21.02.2008
58. Berlinale 2008

Aufmerksam unterwegs

SPARROW
Dies könnte Willmann, unser rasender Berlinale-Reporter sein. In Wirklichkeit aber ist es Simon Yam in Johnnie Tos Wettbewerbsfilm Sparrow
(Foto: MFA)

Ansprache an die Berliner Polizei

Von Thomas Willmann

Liebe Berliner Verkehrs-Gesell­schaft, liebe Berliner Polizei,

als Gast in Ihrer schönen Haupt­stadt bin ich unlängst auch einmal U-Bahn gefahren und habe mich dabei von den hübschen Monitoren unter­halten lassen, die da während der Fahrt dafür sorgen, dass man nicht zu lange in die wirkliche Welt starren muss. Was ja gerade für den Berlinale-Besucher verhee­rende Folgen haben kann, der nach vier, fünf, sechs Filmen täglich erst nach Festi­valende mittels eines sanften Reinte­gra­ti­ons­pro­gramms wieder tauglich gemacht werden muss für den Schock des Nicht­me­di­ierten. Und also las ich da so dies und jenes, wurde dann aber zwischen den Nach­richten aus aller Welt und Veran­stal­tungs­hin­weisen und Werbung wach­ge­rissen durch folgende, unter der Über­schrift »Aufmerksam unterwegs« einge­blen­dete, nicht weiter eing­s­chränkte Auffor­de­rung: Bitte melden Sie Ihre Beob­ach­tungen den BVG-Ange­stellten und der Polizei.
Zunächst war ich, zuge­ge­be­ner­maßen, verblüfft. Dachte ich mir doch: Was inter­es­sieren die meine nichts­wür­digen, oft auch als eher obskur und skurril bekannten Beob­ach­tungen? Aber dann dachte ich an den Titel eines Doku­men­tar­films über Wolfgang Tilmans, der auf der Berlinale lief: If One Thing Is Important, Then Ever­y­thing Is Important. Und ja, klar: In diesen schwie­rigen und gefähr­li­chen Zeiten, wo die Bedrängnis und Bedrohung naht von allen Seiten, wo der Terrist (G. Beckstein) in jeder Ritze sitzen kann und sich hinter tausend Masken verste­cken, wo die bösen, fremden Kulturen, deren Zeichen wir womöglich nicht zu lesen verstehen, die unsere angreifen – ja wie will denn ich Laie da erkennen und entscheiden, was wichtig, mögli­cher­weise lebens­wichtig ist?!
Nein, das muss ich schon den Experten über­lassen. Der BVG und der Berliner Polizei. Die werden schon das Wesent­liche vom Unwe­sent­li­chen zu trennen verstehen. Haupt­sache, keiner kann nachher sagen: Der Willmann, der ist schuld! Wenn der recht­zeitig seine Beob­ach­tungen gemeldet hätte, dann wäre nachher das ganze Schla­massel nicht passiert, mit dem Weltkrieg und so...
Und deshalb ist es mir nicht nur Auftrag, sondern eine Ehre, meinen Pflichten als wachsamer Bürger nach­zu­kommen. Und Ihnen Folgendes mitzu­teilen:

Eines Abends (ich glaube, es war der erste Berlinale-Samstag, aber nageln Sie mich da nicht fest, man verliert so leicht das Zeit­ge­fühl im Rausch der Bilder...), da ging ich nach dem Spätfilm die übliche Strecke vom Kino zur Bushal­te­stelle (die vom M41, am Potsdamer Platz). Und da ist doch dieser Brunnen, Sie wissen schon – also eigent­lich eher so ein flaches, granit­plat­ten­ver­klei­detes Wasser­be­cken. Wenn man bei den Potsdamer Platz Arkaden links die kleine Passage geht, an dem Restau­rant vorbei. Dieses Wasser­be­cken, wo die Kunst-am-Bau-Instal­la­tion drin steht mit den zwei auf dem Hinterrad aufge­bäumten Fahr­rä­dern, deren Konturen mit bunten Neon­röhren nach­ge­zeichnet sind. Wo jetzt neuer­dings das eine davon flackert. (Was, wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, ja eigent­lich auch sehr verdächtig ist! Sabotage? Sind die Neon­fahr­räder erst der Anfang?)
Und jeden­falls war es also Nacht, nicht mehr viele Leute unterwegs, die bunten Neon­fahr­räder spie­gelten sich in der ruhigen, dunklen Wasser­fläche. Und da schwamm, bzw. dümpelte ein Enten­pär­chen im Wasser.
Und das war ein sehr schönes Bild.
Ein Bild der Ruhe und Gebor­gen­heit inmitten unwirt­li­cher Umgebung. Und ein Bild dafür, wie der Natur die Kunst am Arsch vorbei geht.
Ein Bild, das eigent­lich in einen Film gehört hätte.
Das aber bisher in keinem Film zu sehen war, nicht auf der Berlinale und nicht sonst.
Viel­leicht kann der BVG da mal was machen?

Wenn Sie jetzt doch meinen: Na ja, das ist aber eine sehr unwich­tige Beob­ach­tung – dann muss ich halt schwerere Geschütze auffahren. Eine Beob­ach­tung habe ich gemacht, da braucht es keine Experten, um gleich zu wissen: Da ist Gefahr im Verzuge!
Der Vorfall ereignete sich, als bei der Pres­se­vor­füh­rung von Madonnas Regie­debut Filth And Wisdom eine gute Hundert­schaft an Jour­na­listen wegen Über­fül­lung des Saals keinen Einlass mehr fanden (darunter leider auch meine Wenigkeit), und dann nach längerem Hin und Her und Herum­ge­warte verkündet wurde, dass es dennoch keine Zusatz­vor­stel­lung geben würde.
Da hörte ich aus dem Mund einer fran­zö­sisch­spra­chigen Kollegin – und es ist in diesem Zusam­men­hang wohl zur Verdeut­li­chung der Brisanz notwendig zu erwähnen, dass ihre äußere Erschei­nung den Verdacht nahelegte, dass in ihrem Stammbaum diverse arabische Indi­vi­duen kräftig mitge­men­delt haben –, hörte ich also aus dem Mund dieser Kollegin die vehement vorge­tra­gene Meinung, das sei »vachement merdique«. Und da fragen Sie jetzt mal jemand, der Fran­zö­sisch kann, was das genau heißt, weil solche Unfein­heiten übersetze ich Ihnen hier nicht.
Über­setzen aber kann ich die an diese Meinungs­äuße­rung anschließende Bekundung »Je déteste ce festival, et je déteste les Allemands«: Das heißt nämlich »Ich hasse dieses Festival, und ich hasse die Deutschen«. Und glauben Sie mir: Die Dame hatte dazu definitiv Gewalt­be­reit­schaft in den Augen!
Da würde mich nicht wundern, wenn da was passiert! Wenn dann aber was passiert (dass die Dame nämlich z.B. zum Einlass­per­sonal ganz unfreund­lich ist, oder dass sie draußen vor dem Kino Fahrräder umwirft, oder dass sie in den Umschlag mit den Namen der Preis­träger Gripp­eba­zillen rotzt) – dann muss man fairer­weise sagen, dass die Berlinale da eine gewisse Teil­schuld nicht leugnen kann.
Denn kann es wirklich derart über­ra­schend gekommen sein, dass in diesem Fall ein BISSERL mehr Andrang herrschen würde als bei anderen Filmen der Panorama-Reihe? Sie, liebe BVG, setzen ja zu gewissen Zeiten und auf gewissen Strecken auch Doppel­de­cker­busse ein. Viel­leicht können Sie da das nächste Mal einen Ihrer Experten zum voraus­schau­enden Umgang mit Massen­an­drang beratend zur Verfügung stellen...

Ihren Entschlüs­se­lungs­experten von der Berliner Polizei hingegen brauche ich das ja nicht zu sagen: Geheim­codes funk­tio­nieren oft darüber, dass sich in der Redundanz einer scheinbar normalen Botschaft eine zweite Nachricht verbirgt.
Ich werde deshalb von mal zu mal das Gefühl schwerer los, dass sich im Anti-Pira­te­rieh­in­weis vor jedem Berlinale-Film etwas versteckt hat. Ich meine, ich habe den im Lauf der Jahre mitt­ler­weile hundert­fach gesehen. Und ich verstehe nach wie vor nicht, weshalb er lautet: »Film piracy is illegal, violates existing copyright laws and will not be tolerated.«
Ist die Defi­ni­tion von illegal nicht genau, dass etwas gegen Gesetze verstößt? Und besteht wirklich die Gefahr, dass jemand glaubt, Film­pi­ra­terie würde lediglich Gesetze verletzen, die nicht mehr, noch nicht exis­tieren, oder die ganz der Fantasie entsprungen sind? Was also sagt uns das »violates existing copyright laws«, was uns das »is illegal« nicht schon hinrei­chend bedeutet? Und warum ist in den Pikto­grammen darüber zwar das stili­sierte Handy ganz durch­ge­stri­chen, die Video­ka­mera aber ÜBER den Verbots­schild­balken platziert?
Ich sage ihnen: Da ist was im Busch! Da werden unter der Hand illegale Botschaften gesendet, die gegen exis­tie­rende Gesetze verstoßen! Ich finde, die Berliner Polizei sollte das nicht länger tole­rieren.

Was ich Ihnen fürderhin zu berichten habe, das sind jetzt eigent­lich mehr zwei Bege­ben­heiten als regel­rechte Beob­ach­tungen. Aber wenn Sie bis hierher durch­ge­halten haben, ist Ihnen das vermut­lich auch schon wurscht.
Jeden­falls: So ein Film­fes­tival im Allge­meinen und die Berlinale im Beson­deren ist ja stolz darauf, eine Veran­stal­tung zu sein, bei der man die Stars aus »nächster Nähe« (sprich gleich­zei­tige Anwe­sen­heit auf den selben 100 Quadrat­meter) erleben kann. Und freilich sind sie auch immer schön, diese insze­nierten Begeg­nungen: Die Roten Teppiche, belagert von gedul­digem Fußvolk. Die Pres­se­kon­fe­renzen mit ihrer Drama­turgie – wo man immer erst einmal über die fest­ge­setzte Zeit hinaus warten muss; dann der haus­meis­ter­ar­tige Mensch, der kurz vor dem tatsäch­li­chen Beginn nochmal alle Simul­tanü­ber­set­zungs-Kopfhörer auf dem Podium überprüft. Ein Vorbote er für die Ankunft der Stars, bei der zunächst draußen vor dem Konfe­renz­saal das Blitz­licht­ge­witter (ein abge­schmacktes Wort, fürwahr, aber hier trifft kein anderes) lospras­selt und das »Madonna, please, over here!«-Geschrei anhebt. Wo man dann weiß, wenn dies abgeebbt ist, dass besagte Stars in einem Gang verschwinden, der sie um die Wand des Saals herum­führt – ein Gang, das Fernsehen hat das mal gezeigt, der mit roten Vorhängen dekoriert ist und aussieht wie ein Set aus Twin Peaks. Auf dass sie dann auf der diametral gegen­ü­ber­lie­genden Ecke des Saals aus der Tür auftau­chen, von einem erneuten Trom­mel­feuer des Foto­grafen-Klacker­dik­la­ckers und meist auch Applaus empfangen werden, Platz nehmen, und... So weiter und so fort, Sie haben das vermut­lich zumindest schon mal am Bild­schirm gesehen. Und darauf wollte ich eigent­lich gar nicht hinaus.
Nein, der Punkt ist: So nett all diese orga­ni­sierten Audienzen sind – viel schöner noch sind immer die zufäl­ligen Begeg­nungen. Diese Momente, wo jene, die nicht unter Rundum-Bewachung stehen, einem uner­wartet und in Kontexten über den Weg läuft, die nicht dazu einge­richtet wurden, um den Status des Stars zu insze­nieren.
Mir zum Beispiel hat dieses Jahr einmal Udo Kier die Tür aufge­halten. Und beim Hände­wa­schen nach dem Aufsuchen jenes Ortes, respek­tive Örtchens, wo sich laut Redensart selbst der Kaiser zu Fuß hinbegibt (und eben auch der Weltstar) merkte ich beim Blick in den Spiegel, dass neben mir Karl-Heinz Böhm mit eben jener Tätigkeit (also dem Hände­wa­schen, dass da nichts miss­ver­standen wird!) beschäf­tigt war.
Was ein in etwa gleichem Maße nettes und absurdes Gefühl ist.
Und um viel­leicht doch noch mit einer Beob­ach­tung zu schließen: Einen großen Schau­spieler und Menschen­freund erkennt man halt nicht nur daran, wie elegant er die Sissi in die Arme nimmt, wie manisch er das Messer am Stativ seiner Kamera in Damen­kehlen, oder wieviele Brunnen er ande­rer­seits in Afrika bohrt. Den erkennt man auch daran, wie er mit Stil eine solch alltäg­liche Verrich­tung wie das Hände­wa­schen absol­viert. Jawoll.

Liebe Berliner Polizei. Die nächste, mit einem Anliegen verknüpfte (und für heute letzte) Beob­ach­tung ist etwas heikel. Bitte genau hinlesen, denn es ist jetzt ganz wichtig, dass wir uns richtig verstehen.
Fern läge es mir, die Freiheit der Kunst einschränken zu wollen, noch ferner, deutschen Behörden die Macht darüber geben zu wollen, was auf Lein­wänden geschehen darf und was nicht. Pfui, sage ich da ausdrück­lich, pfui!
Aber: Könnten Sie nicht bitte wieder die Zensur einführen? Nur so ein kleines bisschen?
Das wäre hilfreich.
Dass Sie jetzt aber bitte nicht auf die selbe dämliche Idee kommen wie die New Yorker Gesund­heits­behörden, die letzte Woche (leider kein Witz!) gefordert haben, dass Filme, in denen Rauchen in einem positiven Licht gezeigt wird, keine Jugend­frei­gabe mehr erhalten sollen. Im Gegenteil!
Denn worum es mir ginge: Schauen Sie sich nochmal diese Szene in Johnny Tos Wett­be­werbs­bei­trag Man jeuk (Sparrow), wo Kelly Lin im Auto Simon Yam eine mit extra­di­ckem Lippen­stift­ab­druck versehene Zigarette zwischen die Lippen schiebt. (Überhaupt: Schauen Sie sich Man jeuk nochmal an! Diesen wunder­baren Film, der viel­leicht der musi­ka­lischste von allen war, ohne dass er direkte Musik­szenen gehabt hätte...) Diese Szene – und ich sage das als Nicht­rau­cher – war die erotischste, die ich während des gesamten Festivals gesehen habe.
Solch schöne Szenen aber gibt es doch zumeist nur, wenn die Zensur untersagt, expli­ziter zu werden. Wenn heutige Filme­ma­cher uns sagen wollen »Die beiden poppen jetzt«, dann rücken sie zumeist genau das ins Bild. Was aber meistens nur funk­tional, formel­haft und fanta­sielos wird. So eine öffent­liche Unzucht auf der Leinwand erregt doch niemanden mehr.
Wie kitzelnd aber das Spiel mit Andeu­tungen und Doppel­deu­tig­keiten, wie prickelnd der Reiz des Verbo­tenen und die Leer­stellen, die man mit der eigenen verdor­benen Fantasie füllen darf.
Ich habe auf dem Festival keine verschwein­tere Sexszene gesehen als die in Luis Buñuels La mort en ce jardin – wo man gar nichts sieht. Da wacht Georges Marchal auf, um neben sich im Bett Simone Signoret zu finden, deren Arbeits­stätte in diesem Film sozusagen dieses Bett ist. Und nach ein wenig Smalltalk nimmt er sie dann in die Arme, beugt sich über sie – und Schwarz­blende, wie es 1956 an dieser Stelle anders kaum denkbar war. Buñuel aber, das begnadet perverse Ferkel, hält diese Schwarz­blende. Und hält sie. Und hält sie. Und damit auch jeder mitkriegt, dass die jetzt deutlich länger dauert, als nach gewöhn­li­chen Schnitt­re­geln erlaubt, lässt er dazu auch noch eine Uhr ticken.
Da bekommt man doch eine ganz andere Vorstel­lung davon, was da Außer­ge­wöhn­li­ches und Atem­be­rau­bendes abgeht, als wenn da vor der Kamera ein bisserl Beischlaf simuliert würde.
Und, na ja, was manchen Filmen heute fehlt ist der Zwang, ein bisschen einfalls­rei­cher, spie­le­ri­scher, mehr­deu­tiger werden zu müssen, um gewisse Dinge zum Ausdruck zu bringen. Das funk­tio­niert oft nur noch im Histo­ri­en­film: In The Other Boleyn Girl – einem Wett­be­werbs­bei­trag mit Natalie Portman und Scarlett Johansson, der ausnahms­weise einmal den begehrten Holly­wood­star-Faktor brachte, ohne sich seiner rein filmi­schen Quali­täten schämen zu müssen – in diesem Film also geht es eigent­lich auch dauernd nur um Sex. Wobei Sex in der Welt des Tudor-Hofs wenig mit Liebe zu tun hat und viel mit rein mach­t­ori­en­tierter Fort­pflan­zungs­po­litik.
Und weil Regisseur Justin Chadwick dabei nicht ganz die Vornehm­heit des Historien-Genres aufgibt, kommt umso scho­ckie­render, was da zwischen den Zeilen, mit beschö­ni­genden Worten oder nur ein paar Blicken oft gesagt wird.
Ich sag es Ihnen, liebe Berliner Polizei: Das ist gleich viel inter­es­santer, als wenn Leute ihr Gemächt in die Kamera wedeln.
Deshalb noch einmal die Bitte: Könnten Sie die Zensur wieder einführen? Nur so ein kleines bisschen?
Danke!

Mit freund­li­chen Grüßen,

Thomas Willmann