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01.06.2006
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 18: Der Esser
     
 
 
 
 

Während die Frage, weshalb der Mensch grundsätzlich isst, eine der wenigen leicht beantwortbaren ist, bleibt die Frage, weshalb er dies zum Teil auch im Kino tut, ein großes Rätsel.
Es geht dabei wohlgemerkt nicht um den durchschnittlichen Kinogeher, der sich zur Komplimentierung seines Filmvergnügens mit Popcorn, Chips, Süßigkeiten und Softgetränken ausstattet (mag dies im Einzelfall auch ungewohnte bzw. unerwünschte Ausmaße annehmen, bleibt es letztlich ein unvermeidlicher Aspekt des Biotops Kino), sondern um den Esser, der einen Filmbesuch zur umfangreichen Nahrungsaufnahme nutzt.

Was so im Zwielicht der Leinwand verspeist wird, führt eindrucksvoll vor Augen, dass der Mensch zu den Omnivoren zählt.
Neben frischem Obst und Gemüse im Originalzustand und in bereits vorportionierten Teilen, finden sich da Backwaren wie frisches Baguette (komplett, ohne Belag), Brezen oder abgepackter Kuchen, Milchprodukte wie Joghurt, gekauftes Fastfood wie Burger, Pommes Frites und Döner, selbst belegte Brote, aber auch komplizierter Speisen wie Salate oder Aufläufe, sowie kalte und warme Getränke jeglicher Art, die in temperaturwahrenden, stoßfesten Flaschen aufbewahrt werden.

Da es (entgegen der landläufigen Ansichten zum sogn. Multitasking) praktisch unmöglich ist, die koordinatorisch durchaus anspruchsvolle Leistung der gezielten Nahrungsaufnahme und die sensorische Wahrnehmung eines Spielfilms gleichzeitig und in beiden Fällen zufrieden stellend durchzuführen, bleibt unklar, weshalb der Esser trotzdem beide Aktivitäten zusammenlegt.

Eine überraschende Hungerattacke, die den Esser an der Kinokasse überkommt und die keinen Aufschub für die nächsten zwei Stunden erlaubt, kann als Grund wohl ausgeschlossen werden. Schließlich führt der Esser seine Speisen beim Eintreffen im Kino in der Regel bereits mit, sein Handeln ist also absichtsvoll geplant.

Ein Mangel an persönlicher Lebenszeit, der viele Menschen dazu nötig, auch beim Arbeiten, Gehen, Autofahren oder in öffentlichen Verkehrsmittel zu essen, kann ebenfalls kaum als Begründung angeführt werden. Schließlich hat der Esser genügend Zeit, um sich für die Dauer eines Films von seinem Alltag zu lösen.

Alle Versuche, sein Verhalten mit einer rationellen (Doppel)Nutzung seiner Zeit zu erklären, scheitern zudem daran, dass der Esser in der Regel die Werbung untätig abwartet, um erst beim Beginn des Hauptfilms mit dem Verzehr zu beginnen bzw. er den während der Werbung begonnen Prozess des Essens zum Filmbeginn nicht einstellt.

Dem Esser ist somit klarer Vorsatz bei seinem Tun zu unterstellen, was sich auch durch seine schlichte Betrachtung bestätigen lässt. So wirkt er eben nicht am Film uninteressiert wenn er isst, während ihn die Faszination für das Geschehen auf der Leinwand aber auch nicht von seinem Konsum abbringen kann. Als Folge dieser inneren Zerrissenheit bietet er einen äußerst sonderbaren, aber auch sehr markanten Anblick (wodurch er sich endgültig bestimmen lässt, sofern dies über die mitgeführten Viktualien noch nicht möglich war).

In einer Mischung aus extremer Konzentration und halber Trance sitzt er mit starrem Blick auf die Leinwand da, während seine scheinbar selbständigen Arme und Hände nicht müde werden, seinen Kopf mit Speisen und Getränken zu versorgen. Oft verfällt der Esser dabei in einen präzisen Takt, in dem er beißt, kaut, schluckt, trinkt, beißt, kaut, usw., wobei dieser Rhythmus sehr fein auf den Film abgestimmt ist und eine spannende Szene den Essvorgang wie eine Pause-Taste einfrieren und kurze Zeit später wieder fortsetzen kann.

Demjenigen, der sich von den Aktivitäten des Essers gestört fühlt, bleibt als kleiner Trost nur die Gewissheit, dass die menschliche Nahrungsaufnahme früher oder später an Grenzen stößt.
Gelangt der Esser an diesen Punkt, gilt es noch einige Sekunden, in denen er unter hektischen Aktivitäten Verpackungen entsorgt, Essensreste von seiner Bekleidung entfernt, kurz aufstößt und einen letzten Schluck aus seiner Flasche nimmt, zu überstehen.
Ab diesem Moment hängt der Esser üblicherweise zufrieden und glücklich in seinem Kinosessel und sorgt für keine weiteren Störungen.

Michael Haberlander

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