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07.02.2008
 
 
     
Berlinale 2008
Sehnsucht, Apathie, Wirklichkeit
 
Eröffnungsfilm 2008: SHINE A LIGHT
 
 
 
 
 

Das verflixte siebte Jahr: Perspektive Deutsche Kino zwischen Realismus und neuen Gefühlen - Berlinale Impressionen, Zweite Folge

Neue Spiritualität, Teenage Angst, Straßenstrich, 1. Mai, Mädchenfußball, Kinder im Prekariat, Schüler im Internat, Fressanfälle, Patchworkfamilien… - wer den Zeitgeist der Bundesrepublik verstehen will, der kommt an den Filmen der "Perspektive Deutsches Kino" nicht vorbei. Das ist das Schöne wie das Problem dieser Berlinale-Reihe, die, betreut vom unermüdlichen Alfred Holighaus, seit Dieter Kosslicks Amtsantritt, also bereits im siebten Jahr, internationale Bühne für das jüngere deutsche Kino sein will. Den Filmen, die hier laufen, fehlt etwas - Kunstwille, technische Perfektion, Stars, aber auch Glätte, schale Routine - das sie für die anderen Reihen prädestinieren würde. Oder einfach die Länge, den hier laufen öfters auch 20- oder 45-minütige Werke - und das sind beileibe nicht die schlechtesten. Denn nicht jede Story braucht Spielfilmlänge, aber fast jeder hat mit kurzen Filmen angefangen, und vielleicht begegnet man hier den Christian Petzolds und Dominik Grafs der Zukunft. "Unsere Filme müssen nicht perfekt sein" sagt Holighaus, "aber sie sollten etwas Besonderes, Originelles haben, etwas, das sie vom Durchschnitt des deutschen Kinos abhebt." Wer die Perspektive regelmäßig verfolgt, der weiß: Immer wieder läuft hier das eine oder andere, das im kommenden Jahr Furore machen wird, beim Publikum einschlagen, oder auf späteren Festivals Preise gewinnen wird. In den letzten Jahren waren dies Filme wie NETTO, KATZE IM SACK, 2007 PRINZESSINNENBAD und HOTEL VERY WELCOME. In diesem Jahr könnten es DIE BESUCHERIN werden, oder DRIFTERS, möglicherweise auch LEA oder JESUS LIEBT DICH.

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Wieder sind es vor allem Regisseurinnen, die beeindrucken: Lola Randl mit ihrem überaus reifen Film DIE BESUCHERIN, über das Implodieren einer Ehe und ein Frauenleben in bürgerlichen Verhältnissen, und Iris Janssen in DIE DINGE ZWISCHEN UNS. Beide Filme zeigen die Frauen, die ihren männlichen Gegenübern überlegen sind. Auch als Langfilm hätte man gerne IN DEINER HAUT von Pola Schirin Beck gesehen. In nur gut 20 Minuten findet Beck treffende Bilder für die Einsamkeit eines pubertierenden Mädchens, deren neuer Freund sensibler ist als die Mutter. Eine Geschichte über Missverständnisse, in wenigen Dialogen, und in der Hauptrolle wunderbar gespielt von Kim Schnitzer, mit unsicherem Blick und einem Mund, der tausend Ausdrucksformen kennt.
Auch der 45-Minüter LEA von Steffi Niederzoll ist das Portrait einer jungen Frau. Aber stilistisch ganz anders gelagert, als ein mit aufregender Künstlichkeit inszeniertes kleines Seelen-Binnen-Drama, über ein unauthentische Leben zwischen großer Sehnsucht, kleinen Fluchten und Feigheit vor dem Ich. Das alles hätte auch der Stoff von LOSTAGE sein können, doch Bettina Eberhards Film über eine junge Frau, die angeblich von allen für einen Mann gehalten wird, kommt daher wie eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, will gebrochener Heimatfilm sein und besteht zwischen Kühen, Hühnern, Schweiß und Tschingderassabumm doch vor allem aus Klischees vom Landleben, die mal wie Margarinewerbung, dann wieder wie ein prätentiöser Studentenfilm aussehen.

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Die Nähe zum Zeitgeist ist wie gesagt der Trumpf der "Perspektive". So rief man vor in paar Jahren das "Hartz IV"-Kino aus, ging es um gesellschaftliche Bestandsaufnahmen und um Realismus jenseits jener Authentizität, die durch lange Einstellungen und langsame Erzählweise verbürgt wird. Wenn es mit der sozialen Krise vorbei ist, könnte man in diesem Jahr sagen, werden die Gefühle auf die Leinwand wieder wichtiger, die Seelenschau, die Sehnsucht. Von Neo-Romantik sind diese Filme aber meilenweit entfernt, genauso wie vom Ton der 90er-Jahre Beziehungsfilme.

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"Es muss abgehen, Mann!" sagt der eine Jüngling aus bravem Haus zum anderen, und darum begeben sich beide mitten ins Zentrum der Kreuzberger 1. Mai-Demo. Doch die Randale will sich einfach nicht einstellen, auch nicht, als beide aus dem Schutz der Masse heraus ein paar leere Flaschen auf Türken werfen. Schon zuvor und auch in den nächsten Stunden waren ihre Handlungen immer wieder von einer überaus unklaren Bockigkeit und dick zur Schau gestellten Unangepasstheit geprägt, einer diffusen Sehnsucht nach Schmerz und "Eigentlichkeit" auch, nach Härte und Schwere. Wo das herkommt, möchte man schon gern wissen, das immerhin bleibt von BERLIN 1. MAI, mit dem die "Perspektive Deutsches Kino" eröffnet wurde.

In drei Episoden von drei Regisseuren und Drehbuchautoren kreist dieser Film um die Kreuzberger 1. Mai-Demos, die mindestens so sehr Mythos und Touristenattraktion sind wie Realität. Auch dieser Film nimmt sie ähnlich dem touristischen Blick vor allem als Vorwand, betrachtet sie auf die Oberfläche ihrer vermeintlichen Schauwerte hin und fragt eigentlich nie nach der Wirklichkeit. Wie dem Hanswurst im Bauernschwank, wie Kasperl, Seppl, dem Dorfpolizist und dem Krokodil auf der Kinderbühne begegnet man einem Panoptikum aus grellen Klischees: einem liebeskranken Polizist vom Land, der in der Metropole seinen Frust im Puff betäuben will, auf eine verständnisvolle Nutte und schlängernde Zuhälter trifft, um am Ende daheim in den Armen der untreuen Geliebten so was wie Trost zu finden; einem präpotenten Türkenjungen, der seine Umwelt immer weiter provoziert, immer gewalttätiger wird und irgendwann sogar den einzigen Menschen, der freundlich zu ihm ist, krankenhausreif schlägt; einem Altlinken, der Stalin mag, eigenhändig Barrikaden baut und einer 20 Jahre alten ersten "Randale", also seiner Jugend nachträumt; eine Punkerin mit Nadel in der Lippe (in nur vier Minuten Leinwandzeit intensiv gespielt von Hannah Herzsprung, die man trotzdem langsam vor der Rolle des lost cute rebel girl warnen möchte); und drumherum allerlei lieben Nutten, laute Türken, ewigen Studenten und dummen Polizisten – was zusammen offenbar das derzeitige "Berlin Flair" repräsentiert.

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Die Sehnsucht nach der Revolte begleitet das deutsche Kino schon lange. Gerade beschwört die deutsche Filmakademie in der Einladung zu einer Berlinale-Veranstaltung wieder den Geist des Oberhausener Manifest, mit dem einst der "Neue Deutsche Film" gewann, und wenn man BERLIN 1. MAI ansieht, drängt sich der Gedanke auf, die einzige Kontinuität im deutschen Film sei der Vatermord, der im Kino leider immer auch etwas mit der Verweigerung zu tun hat, sich auf künstlerische Erfahrung zu beziehen. Aber "aventi dilettanti" ist gar kein gutes Rezept fürs Filmemachen, und mit bloßer Sehnsucht ist es eben nicht getan. Beides belegt BERLIN 1. MAI präzis, bei dem nur die von Sven Taddicken (EMMAS GLÜCK) gedrehte, von Michael Proehl geschriebene Episode einigen Charme hat, stellenweise mit Dialogwitz gefällt, obwohl auch hier dann irgendwann alles viel zu dick aufgetragen und viel zu überladen ist. Der Dreck, die Straße, die Wildheit und Härte, von der dieser Film zu erzählen behauptet, sind allzu sichtbar angeschminkt. Auch der Wille zum Genrekino, oder das Zauberwort Ironie entschuldigt nicht alles – so zeigt sich der einzige Film der Sektion, der eine Art politische Utopie formuliert, als Polit-Exploitation. Ein unerklärlicher Eröffnungsfilm, nur insofern passend, als danach in der Perspektive alles nur besser wird.

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Warum macht man so einen Film? Die Frage darf man auch nach TEENAGE ANGST stellen, jedenfalls inhaltlich, denn filmisch hat das knapp 80-minütige Werk immerhin seine Momente durch ein paar Bilder und gute Schauspielarbeit. Aber auch hier ist alles ausgedacht: Ein Internat, das - wohl aus Mangel für Komparsengeld beim Dreh - meist so wirkt, als sei es von nicht mehr als zehn Schülern bevölkert, bürgerlichen Wohlstandskids, Schlagermusik, harte Sprüche aus weichen Gesichtern, ein 68er-Lehrer, ein Vergewaltigungsversuch und ein sadomasochistisches Verhältnis, das mit Jungstränen und einem Toten endet.
"Das ist so deutsch" sagt Martina spontan, und wir überlegen, ob solche Filme mit ihrem Jungssadismus und latenter Homosexualität auch in Spanien oder Frankreich denkbar wären. Nein, allenfalls in Amerika und Japan, aber besser inszeniert.

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Auch hier wieder nur angeschminkte Härte, die gerade durch ihre Penetranz so etwas Unerträgliches hat. Bitterharten, zugleich bezwingend inszenierten Realismus zeigt ROBIN, Hanno Olderdissens kühle, klare Miniatur über einen Jungen, der aus dem Heim, wo er besser geblieben wäre, zurück zu seinem Vater in die Sozialwohnung kommt: ein schreckliches und schrecklich aktuelles Kinderleben zwischen Prekariat und Apathie.

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Als stark wie immer erweisen sich die Dokumentarfilme der Perspektive: Sebastian Heidingers DRIFTER ist auch filmisch überaus aufregend: Der Regisseur schildert das Leben der heutigen Kinder vom Bahnhof Zoo ohne Moralismus, voller Neugier und entdeckt so menschliche Wärme an Orten und in Momenten, wo man sie nicht vermutet hätte. FOOTBALL UNDERCOVER von David Assmann und Nayad Ajafi erzählt von einer merkwürdigen deutsch-iranischen Begegnung zweier Mädchenfußballteams. Und JESUS LIEBT DICH von Liliane Frank, Michaela Kirst, Robert Cibis und Matthias Luthardt beobachtet vier Evangelikale, die die Fußball-WM zur Missionierung nutzen wollen. Der Film begleitet seine Figuren und zeigt überraschendes Wohlwollen gegenüber diesen Menschenfängern christlichen Fundamentalismus', deren Haltung sich nicht mehr viel von den geschmähten Scientologen unterscheidet. Was politisch diskutabel ist, ist aber zugleich die Tugend des Dokumentaristen - das Gegenteil eines Michael Moore, der immer schon vorher weiß, was hinten raus kommen soll.

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Am Programm der ganzen Berlinale lässt sich ablesen, dass 2008, zumindest seine ersten Momente, kein besonders fruchtbares Jahr fürs deutsche Kino ist: Es gibt zur Zeit einfach weniger Filme als zuletzt, auch, weil die Berlinale in den letzten zwei Jahren je um die 50 deutsche Filme zeigte, und viele Filmemacher ihre nächsten Werke noch nicht fertig haben. Auch das Perspektive-Programm leidet unter diesem Angebotsmangel - insgesamt ist dies zwar eine interessante, lohnenswerte Auswahl, aber die schlechteste Perspektive aller Zeiten. Im Berliner Pressenewsletter war schon vorher von der "Perspektivlosigkeit Deutsches Kino" die Rede gewesen - das hatten wir damals noch doof gefunden, jetzt müssen wir zustimmen. Vielleicht hat Kollegin Ellen recht: "Wenn es nur solche Filme gibt, muss man die Reihe eben wieder einstellen."

Rüdiger Suchsland

 

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