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Viennale 2005 27.10.2005
 
 
 
Reise an die Grenzen der Landkarte
WHERE THE TRUTH LIES
Tsai Ming-liangs THE WAYWARD CLOUD
 
 
 
 

Der österreichische Avantgarde-Filmemacher Peter Tscherkassky hat einmal gesagt: "In meinem Tagebuch waren alle großen Filme wie Nationen auf einer Landkarte aufgezeichnet. Als die Landkarte restlos ausgefüllt war, stellte ich mir vor, daß ich einmal Filme machen würde, die sich unsichtbar an den Grenzen entlang schlängeln, im Niemandsland zwischen den einzelnen Nationen."

Der Besuch der Viennale war diese Reise an die Ränder der Welt.

Die Ränder der kinematographischen Welt, das sind Filme, die einen herausfordern, die mit Sehgewohnheiten brechen, Filmlängen sprengen und den Zuschauer auch physisch in Beschlag nehmen. So zeigte die umfassende Retrospektive zu Andy Warhol den mehr als fünf Stunden dauernden SLEEP und setzte den Zuschauer acht Stunden lang dem Anblick von EMPIRE aus, Warhols filmischem Monumentalprojekt.
Dennoch sind dies Filme leichter Überschaubarkeit, auch weil sie monothematisch sind, verglichen mit dem fast elf Stunden dauernden Großprojekt THE EVOLUTION OF A FILIPINO FAMILY. Zwei gesehene Stunden gaben eine Ahnung über den langen Atem des Films, der in jeder Hinsicht ein Langzeitprojekt ist. Acht Jahre lang begleitete der philippinische Filmemacher Lav Diaz die Familie Gallardo, die sich durch Landwirtschaft mühsam am Leben erhält. Ein Spielfilm, der durch seine beobachtende Art dokumentarisch erscheint, der in langen Szenen das Leben auf dem Land und unter dem von Präsident Marcos verhängten Kriegsrecht einfängt. Die Bilder lassen die Atmosphäre von Versunkenheit entstehen, gefilmt wurde in kontrastreichem Schwarzweiß auf DigiBeta, der Bildeindruck ist oft unscharf, grobkörnig und dadurch wiederum sehr experimentell. Gesprochen wird nicht viel, es gibt keinen Score, nur die O-Töne der Natur und Radiosendungen bilden die Tonspur. Der Raum wird hier zum geheimen Protagonisten, der die Figuren umfängt, und mit dem sie existentiell zu tun haben. Die Szenen werden oft eingeführt durch eine lange Ansicht auf ein Stück Palmenwald oder einen Acker, dann kommen langsam die Figuren ins Bild, okkupieren den Raum, unterhalten sich. Das Spiel findet unter den Figuren statt, als wäre die Kamera abwesend, ohne performativen Ausdruck, der sich an den Zuschauer richtet.

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Daß Festivalleiter Hans Hurch diese Formen des Extremkinos nicht scheut, hat mit einem besonderen Geschick und auch dem Mut zur Mischprogrammierung zu tun: Um die Filme nicht im Kinosaal ungesehen verwaisen zu lassen, war der Eintritt zu den Langfilmen frei, Saalmieten und Betriebskosten außer acht lassend. Auf der anderen Seite gab es auch Filme im Programm, die in Cannes oder Venedig Erfolge gefeiert haben, das asiatische Kino, das auf volle Säle abonniert ist und Independents aus dem amerikanischen Raum. Die Viennale hat sich durch diesen Mut, der in einer langen Tradition gründet, wie sie wohl nur die Österreicher mit ihrer immer noch bahnbrechenden Avantgarde haben können, einen Ruhm erarbeitet, der trotz unkommerzieller Programmierung zum großen Erfolg der Viennale führt. Sie hat sich dadurch eine corporate identity gegeben, unterstützt durch das allgegenwärtige Merchandising, das den Viennale-Besucher mit einer ganzen Warenwelt umgibt: kultige Viennale-Tasche (dieses Jahr allerdings in Geht-gar-nicht-Gold), trendigem T-Shirt, Viennale-Tattoos, Viennale-Sportgums, Viennale-Stundenplan, in dem die Filme wie auf einem Tanzkärtchen verbucht werden können, Viennale-Streichhölzer und und und. Was woanders jedoch nervige Logo-Überschüttung ist, schafft es hier, ein ganz und gar junges Publikum in die Kinosäle zu locken. Dort, wo Kultur stattfindet, durch die Filme, die gezeigt werden, behauptet die Viennale durch ihr Auftreten Kult, und sichert sich und ihren Filmen das für den kommerziellen Erfolg notwendige Positiv-Image.
Hurch zeigt aktuelle Produktionen bekannter Regisseure (Gus van Sant, Lars von Trier, Woody Allen, Takeshi Kitano, um nur einige zu nennen), stellt Filme aus den 60er und 70er Jahren daneben, zeigt Spiel- und Dokumentarfilme und gibt experimentellen Filmen Raum. So kann auf der Viennale nicht nur der Überblick gewonnen werden über die aktuelle Kinolandschaft, sondern nebenbei außerhalb der Retrospektive auch ein wenig Filmgeschichte betrieben werden.

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WILD RIVER von Elia Kazan aus dem Jahr 1960 ist so ein Beispiel. Das Thema der Suche und der Landnahme der Siedlerfilme, dynamisiert sich in einer erneuten Mobilisierung der Gesellschaft, an deren Horizont das moderne Amerika auftaucht: Eine Siedlergemeinde auf einer Insel im Tennessee-River muß einem Staudammprojekt weichen; der mit der Umsiedlung beauftragte Chuck Clover (Montgomery Clift) unterfängt eine wilde Ehe mit einer alleinerziehenden Mutter (Carol Garth). Es kommt zu tumultartigen Szenen, wegen der geplanten Umsiedlung und vor dem Haus der Liebenden, auch wegen des geplanten Einheitslohns für Weiße wie für Schwarze, eine Vertreibung des ordnungzerstörenden Sündenbocks durch den wild gewordenen Mob bleibt jedoch aus. Eine ungewöhnlich mutige Liebesgeschichte für Hollywood, in der die Frau vorbehaltlos dem Mann ihre Liebe eingesteht, ohne jedoch Erwiderung zu erfahren. Ein Film, der den Paradigmenwechsel vom gesettleten Amerika auf dem Weg zum anderen Amerika benennt, der Hollywood auf den Weg zum New Hollywood führte.

Gesellschaftliche Veränderung zeigt auch LES AMANTS RÉGULIERS von Philippe Garrel auf, der dieses Jahr in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Wie Bernardo Bertollucis DREAMERS von 2003 taucht Garrel in das Paris der 68er Jahre ein; sein Sohn, Louis Garrel, schon in DREAMERS eine der drei Hauptfiguren, spielt hier François, der im Zentrum einer Aktivisten-Clique steht. LES AMANTS RÉGULIERS konkurriert somit nicht mit dem filmischen Entwurf Bertoluccis auf 68, sondern stellt sich neben ihn, wie ein anderes filmisches Denken über Geschichte. Garrels Film ist auch in seiner Ästhetik rückwärtsgewandt: Schwarzweiß und in langen Einstellungen zeichnet er die Chronik einer gesellschaftlichen Revolution nach, die sich über Drogenkonsum und freie Liebe im Privaten verankerte und die am Ende, nach dem Umschwung der Geschichte, in den Zerfall der revolutionären Bündnisse mündet und die Figuren in ihre persönlichen Biographien entläßt. Eine melancholisch stimmende Sicht auf den Verlust von Jugend, auf das Ende des visionären Aufbruchs, wenn in der Realität angekommen wird. Seine Bilder entwickelt Garrel in langsamen Szenen, sie erhalten große, elegische Präsenz. Ein Film, der aus der Tiefe der Zeit zu kommen scheint und den Zuschauer in die Vergangenheit mithinabzieht.

Wie sich die große Geschichte mit den Geschichten, wie Filmgeschichte mit politischer Geschichte zu tun hat, das hat kein zweiter so intensiv reflektiert wie Jean-Luc Godard. Wie ein Kommentar auf das eigene Programm kann so durchaus die Aufnahme von HISTOIRE(S) DU CINÉMA - MOMENTS CHOISIS in die Viennale verstanden werden. Die Kinofassung von 2000 des in den 80er und 90er Jahren entstandenen monumentalen Videowerks Godards zeigt verdichtend seine suggestiven Thesen über den Zusammenhang von Krieg, Gewalt, Sex und visueller Kunst und Kinematographie. Wie Geschichte und Filmgeschichte sich durchdringen, wie der Film vor der Realität ausweicht, wie sich die Realität der Illusionmaschine wieder bemächtigt, montiert Godard in einem großartigen Durchgang durch Filmzitate, Kriegsaufnahmen, sexuellen Darstellungen, Malerei. Weder darunter noch darüber, legt sich die Tonspur auf die gleiche Ebene wie die Bilder: ein Staccato an Aussagen, Zitaten, Beobachtungen, Andeutungen neben den schnell montierten Filmausschnitten und Texttafeln. Musik, Worte und Bilder-Zeichen verdichten sich zu intensiven Bedeutungszusammenhängen. Ein Film, den man immer wieder sehen sollte.

Kino läßt Geschichte zu Geschichten gerinnen, entläßt Realität ins Imaginäre. Bisweilen manifestiert sich das Imaginäre als phantastisches Bild, an der Schnittstelle zur Fiktion, die sich noch durch Illusion glaubhaft machen will. In Tsai Ming-liangs THE WAYWARD CLOUD gibt es diese Momente, wo der Film eintritt in einen Raum, der sich jenseits der Illusion von Wahrhaftigkeit befindet. Wie in THE RIVER versieht Tsai Ming-liang die taiwanesische Gesellschaft mit einem epidemischen Vorzeichen: Weil in Taipei Wassernotstand herrscht, werden Wassermelonen zum Flüssigkeitsreservoir der Bevölkerung. Shiang-chyi trinkt das pürierte Fruchtfleisch literweise - und trifft auf den Wassermelonenverächter Hsiao-kang. Der ist Pornodarsteller und muß für die Kamera das rote Fleisch der Melonen, das sich zwischen die Beine einer Frau spreizt, zum Höhepunkt bringen. Auf dem Fluß treiben die grünen Melonen wie unheilvolle Tiere, die sich über die Maßen vermehrt haben. Wassermelonen geraten bei Tsai Ming-liang zu einer absurden Metapher vom Verlorensein und der Einsamkeit der Menschen, die in einer grotesken Existenz angekommen sind. So bewegt sich THE WAYWARD CLOUD auch fortwährend an der Schnittstelle zwischen Tragödie und Komödie, in die hinein unvermittelt Gesangsnummern brechen, in denen die Figuren grell kostümiert sind und die Tradition der Revue zum camphaften Trash werden läßt. Alles kippt in diesem Film, der immer düsterer, brutaler und immer weniger lustig wird. Am Schluß gibt es eine fast zehn Minuten dauernde Vergewaltigungsszene vor laufender Kamera der Porno-Produzenten. Hsiao-kang nimmt sich seine bewußtlose Partnerin in allen Stellungen vor - und Shiang-chyi sieht ihm dabei zu, nur wenige Meter von ihm entfernt. Irgendwann richtet sich sein Blick auf sie, sein Sex gilt fortan nur noch ihr, während er sich das bewußtlose Mädchen vornimmt. Steht plötzlich auf und spritzt in Shiang-chyis Mund ab. Diese schluckt und schluckt. Tsai Ming-liang bringt hier die Bilder an die Grenzen denkbarer Gewalttätigkeit, die über die Dauer der Szenen auf den Zuschauer übergreift. Seine lakonisch-gewaltvollen Einsamkeitsstudien erzeugen eine Eindringlichkeit, die ganz und gar physisch ist.

Manchmal kann auch intellektuell gemeintes Kino sehr physisch werden. So bei Klaus Wyborny, der vor seinem neuen Film LIEDER DER ERDE, TEIL 2: EINE ANDERE WELT einen lange Rede hielt, in der er über die Überfahrt Cristóbal Colóns sprach, über die Bedeutung des Gesangs für die lyrische Struktur des Films und die antiken Bezüge der Gedichte von Durs Grünbein, und wie das alles zusammenhängt mit seinem "Kino der Zukunft". Große Erwartungen an den intellektuellen Anspruch des Films, und dann die ersten Bilder des ersten Gesangs, übertitelt mit "Die See, die See": Aufnahmen von Wasser, Atlantikwasser, Wellen, zu Wellen sich türmendes Wasser. Dann der zweite Gesang, "Aus Scriabins Grab": Wieder Aufnahmen von Wasser, Atlantikwasser und Wellen, aber jetzt immer der Himmel über dem Wasser. Dann der dritte Gesang, die Seemannsträume, "Erinnerungen ans alte Europa": hochformatige Pin-Up-Girls, die durch Computerverarbeitung holographisch verfremdet wurden, an Ikonenmalerei erinnernd, eine provokative Bebilderung der Heiligen-Huren-Dialektik. Nichts also bis dahin von dem Bildungskino, das Wyborny in Aussicht stellte, sondern meditatives Bildmaterial für Assoziationsräume, in die hinein der Zuschauer abdriften kann. Durch die Diskursverweigerung seiner Bilder schafft es Wyborny, aus einem sehr anstrengendem Film ein echtes Feel-Good-Movie werden zu lassen. Und bekanntlich driftete auch Columbus auf seiner Fahrt ab und fand nie den Weg nach Indien. Aber auch er akzeptierte nie, wie Peter Tscherkassky, die visuellen Grenzen der Welt.

Dunja Bialas

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