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01.06.2006
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 4: Der Siedler
     
 
 
 
 

An Badestränden, in Zugabteilen, in Lokalen und vielen anderen Orten kann man täglich beobachten, wie die Menschen versuchen, den öffentlichen zum privaten Raum zu machen. Im Kino erleben wir dieses Verhalten in der Person des Siedlers.

Auch wenn ein Kino noch so klein, heimelig, vertraut und sympathisch ist, bleibt es doch ein öffentlicher Raum, den wir nur zu einem bestimmten Zweck, für begrenzte Zeit und nach Zahlung eines gewissen Betrages betreten. Entsprechend pragmatisch und sachlich ist dann auch das Verhältnis des üblichen Kinogehers zu dieser Umgebung, in der er einen Film sieht. Wie anders ist da der Siedler, der für die Dauer eines Filmes im Kinosaal heimisch wird.

Üblicherweise kündigt sich der Siedler durch ein auffälliges Poltern und Rascheln, welches von seinem mitgeführten Gepäck herrührt, an. Im Saal angekommen, verharrt der Siedler kurz, atmet tief durch (auch als Folge seiner schweren Last) blickt über die Sitzreihen und wählt mit der selben Mischung aus Entschlossenheit und Zuversicht, die man aus so vielen Western kennt, den passenden Ort, um sich niederzulassen.

An diesem Ort (der oft ganz profane Namen wie "Reihe 12, Platz 5" trägt) angekommen, beginnt der Siedler mit der Landnahme. Vor allem Kleidungsstücke dienen ihm dazu, Sitzplätze in unmittelbarer Nachbarschaft zu belegen (im doppelten Wortsinn) und sie so für sich in Anspruch zu nehmen. Zwei weitere Plätze sind Grundvoraussetzung, üblich sind drei oder vier, aber auch fünf sind keine Seltenheit.

Schon ab diesem Zeitpunkt reagiert der Siedler äußerst ablehnend auf das Ansinnen anderer Kinogeher, einen dieser derart privatisierten Plätze besetzen zu wollen. Nur widerwillig und nach zähen Verhandlungen bzw. sturem Beharren gibt der Siedler schließlich einzelne Sitze auf.

Ist mit der Inbesitznahme eines angemessenen Areals der erste Schritt getan, beginnt der Siedler mit der Einrichtung seines kurzzeitigen Idylls. In den mitgebrachten Taschen, Tüten und Einkaufs-Trolleys wird gesucht und gegraben und dabei viel Nützliches und Angenehmes zum Vorschein gebracht. Nach und nach positioniert der Siedler so u.a. zusätzliche Kleidungsstücke (gegen Kälteeinbrüche oder Zugluft), Brillen, Lesematerial (für die Zeit bis zum Filmanfang), Lebensmittel und Getränke (die durchaus über die üblichen Knabberein und Süßigkeiten hinaus gehen können), Hygieneartikel (Taschentücher, Handcreme, Kämme) und Kissen (um nur die geläufigsten Gegenstände zu nennen) um sich herum. Mit großer Gewissenhaftigkeit richtet er sich so ein und macht aus einem unpersönlichen Kinositz ein ausgelagertes Wohnzimmer.

Einen derart eingerichteten Platz vom Siedler einfordern zu wollen, grenzt für ihn an Landfriedensbruch und gerade kurz vor Filmbeginn sollte im eigenen Interesse kein Cineast darauf bestehen, dass ein solcher Sitz freigemacht wird, da ein "Umzug" des Siedler ähnlich aufwendig, störend und zeitintensiv ist wie ein echter Wohnortswechsel.

Hat sich der Siedler schließlich fertig eingerichtet, beginnt die letzte Phase und er macht es sich bequem. Mit ritualisierten Bewegungen wird das Handy ausgeschaltet, die Kleidung zurechtgerückt, Nase und Brille geputzt, Lebensmittel und Getränke geöffnet, die bevorzugte Sitzposition eingenommen, kurz gehüstelt, noch mal nach dem Handy geschaut und schließlich der Beginn des Films erwartet. Nun ist alles perfekt, alles ist da, wo es sein soll, eine private Blase im öffentlichen Raum wurde geschaffen.

Ab diesem Zeitpunkt heißt es bangen und hoffen, dass nun niemand die unvorstellbar verhängnisvollen, unheilbringenden Worte, die einen ganzen Kinosaal in Chaos und Verderben stürzen können, an den Siedler richtet: "Entschuldigung, aber ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz."

Michael Haberlander

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