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Wien ist eine Stadt eigenartiger Melancholie, von traurig
stimmender Schönheit, was vielleicht daran liegt, dass
sie irgendwie schwebend einen Zustand zwischen Paris, Prag
oder Berlin einnimmt, groß ist und doch überschaubar.
Vielleicht liegt die melancholische Stimmung aber auch an
dem Hochnebel, der sich immer mehr zusammenzieht zu einer
fast undurchsichtigen Wand, während man nachts auf der
Dachterrasse der Urania am Schwedenkai steht, in der Viennale-Zentrale,
von fern das Dröhnen der Musik aus der SPEX-Edition vernehmend,
und dann angesichts des sich vernebelnden Blicks begreift,
dass der Film von Takashi Miike um 1 Uhr nachts nicht mehr
gesehen werden kann. Dass CHAKUSHIN ARI (ONE MISSED CALL)
wieder ein Film sein wird, den man unbedingt sehen wollte,
der aber ausfallen muss, weil schon zu viel gesehen wurde,
zu viel Gutes.
Melancholisch stimmt auch, dass ein Filmfestival wie die Viennale
überhaupt möglich ist, und andernorts eben nicht,
dass hier in zwölf Tagen inszeniert wird, was als beste
aller cinephilen Welten gelten kann. Die Viennale ist ein
Publikumsfestival ohne Wettbewerb, eins, das aus einer "Best-of"-Haltung
das ganze Jahr über Filme auf den großen Festivals
sammelt, aus Cannes, Venedig, Marseille, Berlin und auch München
das mitbringt, was als sehenswert gilt, ohne sich an den Strategien
von Markt und Filmgeschäft zu orientieren, und ohne in
der Auswahl der Filme einen wie auch immer gearteten Publikumsgeschmack
vorwegzunehmen. Viennale-Direktor Hans Hurch schreibt einleitend
zum Festival: "Man müsste im Kino wieder eine Form
entdecken, ein lebendiges und lustvolles Verhältnis zur
Welt, ein Nachforschen nach dem, was ist und was sein könnte.
(
) Ein Filmfestival kann sich entscheiden, Teil des
Kulturbetriebs zu sein oder eine Bewegung aufzunehmen, die
größer ist, die über Besucherzahlen und Medienberichte
hinausgeht und sich als Teil einer res publica versteht."
Die Besucherzahlen aber stiegen auch dieses Jahr wieder,
nahezu jede Vorstellung war ausverkauft, und dies auch im
größten Kino der Viennale, dem Gartenbaukino, das
immerhin 700 Plätze hat. Wenn man dann auf einem der
grünen Fauteuils sitzt, hinter einem der weite Korridor
des angefüllten Saals, und dann auf riesiger Leinwand
der Film anläuft, wird mit einem Mal klar, wie sehr doch
Wien und die Viennale gegen das Mainstream-Denken der Multiplexe
anschwimmt, und mit welchem Erfolg. Da kommt dann zwangsläufig
die Frage auf, wie die Viennale zu einem Publikum kommt, das
sich mit Bereitschaft auch das ansieht, was hierzulande als
regelrechtes Kassengift gilt, wie die Filme des Dokumentarfilmers
James Benning, dessen 13 LAKES, dreizehn zehnminütige
Ansichten auf nordamerikanische Seen, auf der Viennale Weltpremiere
feierte. Vielleicht ist es ja so, wie immer schon vermutet,
dass sich ein Festival sein Publikum auch heranzüchten
kann. So muss sich in den 42 Jahren Viennale herumgesprochen
haben, dass hier ein Festival der Cinephilie stattfindet,
das seinesgleichen sucht.
Das Konzept der Viennale heißt Filme mischen, das zu
zeigen, was Hans Hurch "einen bunten Haufen von Verschiedenem"
nennt, und "unter dem auch das Ausgestoßene Platz
hat". Spielfilme, Dokumentarfilme, Kurzfilme, so heißen
ganz unspezifisch die drei großen Hauptreihen, hinzu
kommen die Reihe "Fear East", asiatisches Kino in
der Mitternachtsschiene, und zwei "Tributes", für
Lauren Bacall und Amos Vogel. Schließlich noch die "Special
Programs" mit Filmen von den drei sehr unterschiedlichen
Filmemachern Jean-Pierre Gorin aus der Dziga-Vertov-Gruppe,
Koreeda Hirokazu, einem japanischen Independent-Dokumentarfilmer
der 95er-Generation, der abseits von Genrekino und erfolgversprechendem
Asia-Markt Filme macht, und Paul Fejos, Jahrgang 1897, ein
gebürtiger Ungar, der im Hollywood der 20er Jahre größte
Erfolge feierte, ihm aber alsbald den Rücken kehrte.
Bemerkenswert war hier die österreichische Produktion
SONNENSTRAHL über das Wien der 30er Jahre, in dem sich
die Ich-AG zweier Lebensmüder gegen die Massenarbeitslosigkeit
erhebt, dies alles 70 Jahre vor unserer Zeit, ein mehr als
erhellendes Märchen.
Jean-Pierre Gorin war selbst anwesend, zeigte u.a. LETTER
TO JANE, von 1972, in der Zusammenarbeit mit Godard entstanden,
ein 50-minütiges Nachdenken über ein Foto von Jane
Fonda in Vietnam. Ein statischer Film, der von der Kritik
seinerzeit "als unerträglich humorlos" eingestuft
worden war. Er setzt ein Nachdenken über Bildlichkeit
in Gang, befragt medienkritisch den propagandistischen Gehalt
eines scheinbar harmlosen Fotos, ist damit ganz aktuell. Gorin,
der seit seinem Bruch mit Godard in den USA Film unterrichtet,
hielt im Rahmen der Viennale drei Vorlesungen innerhalb der
neuen Reihe "Working Class", die das Nachdenken
und Sprechen über Film fördern will gegen den "hierzulande
existierenden Mangel an filmtheoretischem Diskurs", wie
es im Katalog heißt. Ein Beispiel für die Bewußtheit
der Viennale-Macher gegenüber dem, was in der französischen
Tradition Filmkritik' bedeutet, und ein weiteres Beispiel
für den ständig drohenden cineastischen Viennale-Overkill
angesichts des überbordenden, unmöglich ganz wahrnehmbaren,
und dabei doch so gerne gesehenen Programms.
***
Das, was schließlich in fünf Tagen Wien-Aufenthalt
gesehen wurde, erscheint angesichts des Angebots als ausgesprochen
wenig; wieviel konnte nicht gesehen werden, u.a. die noch
nicht erwähnte Retrospektive, die eine Werkschau von
Jean-Marie Straub und Danièle Huillet brachte, und
von ihnen ausgewählte Ford-Filme. Eine ungewöhnliche
Zusammenstellung, begründet durch das Schaffen von Straub/Huillet,
für die ihre Filme eine Mischung aus Ford und Mizoguchi
sind. Der amerikanische Filmtheoretiker Tag Gallagher, in
dessen Arbeiten über die Trias Straub/Huillet/Ford nachgelesen
werden kann, wurde in der Retro gesichtet, und wenn man bedenkt,
dass sich Jean-Pierre Gorin zum Filmemachen entschloss, nachdem
er von Straub/Huillet NICHT VERSÖHNT von 1965
gesehen hatte, dann schließt sich der Kreis, und das
von Hurch Zusammengetragene erscheint dann gar nicht mehr
zufällig, sondern motiviert durch programmatische Bezüge
und Querverweise zwischen den ausgewählten Filmen.
Diese starke, cinephile Klammer des Programms zeigte sich
auch mit THE MANCHURIAN CANDIDATE von John Frankenheimer
aus dem Jahr 1962, in einer vom Österreichischen Filmarchiv
restaurierten Kopie, die neben dem aktuellen Jonathan-Demme-Remake
zu sehen war. Im direkten Vergleich gab hier das Festival
die Gelegenheit zur anschaulichen Filmgeschichte, die nachvollziehbar
macht, wie jede historische Zeit ihre eigenen Abdrücke
auf einer Geschichte hinterlässt. THE MANCHURIAN CANDIDATE,
nach dem Bestseller von Richard Condon entstanden, steht in
den 60ern ganz unter dem Zeichen des Kalten Krieges, der Verschwörungstheorien
und des Traumas, das der Korea-Krieg bei den amerikanischen
Kriegsheimkehrern hinterlassen hat. Verhandelt wird das Thema
durch und durch freudianisch, mit der Hypnose, die durch die
Spielkarte der "Dame" ausgelöst wird und die
nur mit einer quasi-phallischen Überbietungsstrategie
der immer größeren Reize kuriert werden kann. Am
Ende wird dann nicht, wie durch die hypnotische Einflüsterung
befohlen, der Präsident erschossen, sondern das Senatoren-Paar,
das ihn stürzen will und eine totalitäre Macht anstrebt.
Ein Jahr nach dem Film wurde J.F. Kennedy in Dallas erschossen,
der Film daraufhin für 25 Jahre mit Aufführverbot
belegt und in die Archive verbannt.
Filme sind, das wird an diesem Beispiel einmal mehr deutlich,
Zeichen ihrer Zeit, greifen gesellschaftliche Themen auf,
bringen den Zustand der Gesellschaft zum Ausdruck. Wie die
Zeit sich verändert, dabei doch irgendwie gleich bleibt,
kam in wunderschöner Weise in KOHI JIKOU (CAFÉ
LUMIÈRE) von Hou Hsiao-hsien, dem Erneuerer des
taiwanesischen Kinos, zum Ausdruck. CAFÉ LUMIÈRE
ist eine japanische Produktion, was nicht ganz unwichtig ist,
denn der Film ist eine ausdrückliche Hommage zum 100.
Geburtstag von Yasujiro Ozu, wie im Vorspann vorweggeschickt.
CAFÉ LUMIÈRE ist eine Zustandsbeschreibung der
heutigen japanischen Gesellschaft, in Anbindung an das, was
Ozu immer am meisten interessiert hat: der Zusammenhalt und
das Auseinanderfallen der Familien, die Brüche mit der
gesellschaftlichen Tradition und die starkwerdenden Frauen,
die ihren eigenen Weg gehen. Die Hauptfigur des Films, Yoko,
ist eine junge Frau, die aus Taiwan kommt, in Japan lebt und
einen thailändischen Freund hat, von dem sie schwanger
ist, den sie aber nicht heiraten will, da er eine zu enge
Bindung an seine Mutter hat. Ihr Vater schweigt angesichts
der vaterlosen Schwangerschaft, trinkt stumm seinen Saké,
den Yoko von der Nachbarin leiht, als er und die Stiefmutter
in Tokio zu Besuch sind. Seit Ozu hat sich die Gesellschaft
verändert und ist dennoch gleich geblieben, die Witwer
heiraten wieder, die Töchter bekommen uneheliche Kinder,
immer noch aber wird im Alltag improvisiert, und die Züge,
bei Ozu Zeichen für das sich modernisierende Japan, stellen
Verbindungen zwischen den Menschen her, ohne sie aber wirklich
zusammenführen zu können. Wie bei Ozu blickt die
Kamera aus Kniehöhe, schwenkt von dort nach oben, geht
auf Augenhöhe zu den Figuren, erhebt sich über die
Stadt, zeigt immer wieder das Labyrinth des Schienennetzes
der Stadtbahn von Tokio. Ein schöner, ruhiger Film, der
das quasi-dokumentarische Beobachten seiner Hauptfigur über
das Erzählen der Geschichte stellt, seine Figur bisweilen
verliert durch die Lastwagen, die sich zwischen sie und die
Kamera schieben, so wie Yoko in der Großstadt den befreundeten
Hajime verliert. Ein Film, der nur das preisgibt, was Yoko
zu erzählen bereit ist, und der fern ist von emotionalisierendem
Psychologismus.
Auch auf eine Figur konzentriert, dabei aber sehr emotional,
auf den ersten Blick fast schon rührselig, war CLEAN
von Olivier Assayas, der bereits in Cannes gezeigt wurde und
dort nur verhaltene Zustimmung bekam. Erzählt wird die
Geschichte von Emily Wang (Maggie Cheung), einer heroinsüchtigen
Musikerbraut, die nach der Überdosis ihres Mannes für
ein halbes Jahr in den Knast muss, danach, von der Musikszene
ausgestoßen von Kanada nach Frankreich geht, sich mit
allerhand würdelosen Jobs über Wasser hält,
versucht, clean zu werden, um ihren achtjährigen Sohn
zurückzubekommen, der bei seinem Großvater (Nick
Nolte) in Sorge steht. Eine geradlinige Geschichte, die aber
keineswegs das schnulzige Genre der Familienzusammenführung
bedient. Zum einen, weil am Ende des Films mitnichten die
familiy values auferstehen, sondern die Wichtigkeit eines
sinnerfüllten Lebens, und zwar trotz der familiären
Bindungen und nicht etwa durch diese. Zum anderen, weil das
Thema der sozialen Heilung einer Ausgestoßenen Fragen
nach Entwurzelung und biografische Brüche aufwirft, die
dem Film weit wichtiger sind, als die Frage nach dem Drogenentzug
oder die Wiedergewinnung des Kindes. Zentral ist bei allem
die Musik; nicht nur ist sie Weg und Ausweg für die Hauptfigur,
eine neue Biografie zu finden, die Kind und Karriere vereint,
sie kann als konzeptionelles Zentrum des Films gesehen werden.
Alle Musikszenen filmte Assayas mit authentischen Musikern,
ließ sich für die Szenenführung von Tricky,
Liz Densmore, Emily Haines beraten. Gerade der Beginn des
Films lässt sich an wie ein Konzertfilm, die Kamera ist
dicht an der Sängerin dran, gibt der Musik ganzen Raum.
Ein kurzer, authentisch-dokumentarischer Moment des Films;
und wenn man bedenkt, dass Maggie Cheung die entwurzelte Emily
spielt, gehen diese authentischen Momente auf andere Teile
der Handlung über. Ihr Switchen zwischen den verschiedenen
Sprachen, ihre Unzugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität,
die Identifikation, wenn man so will, über ein künstlerisches
Tun, verleihen ihrer Figur eine selbstreflexive Authentizität
(zumal in der Szene, in der sie sich als Bedienung in einem
asiatischen Lokal abmüht); Authentizität vielleicht
auch beim gealterten Nick Nolte, der für ein humanes
Verhalten einsteht. Der Film ist nicht ohne Botschaft, aber
was er verkündet, ist dann doch etwas anderes und vielschichtigeres
als die Geschichte von der Mutter, die ihren Sohn wiedergewinnen
will, und in keinem Fall im Sinne von konservativen Werten
einer restaurativen Gesellschaft.
Sehr allegorisch anmutend war die iranisch-irische Koproduktion
DASTEN NATAMANN (STORY UNDONE) von Hassan Yektapanah,
der dieses Jahr in Locarno mit einem Silbernen Leoparden ausgezeichnet
wurde. Ein Film im Film über eine illegale Flüchtlingsgruppe,
die an der iranischen Grenze von einem Polizeitrupp aufgespürt
und zerschlagen wird. Nur dank des Täuschungsmanövers
der fiktiven Filmemacher gelingt es der Gruppe überhaupt,
bis an die Grenze vorzustoßen, camoufliert sich kurz
vor dem Grenzübertritt mit blauen Kontaktlinsen, Perücken
und gefärbten Haaren, um ihre iranische Identität
im Zielland Italien zu verbergen. Sinnbilder der Identitätsunterdrückung
und -vertauschung, die das Verlassen des Heimatlandes als
schmerzhaften Ich-Prozess veranschaulichen. Trotz aller symbolischen
Überhöhung, die dem iranischen Kino zueigen ist,
erzählt der Film nach den Worten des Regisseurs authentische
Realität. Eine Gänsehaut bleibt zurück nach
dem Scheitern der Flüchtenden. Der Erzählstil, um
sein Thema kreisend und in sich immer wieder aufs Neue wiederholenden
Dialogen, mutet utopielos an, was viel über den Status
der iranischen Gesellschaft aussagen mag, aber vielleicht
auch ein problematisches Zeugnis ablegt für das iranische
Kino jenseits von Kiarostami und Makhmalbaf, das nicht primär
für den europäischen Filmmarkt produziert wird,
sondern sich innerhalb der iranischen Grenzen entwickelt und
von Ausweglosigkeit zeugt.
Radikal und kraftvoll, dabei nicht minder allegorisch, war
LOS MUERTOS des Argentiniers Lisandro Alonso. Sein
Film zentriert sich um Vargas, der nach 30-jähriger Haft
entlassen wird und sich in den Urwald zu seiner Tochter aufmacht.
Es ist ein Weg, der ihn von der Zivilisation in die wilde
Natur führt, auch dahin zurück, wo er den Mord an
seinen beiden Brüdern begangen hatte. Eine Bootsfahrt
auf einem Fluss, die eine archaische Existenz offenlegt, wenn
Vargas Bienenwaben aus einem hohlen Baumstock holt und gierig
aussaugt. Eine Fahrt, die, wenn Vargas mit bloßen Händen
ein Zicklein schlachtet, in ein immer blutigeres Handeln mündet
und in den gewalttätigen Zusammenschluss von Mensch und
Natur. LOS MUERTOS ist ein fast sprachloser Film, in dem die
Natur weniger zum Antagonisten als zum zweiten Protagonisten
wird, mit einer Kamera, die in das tiefgrüne Blätterwerk
eindringt, und durch die unerbittliche Hitze, die das Bild
bei der Fahrt auf dem Fluss spürbar werden lässt.
Alonso drehte seinen Film mit dem Laienschauspieler Argentino
Vargas, der vor der Premiere von LOS MUERTOS in Buenos Aires
noch nie einen Film gesehen hatte. Eine überwältigende
Zustandsbeschreibung des Landes jenseits der Megalopole: Unter
seiner Oberfläche liegt eine irisierende Gewalttätigkeit,
deren blutiger Horizont das Verbrechen ist, das am Menschen
begangen wird.
Zerbrechende Familienverhältnisse wurden in dem argentinischen
Roadmovie LA FAMILIA RODANTE von Pablo Trapero thematisch,
an dessen Ende der Störer aus der Familienbande ausgestoßen
wird. Ein vergnüglicher, chaotischer Film, bei dem erstens
die Frage auftaucht, wie Trapero fünfzehn Familienmitglieder
in den Hinterraum eines Wohnmobils unterbringen konnte, was
aber nur filmische Konstruktion sein kann, zweitens die Frage
nach den Dreharbeiten entsteht, die in jedem Fall auf äußerst
beengtem Raum stattgefunden haben müssen.
Krimi und Familiensaga, wurden schließlich in den Filmen
von Arnaud Desplechin deutlich als erzählerische Grundmuster
des Kinos, die ihrerseits in den antiken Tragödien und
Mythen wurzeln. LÉO - EN JOUANT "DANS LA COMPAGNIE
DES HOMMES" von 2003 ist ein Projekt, das zugleich
fürs Fernsehen wie fürs Kino entstand, nach einem
Theaterstück von Edward Bond. Der Film erzählt die
politische Fabel von der Macht eines despotischen Waffenproduzenten
und seines Adoptivsohns, der ihn beerben möchte. Desplechin
zeigt direkte, blutige Gewalt im Erbfolgestreit und durchbricht
die Erzählung medial durch Videobilder, die Proben der
Schauspieler zur gefilmten Handlung zeigen. Oft wechselt in
der direkten Folge von Schuss und Gegenschuss das Medium.
Desplechin führt durch die Brechung die Filmebene in
ihrer Illusionshaftigkeit vor, bezieht sie zurück auf
das Spielen, thematisiert damit das Theater als Quelle seines
Films, und führt schließlich darüber die Tragödie
mit dem Thriller zusammen. Trotz aller Intellektualität,
die da aufscheint, ein packender Film, der sich nicht auf
seine Handlung resümieren lässt, sondern immer auch
vom Film als medialem Ort universeller Konflikte handelt.
ROIS ET REINE, der aktuelle Film von Desplechin, ist
sehr viel leichter als LÉO
, was nicht nur daran
liegt, dass Mathieu Amalric, der verträumte und vergebliche
Fraueneroberer des Neuen Französischen Kinos, den irregewordenen
Ex-Mann von Nora (Emanuelle Devos) spielt. Eine Geschichte,
in der die Familie durch den Entzug ihrer emotionalen Ursprünge
gesprengt wird: Der Sohn von Nora wächst ohne Vater auf,
der noch vor der Geburt starb. Nora ist bemüht, einen
neuen Vater für ihn zu finden; Ismaël, ihr Ex-Mann,
befindet sich in psychiatrischer Behandlung, soll ihren Sohn
adoptieren. Zur gleichen Zeit stirbt ihr Vater, und auf seinem
Todesbett verfasst er eine Hassschrift gegen den Hochmut von
Nora, der er das Recht aberkennt, sich seine Tochter zu nennen.
Immer wieder erscheinen am Rand der Szenen mythische Darstellungen
wie Lea mit dem Schwan, ganz beiläufig ins Bild gesetzt,
ohne thematisch zu werden, und dennoch scheinen sie das Kernstück
der Handlung abzubilden. Erzählt wird die universelle
Geschichte von der herkunftslosen Abstammung, dies sanft in
den Gesprächen zwischen den Figuren dahinfließend.
Auch die Kamera scheint hier zu plaudern, in einem beiläufigen,
sprunghaften Stil, wie man ihn von Desplechin spätestens
seit MA VIE SEXUELLE
bekannt ist. Ein Kino der Leichtigkeit
also, auch des Irreseins, das untergründig von einer
sich selbst unerträglich gewordenen Bourgeoisie handelt.
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Schön war es übrigens auch, auf dem Weg zum Gartenbaukino
Mathieu Amalric auf der Straße zu begegnen. Er schlenderte
dahin und sah sich die Umgebung an. Ganz ohne Melancholie.
Dunja Bialas
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