06.09.2008
65. Filmfestspiele von Venedig 2008

Verlorene Seelen

JERICHOW
Ménage à trois: JERICHOW
(Foto: Piffl Medien)

Armut und Amore und ein deutscher Film Noir

Von Rüdiger Suchsland

Der Bild­schirm ist noch schwarz, da hört man Glocken. Eine Beer­di­gung. Ein Mann namens Thomas steht am Fried­hofstor, es ist seine Mutter, die gestorben ist. Ein anderer kommt an, mit Limousine und Fahrer, sie waren Freunde, aber er hat Thomas Geld geliehen, das er jetzt eintreiben will. Wir erfahren, dass Thomas alles gepfändet wurde, und mit sicherem Instinkt entdeckt der Gläubiger das – schlechte – Versteck im Limo­na­den­baum-Haus im Garten aus der Jugend­zeit. Dort liegen die Geld­scheine bündel­weise. Der Mann nimmt das Geld, Thomas wird nieder­ge­schlagen, und liegt bewusstlos im Gras, als die Limousine wegfährt.

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Genau so, mit dem Ende eines Films, den wir nie kennen werden, fängt ein anderer Film an: Jerichow von Christian Petzold. Ein Reh weckt ihn dann auf, wie im Märchen, und genau­ge­nommen könnte alles, was folgt, auch ein Traum gewesen sein, ähnlich wie in Petzolds letztem Film Yella. Jerichow ist aber unro­man­ti­scher, als YELLA, eher ein deutscher Film Noir, der Versuch, die Motive und die Emotion des Film Noir auf deutsche Gegen­warts­ver­hält­nisse anzu­wenden.
Ein reicher Mann engagiert einen armen Mann. Um Arbeit zu machen, die dieser nicht machen kann. Die beiden ergänzen sich gut, könnten sogar Freunde sein. Aber der arme Mann verliebt sich in die schöne Frau des reichen Mannes. Und das Unglück nimmt seinen Lauf…
Wem dieser Plot irgendwie bekannt vorkommt, der liegt nicht falsch: James M. Cains Novelle »The Postman Always Rings Twice« inspi­rierte zuerst Luchino Viscontis Osses­sione von 1943 – mit Anna Magnani –, dann einen berühmten Film Noir von 1946 und Bob Rafelsons vor allem durch die Sex-Szene zwischen Jack Nicholson und Jessica Lange bekanntes Remake von 1981. Es geht um Armut und Amour (fou), und um die schlimmen Folgen, wenn beides zusammen trifft. Der Berliner Regisseur Christian Petzold nutzt die Film­ge­schichte ja immer gern als Hinter­grund, den er dann ganz zeitgemäß übermalt und ausbuch­sta­biert. Mit seiner Inter­pre­ta­tion des Cain-Stoffes, der im Wett­be­werb von Venedig Premiere hatte, ist Petzold nun ein Meis­ter­werk der Konzen­tra­tion geglückt, geprägt durch jene ganz eigen­ar­tige, unver­wech­sel­bare Atmo­sphäre, die Petzolds Filme seit jeher und immer stärker eigen sind.

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Man muss ja eigent­lich nur auf die Beset­zungs­liste schauen, um vorab schon einiges zu wissen. Das Benno Fürmann und Nina Hoss ein Liebes­paar werden müssen, ist vorab klar. Aber wenn Jerichow auch im Vergleich zu anderen Petzold-Filmen nicht viele Über­ra­schungen enthält, bedeutet das auch: Dies ist ein Film, auf den man sich verlassen kann.
Aus drei Perspek­tiven erzählt Petzold eher skiz­zen­haft seine Geschichte: Zunächst aus der von Thomas, der gerade, arm wie eine Kirchen­maus, als Soldat in Afgha­ni­stan uneh­ren­haft entlassen und verfolgt von den Gläu­bi­gern – was dahinter steckt wird nie aufgelöst, auch ein anderer Film – ins Dorf seiner Kindheit zurück­ge­kehrt ist. Es heißt Jerichow und liegt irgendwo im wilden Ostens Deutsch­lands. Dann kommt Ali ins Spiel, der in der Gegend eine Döner-Kette aufzieht, und einen Fahrer braucht. Er mag Thomas und gibt ihm eine Chance. Das letzte Drittel gehört Laura, der Frau, die sich von Ali hat kaufen lassen, und die Thomas nun auch nicht wider­stehen kann.
Benno Fürmann, Hilmi Sözer und Nina Hoss spielen dieses Drei­ge­stirn. Noch nie sah Fürmann so männlich und so wenig bubihaft aus, wie hier, ein Auftritt von hoch­gra­diger prole­ta­risch-körper­li­cher Präsenz, der an die besten Zeiten von Klaus Löwitsch erinnert. Hoss kombi­niert Zerbrech­lich­keit und Kälte in einer Weise, die ihren vielen Auftritten eine weitere faszi­nie­rende Facette hinzufügt. Die Entde­ckung ist aber Hilmi Sözer, dessen Gesicht man zwar kennt. Aber so tanzen, so weich und dennoch cool sein, wie hier konnte er noch nie. Das Herz eines Films über drei eigent­lich schon von Anfang an verlorene Seelen, dem Hans Fromm Kamera einmal mehr fran­zö­sisch sommer­lich anmutende Bilder gibt, die mit analy­ti­scher Klarheit ihr Sujet bloßlegen.

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Hinzu kommen diese Momente, die man nur bei Petzold findet: Die Gurken­flieger-Maschine, eine kleine Moment­auf­nahme aus der Arbeits­welt in Deutsch­land. Die Arbeit einer Döner-Kette. Endlose Auto­fahrten durch ostdeut­sches Niemands­land. Hilmi Sözer am Strand, betrunken tanzend. Dann direkt danach der Tanz zwischen Thomas und Laura. Schon vorher hatte er gleich begehr­liche Blicke auf Alis Frau geworfen, wie auf sein Geld. Dabei war er aber immer verhalten geblieben, später aller­dings immer im richtigen Moment zur Stelle, etwa mit Kampf­technik, um seinen Chef zu schützen. Fürman strahlt dann so etwas aus, das man am ehesten als in-sich-ruhende Schüch­tern­heit beschreibt. Ein starkes Tier, das aber schwer verwundet wurde, und sich seiner Kräfte noch nicht wieder sicher ist.
Schließ­lich, kurz nach der Tanzszene, ein Sturz an den Ostsee­klippen. Wunderbar unver­mit­telt und beiläufig insze­niert, wie zuvor ein Auto, das fast ins Wasser fährt, worauf die beiden sich kennen­lernen.

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Ein Film über Sehnsucht. Die Lebens­sehn­sucht von Thomas und die Todes­sehn­sucht von Ali. Auch hierin zwei völlig ungleiche Männer.

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Auch ein Film über Eifer­sucht, Miss­trauen und Vertrauen. Es ist von Anfang an ganz unklar, was Ali für ein Spiel spielt, aber man traut ihm immer alles zu, man vermutet immer, dass er mehr weiß, als er zeigt. Und es ist klar, dass er nicht in die Türkei fliegt, wie er vorgibt. Er ist nicht blöd. Insofern ist es kaum zu glauben, dass er Laura und Thomas allein lässt, nichts merkt. Eher ist früh zu vermuten, dass er die beiden zusam­men­führen will. Aber warum? Irgend­wann während des Films denke ich: Der stirbt. Und er sucht einen neuen Mann für seine Frau. »Er ist reich und er ist nicht blind.« sagt Laura einmal über Ali.
Er ist nicht einfach sympa­thisch, ist auch ein Ausbeuter. Einen Satz sagt er, den ich über­flüssig deutlich finde: »Du hast ein gutes Herz. Das hab ich auch, das ist ja die Scheiße.« Auch kein ganz guter Satz ist der von Thomas, nachdem beide die erste Nacht zusammen verbracht haben: »Wir fahren doch jetzt nicht arbeiten. Wir holen Deine Sachen. Er schlägt Dich.« Jetzt wird der Mann moralisch. Das passt nicht. Der dritte schlechte Satz, weil zu erklärend, ist die Selbst­be­schrei­bung Alis: »...leben in einem Land, das mich nicht will. Mit einer Frau, die ich gekauft hab.«

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Moral: »Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat. Ich weiß das.«

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Bei Werner Schroeter würde es wohl eher heißen: »Man kann sich nicht lieben, wenn man keine Moral hat.« Wie aus einer anderen Zeit tauchte der Fass­binder-Wegge­fährten Schroeter auf dem Lido auf. 1990 hatte er mit Malina zuletzt fürs Kino gear­beitet. Jetzt hat er, der seitdem in Oper und Theater emigrierte, eine Novelle des Urugu­ayers Juan Carlos Onetti verfilmt: Aber Nuit Et Chien ist ein unver­wech­sel­barer Schroeter geworden: Stili­siert, melo­dra­ma­tisch, sonambul und hoch­gradig arti­fi­ziell. Die Handlung dreht sich um ein faschis­ti­sches Regime in irgend­einem Land, vermut­lich Latein­ame­rika – aber man spricht fran­zö­sisch –, und lässt sich am ehesten als Paranoia-Thriller mit Anspie­lungen auf Grimms Märchen begreifen. Es geht um poli­ti­schen Oppor­tu­nismus, Kolla­bo­ra­ti­ons­men­ta­lität und ihren Preis. Groß­ar­tige Bilder und Momente, aber ein rätsel­hafter Gesamt­ein­druck fügen sich zu einem völlig unzeit­ge­mäßen Film. Faszi­nie­rend, wie Schroeter jede Konzes­sion an den Zeitgeist vermeidet.

Rüdiger Suchsland