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04.05.2006
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 3: Die Empathische
     
 
 
 
 

Empathie, also die Fähigkeit sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Gefühle zu teilen, ist eine wichtige Voraussetzung für den Kinobesuch, denn ohne sie, würden wir vor jedem Film sitzen, wie vor einer Lottoziehung, bei der wir nicht mitgespielt haben.

Unsere Anteilnahme am Leinwandgeschehen wird jedoch durch unsere Vernunft begrenzt, so dass ab einem gewissen Grad der Erregung die Emotionen des Zuschauers - wie es im Autobau so schön heißt - abgeregelt werden. Zum Glück, denn ein Kinosaal voller Menschen in panischer Todesangst, blindem Rachedurst oder erotischer Aufladung kann eine sehr unschöne Eigendynamik entwickeln. Einigen wenigen aber, den Empathischen, fehlt dieses Regulativ im Kino.

Die Empathische (feminin, da diese Eigenheit fast ausschließlich bei Frauen auftritt) ist im Grunde zu beneiden, da sie Filme (fast wie Musik) emotionell direkter wahrnimmt als der normale Kinogeher und dabei regelmäßig die Rationalitätsschwelle zwischen Leinwand und Zuschauerreihen überwindet. Während beim durchschnittlichen Publikum bemerkbare Reaktionen nur durch starke Stimulationen wie Schreck oder Witz ausgelöst werden, ist die Empathische so im Geschehen auf der Leinwand gefangen, dass auch geringere Anlässe ausreichen, um eine verbale und/oder körperliche Reaktion nicht mehr unterdrücken zu können. "Vorsicht! Hinter dir!", bricht es aus ihr etwa in besonders spannenden Momenten heraus, wenn sich der/das Böse langsam anschleicht.

Wer sich als Beobachter über solche erfolg- und sinnlose Warnungen amüsiert, hat keine Ahnung, was die Empathische dabei durchmacht. Ähnlich quält sich die Empathische, wenn in einem Drama die (weibliche) Hauptfigur unweigerlich weiteren Erniedrigungen, Misshandlungen oder Verletzungen entgegen geht und ein herzzerreißendes "Ohh, bitte nein!!!!!" oder "Nein, nicht schon wieder!!!!!" durch das Dunkel des Kinos weht.

Entsprechend heftig fällt in solchen Fällen auch die emotionelle Gegenreaktion aus, so dass die Empathische eine geradezu beängstigende Abneigung gegen die (meist männlichen) Verursacher des Leidens entwickelt und dies mit der entsprechenden Gestik und Worten wie "So ein Scheißkerl!!" zum Ausdruck bringt. In extremen Situationen sollen auch schon Ausrufe wie: "Schneidet ihnen allen die Schwänze ab!" vernommen worden sein. Racheaktionen oder Retourkutschen, die die derart verhassten Figuren im Film erfahren, quittiert sie dann auch mit einem zufriedenen "KLASSE!" oder spontanem Beifall.

Natürlich gibt es im Kino nicht nur negative Gefühle, weshalb der Empathischen bei ergreifenden, romantischen oder einfach nur schönen Filmmomente oft ein freudiger, im Saal gut vernehmbarer Seufzer entfährt. Oft sind der Empathischen solch unkontrollierten Mitfühlbekundungen peinlich, doch die Tatsache, von Filmen berührt zu werden, sollte niemandem unangenehm sein.

Nicht verwechseln sollte man die Empathische mit dem Kommentator, der es ebenfalls nicht schafft, seine Gedanken zu den Vorgängen auf der Leinwand für sich zu behalten.
Eine Unterscheidung zwischen beiden ist jedoch leicht zu treffen, da die Bemerkungen des Kommentators wie "Endlich!" oder "Stellt der sich blöd an!" oder "Wer's glaubt?!" nicht auf Mitgefühl sondern auf Dummdreistigkeit oder ein gestörtes Humorverständnis zurückzuführen sind. Eine Verwechslung zwischen beiden Arten ist zudem praktisch unmöglich, da im selben Maß, in dem die Empathische nahezu immer weiblich ist, der Kommentator fast durchgehen zum männlichen Geschlecht gehört.

Michael Haberlander

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