf das Festival: Mit Anekdoten und Details, Nicolette Krebitz und Atom Egoyan, Jean-Luc Godard und Oliver Stone, Rumänen und Dänen, französischen Prinzessinnen und Ziegen aus Italien. Versprochen! Schauen Sie wieder rein!!

Gefasst und kühl war Juliette Binoche nur äußerlich. Ihre flammende, auch für Cannes-Verhältnisse überaus lange Dankesrede spiegelte aber, was in ihrem Herzen vor sich ging: Wut und Trauer über die Verhältnisse im Iran, vor allem aber über die Unterdrückung der Kunst. Gerade hatte die Binoche, eine der Großen des französischen Kinos, aber doch nach wie vor immer ein wenig im Schatten einer Catherine Deneuve, einer Jeanne Moreau und einer Isabelle Huppert stehend, den Preis für die beste Darstellerin beim Filmfestival von Cannes überreicht bekommen – für den Film Copie conforme des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami, – da hielt sie ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst und den kurzfristig verhafteten, derzeit unter Hausarrest stehenden, vom Mullah-Regime bedrohten Regisseurs Jafar Panahi. Panahi sollte ursprünglich Mitglied der internationalen Jury sein, ihm wurde dann aber die Ausreise aus dem Iran verboten.

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Die Verbindung von Poesie und Politik vereint auch jene Filme, die am Sonntagabend zum Abschluss der Filmfestspiele in Cannes die wichtigsten Preise überreicht bekamen: Of Gods and Men vom Franzosen Xavier Beauvois (Grand Prix der Jury) und vor allem Uncle Boonmeem who can recall his past lives vom Thailänder mit dem nur auf den ersten Blick unaussprechlichen Namen Apichatpong Weerasethakul, der die Goldene Palme gewann.

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Juryenthüllungen. Man hatte der Jury um Präsident Tim Burton vorab nicht allzuviel zugetraut. Sie erschien, ähnlich wie das Programm, vergleichsweise schwach für Cannes-Verhältnisse: Nur vier Regisseure von neun – es gab schon Jurys mit sechs – und dann mit Victor Erice und Emmanuel Carrère und selbst Shekhar Kappur eher unbedeutende, vergleichweise schwache Filmemacher. Zudem kein einziger Ostasiate in der Jury. Giovanna Mezzogiorno werde dagegen bestimmt etwas für Italien tun, hieß des, Benicio del Toro werde seinen Kumpel Inárritu unterstützen. Vielleicht haben sie auch genau das getan: Am Ende gab es einen Preis für den Hauptdarsteller des wohl schwächsten Wettbewerbsfilms, für La nostra vita von Daniele Luchetti. Und einen für Javier Bardem als Hauptdarsteller von Biutiful. Aber das waren eben geteilte Preise, und zum Italiener ist zudem zu sagen, das sich nach der Verleihung sofort hartnäckig das Gerücht hielt, er habe den Preis nur in allerallerletzter Minute bekommen, um Bardem zu bestrafen: Dessen Preis hatte sich nämlich schon am frühen Sonntagnachmittag allgemein herumgesprochen, weil ihn die spanische Zeitung El Pais auf ihrer Internetseite gemeldet hatte. Offenbar hatte Bardem seiner Mutter davon erzählt, und die wiederum einem Journalisten – »wie blöd kann man eigentlich sein...« war der allgemeine Tenor.

Später war aus wie man so sagt »gut informierten Kreisen« der Jury noch einiges mehr zu erfahren: Hauptunterstützer für Weerasethakul waren offenbar Alberto Barbera, der ehemalige Festivalleiter von Venedig, und Victor Erice. Burton und Del Toro schlugen sich auf ihre Seite, etwas später dann auch Giovanna Mezzogiorno.

Wer Lust hat, sich die Pressekonferenz der Jury anzuschauen, kann das hier online tun: Ganz offensichtlich ist dort Kappur ein passionierter Unterstützer des thailändischen Films. Insgesamt ist er derjenige, der mit Anstand die sinnvollsten und interessantesten Dinge sagt. Ebenso offensichtlich war es keine einfache Entscheidung: Kate Beckinsale erwähnt ganz am Ende die »incredibly long debate.« Anfangs will da erst keiner über den Film reden. Am Ende tut es zunächst del Toro. Burton, der zugibt nichts von Weerasethakul zu kennen, und lobt, es sei kein »westernized« Kino. »Dies ist ein Typ Kino, das ich normalerweise nicht angucke – und genau darum geht es in Cannes.«

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Die Italiener fragen dort erwartungsgemäß nach dem Preis für den Italiener. Manches bleibt also einfach beim Alten.

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Eine oberflächliche Lesart der Preise mag den Verdacht nahelegen, hier habe die Jury vor allem politisch Bedeutsames prämiert: schließlich kommt der Sieger aus Thailand, von woher derzeit täglich neue Meldungen über blutige Straßenkämpfe Europa erreichen, Weerasethakul ist dort ein bekannter Oppositioneller, und es ist keineswegs sicher, ob er so bald gefahrlos in seine Heimat zurückkehren kann. Zudem gibt es in Uncle Boonmeem... einen Erzählstrang der die Rolle des immer wieder putschenden Militärs kritisiert. Xavier Beauvois's Film handelt direkt von einem Konflikt zwischen Christen und Muslims – ist also auch politisch überaus aktuell.

Aber das ist nur die Oberfläche: Wenn man in den vergangenen 12 Tagen die 21 Filme des Wettbewerbs und anderes außer Konkurrenz oder in den Nebensektionen verfolgte, muss man zugeben: Es sind genau diese beiden Filme, so verschieden sie auch sind, die die beiden wichtigsten Säulen des Weltkinos – Sensibiltät und Engagement, Eigensinn und Offenheit, Konsequenz und Erfahrung, oder wenn man so will: Ästhetik und Politik – am allerbesten und am subtilsten verknüpften.

Demgegenüber waren andere Werke wie Alessandro Gonzalez Inárritus überhitzter Biutiful und Mike Leighs, in den Kritikerspiegeln favorisierter Another Year unbedeutend und didaktisch. Trotzdem war der Preis für Weerasethul eine Überraschung für viele, auch für die Fans des Thailänders.

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Er war einmal ein Fisch... Es sage keiner, er habe diesen Film verstanden: Worum es geht? Um Seelenwanderung und Reinkarnation, und man muss kein Spiritualitätsskeptiker sein, um das für einen unverfilmbaren Kinostoff zu halten. Die Handlung im Groben: Der Onkel Boonmee des Titels wird bald sterben, reist zuvor mit seinen Angehörigen noch einmal in die Natur des thailändischen Dschungels und erinnert sich an seine vergangenen Leben. Er war einmal ein Fisch, ein Wasserbüffel, es geht um Magie, um Animismus, um die Aufhebung der Grenze zwischen Geist und Natur. Für – unfreiwilliges? – Gelächter sorgten regelmäßig auftauchende zottelige Waldgeister, die aussahen wie King Kong in Menschengröße. Aber Thai-Soldaten kommen auch vor, buddhistische Mönche, Bilder aus Abu Ghraib – Kino als Bewusstseinsstrom, aber weil es aus dem fernen Osten kommt, kann man darüber nicht so produktiv streiten, wie über den neuen Godard und sein Manifestkino, stattdessen dominiert Bedeutungsverdacht die Reaktionen der europäischen Kritiker, die dann andächtige Sätze schreiben, wie dass sich dieses Kino »jeder einfachen Deutung entzieht«. Was natürlich stimmt, aber doch auch für Godard gilt, dem man dann aber lieber jene Unverständlichkeit vorhält, die man bei Weerasethakul für putzige Fernöstlichkeit hält, oder für den Beweis von Tiefe.

Wobei die Unverständlichkeit Godards übrigens ungleich geringer ist.

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Entscheidend ist aber vielleicht gar nicht, was wir bei Weerasethakul sehen, sondern wie: Man hört die Grillen zirpen und andere Dschungelgeräusche, meist herrscht Zwielicht, und die Einstellungen sind lang. Man sollte und darf es hier zugeben: Nicht wenige professionelle Festivalbesucher fielen während der Pressevorstellungen am Abend des neunten Tags des Wettbewerbs erschöpft in einen mehr oder weniger verdienten Schlaf. Aber alles wirkt sowieso fast wie eine Kunstinstallation und seit jeher macht Weerasethakul, der Liebling einer sehr bestimmten Kunstszene in Europa, auch Kunst fürs Museum. Dort scheinen seine Filme manchmal eher hinzugehören, als ins Kino. Aber Kino ist am Ende eben doch alles, was auf einer Leinwand läuft, und so nutzt der Preis für Weerasethakul dem Kino als Ganzem: Ein Symbol für seine Freiheit, dafür, dass Kunst dazu da ist, ihre Grenzen auszuloten und manchmal zu überschreiten.

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Ist das nun ein Zeichen für die Krise des Kinos, oder gerade eins für seine Lebendigkeit? Werden, wo alles zu wanken scheint, und man bei Akropolis als erstes an Apokalypse denkt, auch die Filme verrückt? Oder gelingt es eher dem Kino gerade in Krisenzeiten dem Alltag Impulse zu geben? Weerasethakuls Kunst der Geduld und des genauen Hinschauens muss man so verstehen. Und auch Xavier Beauvois' Of Gods and Men: Der erzählt von einem kleinen katholischen Mönchskloster in Algerien. Die Mönche sind nur neun und meist alt. Sie kümmern sich um die Dorfbewohner und bekommen Ärger mit den islamischen Fundamentalisten – denen sie andererseits sonderbar nahe stehen. Dass der Film auf einer wahren Geschichte beruht, tut nichts zur Sache, wichtig ist, wie sensibel und vielschichtig der Regisseur vom Glück und der Liebe erzählt, vom Glauben und einem Martyrium – denn das alles nicht gut ausgehen kann, ist den Mönchen und dem Publikum früh klar. Die zwei Hauptpreise gab es also für Filme, die spirituelle Erfahrungen ins Zentrum rücken. Ist das die These des Weltkinos zur aktuellen Krise? Können nur Götter uns noch retten? Oder sind derartige Gedanken eher die kurzfristige Folge eines zwölftägigen Kinomarathons, der einem schon einmal die Bodenhaftung nehmen kann?

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»Cannes is the best festival in the world, but it could be better« sagt der argentinische Regisseur Lisandro Alonso. So ist es. Es war ein überaus merkwürdiges Jahr in Cannes: Lange nicht hatte man bezüglich der Preise derart im Dunkeln getappt. Noch nie war ein Cannes-Wettbewerb so ohne Richtung geblieben, und dabei auch ohne echte Überraschungen, ohne Provokationen. Auch die sonst so starke Nebenreihe Quinzaine schwächelte. Trotzdem sah man viele starke Filme – nur war die Spannbreite viel geringer und ein negatives Erlebnis häufiger als sonst bei diesem wichtigsten Festival der Welt.

Rüdiger Suchsland

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