06.02.2009
59. Berlinale 2009

Scheitern als Chance

The International
Eröffnung:
The International von Tom Tykwer
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland)

Zur Pressekonferenz der Internationalen Jury der 59. Berlinale

Von Thomas Willmann

»Keine Erwar­tungen,« das sei die beste Voraus­set­zung für eine Jury, aber auch für einen Kino­zu­schauer generell, sagt Jury­prä­si­dentin Tilda Swinton auf der Pres­se­kon­fe­renz. Aber es ist ein bisschen schwierig, erwar­tungslos an dieses Jahr ranzu­gehen. Wegen: DER KRISE. Einmal hat sich die Berlinale ihr wahres Thema nicht gewählt, es hat sie eingeholt. Und zwar mit Macht. Es wird wohl oder übel die Folie sein, die sich über alles legt, sich unter alles schiebt. Und das geht los, bevor die Berlinale richtig begonnen hat.
Noch wurde kein einziger Film gezeigt, aber schon ist man bei den ganz großen Themen. DIE KRISE sowieso, aber auch der Welt­hunger, die Situation in Afrika, Fragen nach dem Verhältnis von Leben und Film, nach Demo­kratie und Kunst. Die Berlinale hat sich in den letzten Jahren gern geschmückt mit dem Spagat zwischen Boulevard-Glamour und Leit­ar­tikel-Relevanz. Jetzt wirkt es, zumindest in diesen ersten Stunden des verbalen Vorge­plän­kels, so, als könnte es nach langer Zeit mit letztere wieder einmal ernst werden.

Die Jury dafür stünde zumindest, dies der bestim­mende Eindruck nach der Pres­se­kon­fe­renz, zur Verfügung: Das wirkt fast mehr wie ein Panel von Akti­visten, was da versam­melt ist – nur ausge­rechnet das eine Mitglied, das kalku­liert für diese Rolle besetzt wurde, die Hillary Clinton-artige »Food Akti­vistin« Alice Walters, macht etwas den Eindruck von routi­nierter, profes­sio­neller Betrof­fen­heit. Und Isabelle Coixet, als Regis­seurin eher Fachfrau für das Private, kommt nicht so recht zum Zug, so wie hier die Sätze von großer Tragweite herum­schwirren.
Denn Swinton, Henning Mankell, der afri­ka­ni­sche Regisseur Gaston Kaboré brennen offen­sicht­lich für ihre Anliegen. Und was könnte eine deut­li­chere Verkör­pe­rung (im wahrsten Sinne) der möglichen Dring­lich­keit von Film sein als die Anwe­sen­heit von Christoph Schlin­gen­sief in dieser Reihe: Der Mann wurde ja nun auf denkbar dras­tischste Weise konfron­tiert mit der Frage nach den Prio­ri­täten im Leben. Und dass er es seine Lebens­zeit wert findet, sich nun andert­halb Wochen täglich drei Berlinale-Wett­be­werbs­filme zu Gemüte zu führen, ist allemal ein Zeichen.

Schlin­gen­sief mildert zumindest auch die Befürch­tungen, dieses Festival könnte nun zum Siegeszug der Themen-Filme werden: Auf den 1000. Gutmen­schen­film mit Botschaft habe er keinen Bock, sagt er, und wie bei allen seinen Aussagen ist zu hören, wie das Brennen in ihm, das Sprudeln der Ideen, Begeis­te­rungen, Über­zeu­gungen und der Mittei­lungs­drang sich nicht gewöhnt haben, sich nicht gewöhnen wollen daran, dass ihnen nur noch der Atem eines Lungen­flü­gels als Treib­stoff zur Verfügung steht.
Schlin­gen­sief wünscht sich nicht Botschaften, die brav präsen­tiert werden und die dann alle brav abnicken können, Schlin­ge­sief wünscht sich neue, junge, andere Ästhe­tiken, die von irgend­woher auf der Welt auftau­chen und uns über­ra­schen, über­wäl­tigen können. Und genau das war ja der Knack­punkt des Berlinale-Wett­be­werbs der letzten Jahre: Dass er sich, wo er künst­le­ri­sche oder poli­ti­sche Relevanz heischen wollte, diese fast ausschließ­lich übers Inhalt­liche defi­nierte.

Noch etwas gibt einem die Hoffnung, dass diese Jury nicht einfach nur ein Thema statt eines Films auszeichnen könnte, dass sie sich nicht zum Fürspre­cher bloßen Welt­ver­bes­serer- oder Betrof­fen­heits­kinos machen wird (auch wenn Henning Mankell mögli­cher­weise durchaus Sympa­thien in diese Richtung hegt...): Dieses Hoff­nungs­si­gnal sind die bei aller Leiden­schaft sehr vernünf­tigen und klar­sich­tigen Worte Swintons, was die Rolle solch eines Festivals, solch einer Jury, solcher Filme in der Welt betrifft: Es ist ein Spiel, sagt sie, dieses Bewerten von Kunst, die ja nicht messbar sei wie Weit­sprung­re­korde. Und was sie am Film inter­es­siert, was sie begeis­tert, das ist die Konver­sa­tion: Dass Filme eine Möglich­keit sind, ins Gespräch zu kommen mit fremden Erfah­rungen und Meinungen. Dass sie den Machern die Möglich­keit geben zu sagen: »Das ist mein Leben, meine Welt,« und den Zuschauern die Möglich­keit, für eine Weile die Gemein­sam­keit mit anderen Menschen zu erleben oder zu entdecken.
Das ist nicht die schlech­teste Sicht auf die Macht des Films. Weil sie eben nicht das Dozie­rende gutheisst, das Besser­wis­se­ri­sche und nicht das bloße Aufti­schen von Problemen als Leistung sieht. Es ist keine naive Sicht auf das Verhältnis von Welt und Kunst. Aber eben viel­leicht gerade deswegen so kraftvoll, weil man ja tatsäch­lich nicht selten das Gefühl hat, die Mensch­heit könne einen Gutteil ihrer Probleme loswerden könnte, wenn die Menschen unter­ein­ander einfach erstmal mehr ins wahre Gespräch kämen, bevor sie sich uner­quick­liche Dinge antun.

»Scheitern als Chance« hat Christoph Schlin­ge­sief vor einiger Zeit mal als Motto ausge­geben. Und es weht ein Gefühl durch diese erste offi­zi­elle Stunde der Berlinale, dass tatsäch­lich was dran ist an dem alten Klischee, das chine­si­sche Schrift­zei­chen für »Krise« setze sich nicht umsonst zusammen aus den Zeichen für »Bedrohung« und »Gele­gen­heit«: Es haucht selt­sa­mer­weise etwas von Befreit­heit durch diese Pres­se­kon­fe­renz. Weil der Diskurs, der in unserer Welt so domi­nie­rend war in den letzten Jahren, Jahr­zehnten, plötzlich seinen Allmachts­an­spruch nicht mehr behaupten kann.
Was als unaus­weich­li­cher Zwang ausge­rufen war, hat sich entzau­bert: Das ganze Welt­fi­nanz­ge­bäude auch nur eine Fiktion – und insofern jetzt viel­leicht wieder Raum für andere Fiktionen. Alles wieder offen.
Wenn die narziss­ti­schen, lebens­sinn­ent­leerten Voll­idioten von Bankern die ganze Welt in Geisel­haft nehmen konnten mit ihrem Märchen vom ewigen Wachstum und den 25%-Renditen, warum sollte dann jetzt nicht viel­leicht für ein paar andere, mensch­li­chere Träume die Chance sein, an Macht zu gewinnen?
Wayne Wang reiht sich ein in den anschwel­lenden Podiums-Gesang vom basis­de­mo­kra­ti­schen Kino, wo nicht der Besitz der großen Produk­ti­ons­mittel, sondern der Besitz einer guten Geschichte, eines erzäh­lens­werten Lebens die Berech­ti­gung gibt, die Leinwände zu füllen. Man solle einen Schwung der nur $100 teuren »Flip« Video­ka­meras z.B. nach Afrika schicken und dort Leute damit drauf los drehen lassen.
Schlin­gen­sief, Swinton, Mankell und Kaboré sind sofort angetan von der Idee, es dauert nicht lange, da wird darüber fanta­siert, wie man dann zum nächst­jäh­rigen Festival die Resultate einladen müsste.

Und das ist das Schöne an dieser Jury, die bei ihrem ersten gemein­samen Auftritt schon ein wenig den Eindruck einer Verschwö­rer­bande macht: Man traut ihr zu, dass sie tatsäch­lich etwas entspre­chend Verrücktes ausheckt. Freilich, man sollte sich von dem zarten Lüftchen Aufbruch­stim­mung, das einem in der momen­tanen allge­meinen Schock­starre hin und wieder um die Nase säuselt, nicht zu schnell umwehen lassen. Der Betrieb ist beharr­lich, und noch läuft er. Es wird manches geben an utopi­schem Impetus, das er schnell wieder zermalmt und zermahlt. Viel­leicht ist diese Jury auch deswegen (noch) so enthu­si­as­tisch, weil sie eben noch keine Filme gesehen hat. Die Erfahrung lehrt, dass wenige Dinge den mensch­li­chen Enthu­si­asmus so schnell ermüden und erlahmen lassen können wie zwei, drei mittel­mäßige Filme am Tag.
Aber man konnte nach dieser Pres­se­kon­fe­renz trotzdem nicht ganz das Gefühl loswerden: Wenn es einer Berlinale-Jury zuzu­trauen ist, dass sie nicht nur das Spiel brav mitmacht, sondern beginnt, mit den Regeln zu spielen, dann dieser.
Soll man deswegen wirklich gleich dran glauben, dass auf einem Film­fes­tival, irgend­einem Film­fes­tival nochmal – so wie in den Sech­zi­gern, Sieb­zi­gern – etwas von Relevanz für die Welt geschehen könnte? Na ja, man kann ja zumindest mal damit anfangen zu hoffen, dass dort, wo das Geschäft, der Betrieb sich als domi­nie­rende Kraft zurück­zieht, wieder mehr Spielraum für andere Kräfte herrscht.
Wir werden sehen, was in zehn Tagen von dieser Hoffnung übrig­bleibt.

Thomas Willmann