26.03.2009
Cinema Moralia – Folge 18

»Unser Slum gehört uns!«

SLUMDOG MILLIONAIRE
Authentisch oder Macht der Fiktion?
(Foto: Prokino Filmverleih GmbH / Studiocanal GmbH)

Was der Kulturkampf um den indisch-britischen Oscar-Triumph Slumdog Millionaire über die Intellektuellen erzählt und über Kunst unter den Bedingungen der globalisierten Kultur

Von Rüdiger Suchsland

Frage: Was ist Slumdog Million­aire eigent­lich für ein Film?
Antwort A: Ein indischer Film
Antwort B: Ein briti­scher Film
Antwort C: Ein Hollywood-Film
Antwort D: Von allem ein bisschen.

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Natürlich ist Slumdog Million­aire irgendwie britisch, denn Regisseur Danny Boyle ist Engländer, genau so wie der Dreh­buch­autor. Aber Vikas Swarup, der Autor der Roman­vor­lage »Rupien! Rupien!« (auf deutsch bei KiWi), ist Inder, sein Held ist ein indischer Junge, die Schau­spieler sind auch sämtlich Inder, manche Laien aus den Slums, andere berühmte Bolly­wood­stars. Und A. R. Rahman, der vor vier Wochen gleich doppelt den Oscar gewann – für den besten Song und die beste Filmmusik – ist auch Inder. Verleih und Produk­tion wiederum sind ameri­ka­nisch, sogar – oh je, oh je – aus Hollywood! Dem Ort des Teufels in der Stadt der Engel!! Und nun? Was folgt daraus? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass manche die Globa­li­sie­rung immer noch nicht verstanden haben.

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Vorletzten Samstag fiel uns beim Frühstück fast wie dem Bier­bichler in Deutsch­land 09 (ab dieser Woche in den Kinos) die Kaffee­tasse aus der Hand. Nein, es war keine Film­kritik in einer süddeut­schen Tages­zei­tung, sondern ein Text von Salman Rushdie in der FAZ. Salman Rushdie, genau! Man spricht ihn übrigens, das haben wir jetzt ein für allemal gelernt (aufrich­tigen Dank an Karin Fischer!), man spricht ihn »Ruschdi« und nicht »Raschdi« aus. Dieser Rushdie also schrieb einen ganz schön langen Text, in dem er sich auf einer ganzen Doppel­seite über Slumdog Million­aire im Beson­deren und Lite­ra­tur­ver­fil­mungen im Allge­meinen ereiferte. Von »neoko­lo­nialem Kitsch« war da zu lesen, »touris­ti­schen Bildern« und schon die Über­schrift des Textes enthielt das Fazit: »Slumdog Million­aire ist zum Davon­laufen«.

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Erinnert sich noch jemand an den Streit um Schind­lers Liste? Als Steven Spiel­bergs, mit allen Kunst­griffen Holly­woods insze­niertes Drama über die Shoa und den deutschen Juden­retter Schindler 1994 ins Kino kam, reagierten viele deutsche Intel­lek­tu­elle gekränkt – nicht nur, weil sie selbst fast 50 Jahre lang nicht gewusst hatten oder wissen wollten, wer Oskar Schindler war. Sondern vor allem, weil plötzlich ihr Allein­ver­tre­tungs­an­spruch in Frage stand. Darf ein Ameri­kaner einfach kommen und uns unseren Holocaust wegnehmen?
Eine ähnliche Polemik gab es schon zehn Jahre zuvor von Seiten tsche­chi­scher Emigranten und in der CSSR verblie­bener Dissi­denten, als Philip Kaufmann Milan Kunderas Die uner­träg­liche Leich­tig­keit des Seins verfilmt hatte – das gehe ja wohl nicht, hieß es, wie könne einer schon den »Prager Frühling« verstehen, der nicht dabei gewesen ist? Und eine Französin wie Juliette Binoche könne doch wohl nicht einfach ein tsche­chi­sches Mädchen spielen…

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An derartige kultur­na­tio­na­lis­ti­sche Attacken fühlt man sich jetzt erinnert, wenn man liest, was Rushdie über Slumdog Million­aire denkt. Wir zitieren: »Wer ansehen muss, dass die Geschichte seiner Heimat­stadt auf so komisch absurde, knallige Weise erzählt wird, kann sich nur ärgern.« Mal davon abgesehen, dass der Film keines­wegs »die Geschichte« Bombays erzählt: Ausge­rechnet Rushdie, der aus Indien stammende, inzwi­schen auch schon über 60-jährige, seit fast 50 Jahren nahezu unun­ter­bro­chen in London lebende Schrift­steller, klagt über eine falsche Darstel­lung der Stadt, die er kaum noch kennt, die zur Zeit seines Wegzuges etwa 4 Millionen Einwohner hatte, heute über 13 Millionen. Ein bisschen albern, oder?
Ausge­rechnet Rushdie möchte man sagen, ausge­rechnet er müsste es eigent­lich besser wissen. 20 Jahre ist es her, seit er mit der Todes­dro­hung des Ayatollah Khomeini leben muss. Der und andere isla­mis­ti­sche Fanatiker warfen ihm seiner­zeit vor, das Bild der isla­mi­schen Religion zu verzerren. Ist Rushdie so blind, dass er die Ähnlich­keiten zwischen seiner Argu­men­ta­tion und der der Fanatiker nicht bemerkt?
Man könnte jetzt den Film vertei­digen und versuchen, Rushdie nach­zu­weisen, wo er sich irrt; man könnte auch zeigen, dass der berühmte Mann ganz offen­sicht­lich nur ein trauriges Vers­tändnis des Wesens von Lite­ra­tur­ver­fil­mungen hat, wie sich auch daran zeigt, dass er sich höchst umständ­lich um den Nachweis bemüht, dass ausge­rechnet auch Robert Altmans Short Cuts eine miss­ra­tene Lite­ra­tur­vor­stel­lung sei, die ihr Vorbild verrät.
Inter­es­santer aber ist die grund­sätz­liche Haltung, für die Rushdies Attacke nur ein promi­nentes Beispiel bildet. Schon nach der Oscar-Verlei­hung hatte die links­al­ter­na­tive Berliner »Taz« gegen die »global verein­heit­lichte Ästhetik« des Films gelästert – als dürfe sich ein Film, weil er aus Indien kommt und von Indien erzählt, ja nicht allzu sehr den Sehge­wohn­heiten des west­li­chen Publikums anpassen.
Oder als würde das den Indern etwas wegnehmen? Das tut es bestimmt nicht, im Gegenteil sind indische Bollywood-Filme – übrigens die größte Film­in­dus­trie der Welt, viel größer als Hollywood – heute gerade beim jüngeren Publikum west­li­cher Metro­polen überaus angesagt.

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Es sind die altbe­kannten Fetische der Post­mo­derne, die hier noch einmal aufge­kocht werden. Sie heißen Identität und Authen­ti­zität. In der Post­mo­derne, inzwi­schen auch eher 30 als 20 Jahre alt, hatte alles »mit sich identisch« zu werden, und alles musste »authen­tisch« sein. Das hatte damals seine guten Gründe: Die Post­mo­derne wollte dem »Anderen«, dem »Unter­drückten« eine Stimme geben, darum hatten alle übrigen erstmal zu schweigen. Es galt: Wer nicht selbst betroffen ist, durfte nichts sagen: Weiße können nicht über Schwarze schreiben, Heteros nicht über Schwule und Männer nicht über Frauen.
Nach dieser Logik kann ein Film gar nicht authen­tisch und glaub­würdig sein, den ein Engländer über Indien dreht, mögen auch noch so viele Inder mitspielen, mag es auch eine indische Geschichte sein. Aber dies ist alles eine rein poli­ti­sche Logik, die auf die Kunst, auch zu Hoch­zeiten der Post­mo­derne kaum gepasst hat. Ihre Ursache ist ein verengtes Vers­tändnis von Identität, das diese nur als homogene, geschlos­sene begreifen kann, nicht als heterogen und offen. Nach ihr kann man nicht mehrere Iden­ti­täten zugleich haben, und – zum Beispiel – als wohl­ha­bender Engländer indische Slum­kinder verstehen.
Als Vers­tändnis von Kunst ist das aber sowieso nur borniert. Dort waren die Iden­ti­täten noch nie so homogen, wie das jetzt von manchen einge­for­dert wird. Unter den Bedin­gungen einer globa­li­sierten Kultur hat im Gegenteil jeder das Recht, auch über Fremdes Filme zu drehen, oder Bücher zu schreiben, ohne Vorschriften der Political Correct­ness beachten zu müssen. Genau­ge­nommen hatte jeder dieses Recht schon immer. Charles Dickens und Emile Zola haben zum Beispiel im 19. Jahr­hun­dert über das Lumpen­pro­le­ta­riat ihrer Zeit geschrieben. War das auch Voyeu­rismus oder Slum­tou­rismus? Und ging es etwa in Mozarts Oper über die »Entfüh­rung aus dem Serail« um doku­men­ta­ri­sche Korrekt­heit?

Wie diese Klassiker, oder zuletzt der britisch-indische Booker Prize-Gewinner Aravind Adiga, dessen Indien-Roman »Der weiße Tiger« ähnliche Vorwürfe gemacht werden, belegt auch Danny Boyles Film die Macht der Fiktion.
In der Kunst ist Authen­ti­zität immer eine Frage der Phantasie. Und Globa­li­sie­rung bedeutet in ihr Vermi­schen, bedeutet, dass keiner mehr ein allei­niges Recht auf ein kultu­relles Erbe hat. Auch nicht Salman Rushdie.

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Rushdies Text ist eher typisch für die Haltung eines – post­mo­dern geprägten, nicht mehr ganz jungen – west­li­chen Kultur­es­tab­lish­ments, das hinter der Maske der »Identität« einen recht altba­ckenen Natio­na­lismus pflegt. Rushdie entlarvt sich selbst als ein typischer Vertreter eines Intel­lek­tu­ellen-Jet-Set, der in irgend­einem Luxus­apart­ment einer Weltstadt plötzlich seine Wurzeln entdeckt und das Ursprüng­liche im Land seiner Herkunft vertei­digt. Eine typische Sehnsucht nach Härte und Schwere, nach Einfach­heit und Volksnähe. Dafür werden dann Verbots­ta­feln aufge­stellt.
Dass er damit nebenbei sein eigenes Monopol auf Indi­en­deu­tung sichert – honi soit qui mal y pense. Ausge­rechnet Rushdie.

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Ich war dabei. Ein bisschen erinnert uns das auch daran, wie seiner­zeit Großvater vom Krieg erzählte. Das könne wirklich nur einer beur­teilen der es selbst erlebt habe – wir waren ganz froh, dass wir nicht dabei gewesen sind, und lesen, was den Zweiten Weltkrieg angeht, lieber die Romane von Günther Grass, W.G.Sebald oder im vergan­genen Jahr von Jonathan Littel.

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Was aus Rushdies übrigen Ausfüh­rungen über Lite­ra­tur­ver­fil­mungen klar wird: Rushdie misstraut dem Kino, weil er die Macht der Fiktion fürchtet. Offenbar, weil Bilder unkon­trol­lierbar sind. Was der tiefere Sinn des Voyeu­ris­mus­vor­wurfs ist: Die Beun­ru­hi­gung gegenüber diesem Grundzug von Schaulust, der das Kino prägt. Wie voyeu­ris­tisch ist die Kunst? Auch das ist eine Frage, die man einmal disku­tieren müsste.

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Chronik. Am Montag, 30. März findet um 19 Uhr im Deutschen Film­mu­seum in Frankfurt ein Film­ge­spräch zwischen Tom Tykwer und Ulrich Sonnen­schein statt. Wegen des großen Inter­esses sind zwar derzeit keine Tickets mehr erhält­lich, am kommenden Samstag kommt aber nochmals ein Rest­kon­tin­gent von Tickets in den Vorver­kauf (Reser­vie­rung ab 14 Uhr unter 069-961 220 220). Das Film­ge­spräch mit Tom Tykwer wird auch ins Kinofoyer über­tragen und kann dort gesehen werden. Die im Muse­ums­kino geführten Gespräche sind bisher im Sonder­heft »Was tut sich – im deutschen Film?« von epd Film veröf­fent­licht worden, das an der Muse­ums­kasse (4,90 Euro), über den Online-Shop auf www.deutsches-film­mu­seum.de erhält­lich ist.

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»Saudumm«. So hieß ein Wort, das neulich der von uns immer aufs Neue sehr geschätzte Claudius Seidl über einen Kurzfilm der Kurz­film­kom­pi­la­tion »Deutsch­land 09« geschrieben hat. Man muss inhalt­lich nicht mit Seidl über­ein­stimmen, um den Text toll geschrieben zu finden. Aber richtig lieben muss man Seidl für dieses eine Wort, dafür dass er es in einen Text einer ganz seriösen Zeitung einge­bunden und diese eben dadurch noch seriöser gemacht hat. Dieses Wort, das eben manchmal in einer Film­kritik sehr wohl etwas zu suchen hat. Und das eben auch mal direkt auf eine Person gemünzt gehört, wenn die betref­fende Person – ein Filme­ma­cher, oder auch ein Kritiker – sich halt so verhält, das es keine tref­fen­dere Bezeich­nung. Genauso wie man jemanden auch mal als Jakobiner (für uns ein Kompli­ment!), Sans­cu­lotte (kein Kompli­ment) oder als Westen­ta­schen­go­dard (auch keins) bezeichnen kann. Finden wir jeden­falls, zugegeben im Gegensatz zu manch anderen. Aber wer anständig bewundern darf – und das dürfen und wollen Film­kri­tiker ja, wie alle Liebhaber – der darf auch verab­scheuen. Saudumm, wer nicht kapiert, das Film­kritik manchmal was mit Leiden­schaft zu tun hat.

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TORPEDO im Kino. Ein Mädchen in Berlin, einsam zwischen Schule, Freunden, Tanten, und allen möglichen Versuchen, sich anzu­passen, frei zu sein, das Leben einfach zu leben. Dieses Debüt von Helene Hegemann ist, wie der Titel schon nahelegt, schnell und erstaun­lich konse­quent erzählt, trotzdem mit viel Lust daran, einfach mal hinzu­gu­cken oder kurz irgendwo zu verweilen. Wunderbar ist auch Hegemanns Umgang mit Musik. Vor allem aber ist Torpedo sehr originell und bei all seinem absurden Witz im Kern ganz ernst und oft traurig. Aus jugend­li­cher Perspek­tive wirft der Film einen irri­tierten Blick auf die Welt der Erwach­senen, und deckt auf, an was wir uns gewöhnt haben.
Das gilt auch fürs deutsche Kino, das hier mal so en passent einen Gegen­ent­wurf präsen­tiert bekommt, wie deutsche Filme sein könnten, ohne Förder­re­fe­renten, denen so etwas viel zu viel »Kunst« ist, vor allem ohne die Eingriffe von TV-Redak­teuren, die die Filme mit Erklärungs­zwängen und »Warum?«-Fragen zupflas­tern, bis sie alle Freiheit und alles Leben ausge­haucht haben. Ohne all das könnte das deutsche Kino witzig sein, flott, geist­reich. Torpedo zeigt, wie etwas kurz­weilig ist, ohne flach zu sein. Zu viele haben das vergessen. Diese 40 Minuten wiegen schwerer als ganze Lebens­werke von Lang­wei­lern.

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Leider läuft Torpedo jetzt erstmal nur in Berlin. Es muss schreck­lich sein, fern von Berlin, weit weg von den Wunder­kin­dern der Stunde. Dachten wir bei einer anderen Lektüre, als endlich auch München Helene Hegemann entdeckte. Oder so was. Hier, lieber Tobi, ist schon mal der Name des nächsten Wunder­kinds: Nora von Wald­stetten. Es dauert nicht mehr lang, da wird sie in jedem zweiten deutschen Film spielen, wetten? Bald mehr an diesem Ort. Wir sehen uns. Grüße von der Hippness-Queen.

Rüdiger Suchsland

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.