|
Der österreichische Avantgarde-Filmemacher Peter Tscherkassky
hat einmal gesagt: "In meinem Tagebuch waren alle großen
Filme wie Nationen auf einer Landkarte aufgezeichnet. Als
die Landkarte restlos ausgefüllt war, stellte ich mir
vor, daß ich einmal Filme machen würde, die sich
unsichtbar an den Grenzen entlang schlängeln, im Niemandsland
zwischen den einzelnen Nationen."
Der Besuch der Viennale war diese Reise an die Ränder
der Welt.
Die Ränder der kinematographischen Welt, das sind Filme,
die einen herausfordern, die mit Sehgewohnheiten brechen,
Filmlängen sprengen und den Zuschauer auch physisch in
Beschlag nehmen. So zeigte die umfassende Retrospektive zu
Andy Warhol den mehr als fünf Stunden dauernden SLEEP
und setzte den Zuschauer acht Stunden lang dem Anblick von
EMPIRE aus, Warhols filmischem Monumentalprojekt.
Dennoch sind dies Filme leichter Überschaubarkeit, auch
weil sie monothematisch sind, verglichen mit dem fast elf
Stunden dauernden Großprojekt THE EVOLUTION OF A FILIPINO
FAMILY. Zwei gesehene Stunden gaben eine Ahnung über
den langen Atem des Films, der in jeder Hinsicht ein Langzeitprojekt
ist. Acht Jahre lang begleitete der philippinische Filmemacher
Lav Diaz die Familie Gallardo, die sich durch Landwirtschaft
mühsam am Leben erhält. Ein Spielfilm, der durch
seine beobachtende Art dokumentarisch erscheint, der in langen
Szenen das Leben auf dem Land und unter dem von Präsident
Marcos verhängten Kriegsrecht einfängt. Die Bilder
lassen die Atmosphäre von Versunkenheit entstehen, gefilmt
wurde in kontrastreichem Schwarzweiß auf DigiBeta, der
Bildeindruck ist oft unscharf, grobkörnig und dadurch
wiederum sehr experimentell. Gesprochen wird nicht viel, es
gibt keinen Score, nur die O-Töne der Natur und Radiosendungen
bilden die Tonspur. Der Raum wird hier zum geheimen Protagonisten,
der die Figuren umfängt, und mit dem sie existentiell
zu tun haben. Die Szenen werden oft eingeführt durch
eine lange Ansicht auf ein Stück Palmenwald oder einen
Acker, dann kommen langsam die Figuren ins Bild, okkupieren
den Raum, unterhalten sich. Das Spiel findet unter den Figuren
statt, als wäre die Kamera abwesend, ohne performativen
Ausdruck, der sich an den Zuschauer richtet.
*
Daß Festivalleiter Hans Hurch diese Formen des Extremkinos
nicht scheut, hat mit einem besonderen Geschick und auch dem
Mut zur Mischprogrammierung zu tun: Um die Filme nicht im
Kinosaal ungesehen verwaisen zu lassen, war der Eintritt zu
den Langfilmen frei, Saalmieten und Betriebskosten außer
acht lassend. Auf der anderen Seite gab es auch Filme im Programm,
die in Cannes oder Venedig Erfolge gefeiert haben, das asiatische
Kino, das auf volle Säle abonniert ist und Independents
aus dem amerikanischen Raum. Die Viennale hat sich durch diesen
Mut, der in einer langen Tradition gründet, wie sie wohl
nur die Österreicher mit ihrer immer noch bahnbrechenden
Avantgarde haben können, einen Ruhm erarbeitet, der trotz
unkommerzieller Programmierung zum großen Erfolg der
Viennale führt. Sie hat sich dadurch eine corporate identity
gegeben, unterstützt durch das allgegenwärtige Merchandising,
das den Viennale-Besucher mit einer ganzen Warenwelt umgibt:
kultige Viennale-Tasche (dieses Jahr allerdings in Geht-gar-nicht-Gold),
trendigem T-Shirt, Viennale-Tattoos, Viennale-Sportgums, Viennale-Stundenplan,
in dem die Filme wie auf einem Tanzkärtchen verbucht
werden können, Viennale-Streichhölzer und und und.
Was woanders jedoch nervige Logo-Überschüttung ist,
schafft es hier, ein ganz und gar junges Publikum in die Kinosäle
zu locken. Dort, wo Kultur stattfindet, durch die Filme, die
gezeigt werden, behauptet die Viennale durch ihr Auftreten
Kult, und sichert sich und ihren Filmen das für den kommerziellen
Erfolg notwendige Positiv-Image.
Hurch zeigt aktuelle Produktionen bekannter Regisseure (Gus
van Sant, Lars von Trier, Woody Allen, Takeshi Kitano, um
nur einige zu nennen), stellt Filme aus den 60er und 70er
Jahren daneben, zeigt Spiel- und Dokumentarfilme und gibt
experimentellen Filmen Raum. So kann auf der Viennale nicht
nur der Überblick gewonnen werden über die aktuelle
Kinolandschaft, sondern nebenbei außerhalb der Retrospektive
auch ein wenig Filmgeschichte betrieben werden.
*
WILD RIVER von Elia Kazan aus dem Jahr 1960 ist so ein Beispiel.
Das Thema der Suche und der Landnahme der Siedlerfilme, dynamisiert
sich in einer erneuten Mobilisierung der Gesellschaft, an
deren Horizont das moderne Amerika auftaucht: Eine Siedlergemeinde
auf einer Insel im Tennessee-River muß einem Staudammprojekt
weichen; der mit der Umsiedlung beauftragte Chuck Clover (Montgomery
Clift) unterfängt eine wilde Ehe mit einer alleinerziehenden
Mutter (Carol Garth). Es kommt zu tumultartigen Szenen, wegen
der geplanten Umsiedlung und vor dem Haus der Liebenden, auch
wegen des geplanten Einheitslohns für Weiße wie
für Schwarze, eine Vertreibung des ordnungzerstörenden
Sündenbocks durch den wild gewordenen Mob bleibt jedoch
aus. Eine ungewöhnlich mutige Liebesgeschichte für
Hollywood, in der die Frau vorbehaltlos dem Mann ihre Liebe
eingesteht, ohne jedoch Erwiderung zu erfahren. Ein Film,
der den Paradigmenwechsel vom gesettleten Amerika auf dem
Weg zum anderen Amerika benennt, der Hollywood auf den Weg
zum New Hollywood führte.
Gesellschaftliche Veränderung zeigt auch LES AMANTS
RÉGULIERS von Philippe Garrel auf, der dieses Jahr
in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde.
Wie Bernardo Bertollucis DREAMERS von 2003 taucht Garrel in
das Paris der 68er Jahre ein; sein Sohn, Louis Garrel, schon
in DREAMERS eine der drei Hauptfiguren, spielt hier François,
der im Zentrum einer Aktivisten-Clique steht. LES AMANTS RÉGULIERS
konkurriert somit nicht mit dem filmischen Entwurf Bertoluccis
auf 68, sondern stellt sich neben ihn, wie ein anderes filmisches
Denken über Geschichte. Garrels Film ist auch in seiner
Ästhetik rückwärtsgewandt: Schwarzweiß
und in langen Einstellungen zeichnet er die Chronik einer
gesellschaftlichen Revolution nach, die sich über Drogenkonsum
und freie Liebe im Privaten verankerte und die am Ende, nach
dem Umschwung der Geschichte, in den Zerfall der revolutionären
Bündnisse mündet und die Figuren in ihre persönlichen
Biographien entläßt. Eine melancholisch stimmende
Sicht auf den Verlust von Jugend, auf das Ende des visionären
Aufbruchs, wenn in der Realität angekommen wird. Seine
Bilder entwickelt Garrel in langsamen Szenen, sie erhalten
große, elegische Präsenz. Ein Film, der aus der
Tiefe der Zeit zu kommen scheint und den Zuschauer in die
Vergangenheit mithinabzieht.
Wie sich die große Geschichte mit den Geschichten,
wie Filmgeschichte mit politischer Geschichte zu tun hat,
das hat kein zweiter so intensiv reflektiert wie Jean-Luc
Godard. Wie ein Kommentar auf das eigene Programm kann so
durchaus die Aufnahme von HISTOIRE(S) DU CINÉMA - MOMENTS
CHOISIS in die Viennale verstanden werden. Die Kinofassung
von 2000 des in den 80er und 90er Jahren entstandenen monumentalen
Videowerks Godards zeigt verdichtend seine suggestiven Thesen
über den Zusammenhang von Krieg, Gewalt, Sex und visueller
Kunst und Kinematographie. Wie Geschichte und Filmgeschichte
sich durchdringen, wie der Film vor der Realität ausweicht,
wie sich die Realität der Illusionmaschine wieder bemächtigt,
montiert Godard in einem großartigen Durchgang durch
Filmzitate, Kriegsaufnahmen, sexuellen Darstellungen, Malerei.
Weder darunter noch darüber, legt sich die Tonspur auf
die gleiche Ebene wie die Bilder: ein Staccato an Aussagen,
Zitaten, Beobachtungen, Andeutungen neben den schnell montierten
Filmausschnitten und Texttafeln. Musik, Worte und Bilder-Zeichen
verdichten sich zu intensiven Bedeutungszusammenhängen.
Ein Film, den man immer wieder sehen sollte.
Kino läßt Geschichte zu Geschichten gerinnen,
entläßt Realität ins Imaginäre. Bisweilen
manifestiert sich das Imaginäre als phantastisches Bild,
an der Schnittstelle zur Fiktion, die sich noch durch Illusion
glaubhaft machen will. In Tsai Ming-liangs THE WAYWARD CLOUD
gibt es diese Momente, wo der Film eintritt in einen Raum,
der sich jenseits der Illusion von Wahrhaftigkeit befindet.
Wie in THE RIVER versieht Tsai Ming-liang die taiwanesische
Gesellschaft mit einem epidemischen Vorzeichen: Weil in Taipei
Wassernotstand herrscht, werden Wassermelonen zum Flüssigkeitsreservoir
der Bevölkerung. Shiang-chyi trinkt das pürierte
Fruchtfleisch literweise - und trifft auf den Wassermelonenverächter
Hsiao-kang. Der ist Pornodarsteller und muß für
die Kamera das rote Fleisch der Melonen, das sich zwischen
die Beine einer Frau spreizt, zum Höhepunkt bringen.
Auf dem Fluß treiben die grünen Melonen wie unheilvolle
Tiere, die sich über die Maßen vermehrt haben.
Wassermelonen geraten bei Tsai Ming-liang zu einer absurden
Metapher vom Verlorensein und der Einsamkeit der Menschen,
die in einer grotesken Existenz angekommen sind. So bewegt
sich THE WAYWARD CLOUD auch fortwährend an der Schnittstelle
zwischen Tragödie und Komödie, in die hinein unvermittelt
Gesangsnummern brechen, in denen die Figuren grell kostümiert
sind und die Tradition der Revue zum camphaften Trash werden
läßt. Alles kippt in diesem Film, der immer düsterer,
brutaler und immer weniger lustig wird. Am Schluß gibt
es eine fast zehn Minuten dauernde Vergewaltigungsszene vor
laufender Kamera der Porno-Produzenten. Hsiao-kang nimmt sich
seine bewußtlose Partnerin in allen Stellungen vor -
und Shiang-chyi sieht ihm dabei zu, nur wenige Meter von ihm
entfernt. Irgendwann richtet sich sein Blick auf sie, sein
Sex gilt fortan nur noch ihr, während er sich das bewußtlose
Mädchen vornimmt. Steht plötzlich auf und spritzt
in Shiang-chyis Mund ab. Diese schluckt und schluckt. Tsai
Ming-liang bringt hier die Bilder an die Grenzen denkbarer
Gewalttätigkeit, die über die Dauer der Szenen auf
den Zuschauer übergreift. Seine lakonisch-gewaltvollen
Einsamkeitsstudien erzeugen eine Eindringlichkeit, die ganz
und gar physisch ist.
Manchmal kann auch intellektuell gemeintes Kino sehr physisch
werden. So bei Klaus Wyborny, der vor seinem neuen Film LIEDER
DER ERDE, TEIL 2: EINE ANDERE WELT einen lange Rede hielt,
in der er über die Überfahrt Cristóbal Colóns
sprach, über die Bedeutung des Gesangs für die lyrische
Struktur des Films und die antiken Bezüge der Gedichte
von Durs Grünbein, und wie das alles zusammenhängt
mit seinem "Kino der Zukunft". Große Erwartungen
an den intellektuellen Anspruch des Films, und dann die ersten
Bilder des ersten Gesangs, übertitelt mit "Die See,
die See": Aufnahmen von Wasser, Atlantikwasser, Wellen,
zu Wellen sich türmendes Wasser. Dann der zweite Gesang,
"Aus Scriabins Grab": Wieder Aufnahmen von Wasser,
Atlantikwasser und Wellen, aber jetzt immer der Himmel über
dem Wasser. Dann der dritte Gesang, die Seemannsträume,
"Erinnerungen ans alte Europa": hochformatige Pin-Up-Girls,
die durch Computerverarbeitung holographisch verfremdet wurden,
an Ikonenmalerei erinnernd, eine provokative Bebilderung der
Heiligen-Huren-Dialektik. Nichts also bis dahin von dem Bildungskino,
das Wyborny in Aussicht stellte, sondern meditatives Bildmaterial
für Assoziationsräume, in die hinein der Zuschauer
abdriften kann. Durch die Diskursverweigerung seiner Bilder
schafft es Wyborny, aus einem sehr anstrengendem Film ein
echtes Feel-Good-Movie werden zu lassen. Und bekanntlich driftete
auch Columbus auf seiner Fahrt ab und fand nie den Weg nach
Indien. Aber auch er akzeptierte nie, wie Peter Tscherkassky,
die visuellen Grenzen der Welt.
Dunja Bialas
|