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Viennale '04 04.11.2004
 
 
Das beste aller möglichen Festivals
Clean
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Wien ist eine Stadt eigenartiger Melancholie, von traurig stimmender Schönheit, was vielleicht daran liegt, dass sie irgendwie schwebend einen Zustand zwischen Paris, Prag oder Berlin einnimmt, groß ist und doch überschaubar. Vielleicht liegt die melancholische Stimmung aber auch an dem Hochnebel, der sich immer mehr zusammenzieht zu einer fast undurchsichtigen Wand, während man nachts auf der Dachterrasse der Urania am Schwedenkai steht, in der Viennale-Zentrale, von fern das Dröhnen der Musik aus der SPEX-Edition vernehmend, und dann angesichts des sich vernebelnden Blicks begreift, dass der Film von Takashi Miike um 1 Uhr nachts nicht mehr gesehen werden kann. Dass CHAKUSHIN ARI (ONE MISSED CALL) wieder ein Film sein wird, den man unbedingt sehen wollte, der aber ausfallen muss, weil schon zu viel gesehen wurde, zu viel Gutes.

Melancholisch stimmt auch, dass ein Filmfestival wie die Viennale überhaupt möglich ist, und andernorts eben nicht, dass hier in zwölf Tagen inszeniert wird, was als beste aller cinephilen Welten gelten kann. Die Viennale ist ein Publikumsfestival ohne Wettbewerb, eins, das aus einer "Best-of"-Haltung das ganze Jahr über Filme auf den großen Festivals sammelt, aus Cannes, Venedig, Marseille, Berlin und auch München das mitbringt, was als sehenswert gilt, ohne sich an den Strategien von Markt und Filmgeschäft zu orientieren, und ohne in der Auswahl der Filme einen wie auch immer gearteten Publikumsgeschmack vorwegzunehmen. Viennale-Direktor Hans Hurch schreibt einleitend zum Festival: "Man müsste im Kino wieder eine Form entdecken, ein lebendiges und lustvolles Verhältnis zur Welt, ein Nachforschen nach dem, was ist und was sein könnte. (…) Ein Filmfestival kann sich entscheiden, Teil des Kulturbetriebs zu sein oder eine Bewegung aufzunehmen, die größer ist, die über Besucherzahlen und Medienberichte hinausgeht und sich als Teil einer res publica versteht."

Die Besucherzahlen aber stiegen auch dieses Jahr wieder, nahezu jede Vorstellung war ausverkauft, und dies auch im größten Kino der Viennale, dem Gartenbaukino, das immerhin 700 Plätze hat. Wenn man dann auf einem der grünen Fauteuils sitzt, hinter einem der weite Korridor des angefüllten Saals, und dann auf riesiger Leinwand der Film anläuft, wird mit einem Mal klar, wie sehr doch Wien und die Viennale gegen das Mainstream-Denken der Multiplexe anschwimmt, und mit welchem Erfolg. Da kommt dann zwangsläufig die Frage auf, wie die Viennale zu einem Publikum kommt, das sich mit Bereitschaft auch das ansieht, was hierzulande als regelrechtes Kassengift gilt, wie die Filme des Dokumentarfilmers James Benning, dessen 13 LAKES, dreizehn zehnminütige Ansichten auf nordamerikanische Seen, auf der Viennale Weltpremiere feierte. Vielleicht ist es ja so, wie immer schon vermutet, dass sich ein Festival sein Publikum auch heranzüchten kann. So muss sich in den 42 Jahren Viennale herumgesprochen haben, dass hier ein Festival der Cinephilie stattfindet, das seinesgleichen sucht.

Das Konzept der Viennale heißt Filme mischen, das zu zeigen, was Hans Hurch "einen bunten Haufen von Verschiedenem" nennt, und "unter dem auch das Ausgestoßene Platz hat". Spielfilme, Dokumentarfilme, Kurzfilme, so heißen ganz unspezifisch die drei großen Hauptreihen, hinzu kommen die Reihe "Fear East", asiatisches Kino in der Mitternachtsschiene, und zwei "Tributes", für Lauren Bacall und Amos Vogel. Schließlich noch die "Special Programs" mit Filmen von den drei sehr unterschiedlichen Filmemachern Jean-Pierre Gorin aus der Dziga-Vertov-Gruppe, Koreeda Hirokazu, einem japanischen Independent-Dokumentarfilmer der 95er-Generation, der abseits von Genrekino und erfolgversprechendem Asia-Markt Filme macht, und Paul Fejos, Jahrgang 1897, ein gebürtiger Ungar, der im Hollywood der 20er Jahre größte Erfolge feierte, ihm aber alsbald den Rücken kehrte. Bemerkenswert war hier die österreichische Produktion SONNENSTRAHL über das Wien der 30er Jahre, in dem sich die Ich-AG zweier Lebensmüder gegen die Massenarbeitslosigkeit erhebt, dies alles 70 Jahre vor unserer Zeit, ein mehr als erhellendes Märchen.

Jean-Pierre Gorin war selbst anwesend, zeigte u.a. LETTER TO JANE, von 1972, in der Zusammenarbeit mit Godard entstanden, ein 50-minütiges Nachdenken über ein Foto von Jane Fonda in Vietnam. Ein statischer Film, der von der Kritik seinerzeit "als unerträglich humorlos" eingestuft worden war. Er setzt ein Nachdenken über Bildlichkeit in Gang, befragt medienkritisch den propagandistischen Gehalt eines scheinbar harmlosen Fotos, ist damit ganz aktuell. Gorin, der seit seinem Bruch mit Godard in den USA Film unterrichtet, hielt im Rahmen der Viennale drei Vorlesungen innerhalb der neuen Reihe "Working Class", die das Nachdenken und Sprechen über Film fördern will gegen den "hierzulande existierenden Mangel an filmtheoretischem Diskurs", wie es im Katalog heißt. Ein Beispiel für die Bewußtheit der Viennale-Macher gegenüber dem, was in der französischen Tradition ‚Filmkritik' bedeutet, und ein weiteres Beispiel für den ständig drohenden cineastischen Viennale-Overkill angesichts des überbordenden, unmöglich ganz wahrnehmbaren, und dabei doch so gerne gesehenen Programms.

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Das, was schließlich in fünf Tagen Wien-Aufenthalt gesehen wurde, erscheint angesichts des Angebots als ausgesprochen wenig; wieviel konnte nicht gesehen werden, u.a. die noch nicht erwähnte Retrospektive, die eine Werkschau von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet brachte, und von ihnen ausgewählte Ford-Filme. Eine ungewöhnliche Zusammenstellung, begründet durch das Schaffen von Straub/Huillet, für die ihre Filme eine Mischung aus Ford und Mizoguchi sind. Der amerikanische Filmtheoretiker Tag Gallagher, in dessen Arbeiten über die Trias Straub/Huillet/Ford nachgelesen werden kann, wurde in der Retro gesichtet, und wenn man bedenkt, dass sich Jean-Pierre Gorin zum Filmemachen entschloss, nachdem er von Straub/Huillet NICHT VERSÖHNT von 1965 gesehen hatte, dann schließt sich der Kreis, und das von Hurch Zusammengetragene erscheint dann gar nicht mehr zufällig, sondern motiviert durch programmatische Bezüge und Querverweise zwischen den ausgewählten Filmen.

Diese starke, cinephile Klammer des Programms zeigte sich auch mit THE MANCHURIAN CANDIDATE von John Frankenheimer aus dem Jahr 1962, in einer vom Österreichischen Filmarchiv restaurierten Kopie, die neben dem aktuellen Jonathan-Demme-Remake zu sehen war. Im direkten Vergleich gab hier das Festival die Gelegenheit zur anschaulichen Filmgeschichte, die nachvollziehbar macht, wie jede historische Zeit ihre eigenen Abdrücke auf einer Geschichte hinterlässt. THE MANCHURIAN CANDIDATE, nach dem Bestseller von Richard Condon entstanden, steht in den 60ern ganz unter dem Zeichen des Kalten Krieges, der Verschwörungstheorien und des Traumas, das der Korea-Krieg bei den amerikanischen Kriegsheimkehrern hinterlassen hat. Verhandelt wird das Thema durch und durch freudianisch, mit der Hypnose, die durch die Spielkarte der "Dame" ausgelöst wird und die nur mit einer quasi-phallischen Überbietungsstrategie der immer größeren Reize kuriert werden kann. Am Ende wird dann nicht, wie durch die hypnotische Einflüsterung befohlen, der Präsident erschossen, sondern das Senatoren-Paar, das ihn stürzen will und eine totalitäre Macht anstrebt. Ein Jahr nach dem Film wurde J.F. Kennedy in Dallas erschossen, der Film daraufhin für 25 Jahre mit Aufführverbot belegt und in die Archive verbannt.

Filme sind, das wird an diesem Beispiel einmal mehr deutlich, Zeichen ihrer Zeit, greifen gesellschaftliche Themen auf, bringen den Zustand der Gesellschaft zum Ausdruck. Wie die Zeit sich verändert, dabei doch irgendwie gleich bleibt, kam in wunderschöner Weise in KOHI JIKOU (CAFÉ LUMIÈRE) von Hou Hsiao-hsien, dem Erneuerer des taiwanesischen Kinos, zum Ausdruck. CAFÉ LUMIÈRE ist eine japanische Produktion, was nicht ganz unwichtig ist, denn der Film ist eine ausdrückliche Hommage zum 100. Geburtstag von Yasujiro Ozu, wie im Vorspann vorweggeschickt. CAFÉ LUMIÈRE ist eine Zustandsbeschreibung der heutigen japanischen Gesellschaft, in Anbindung an das, was Ozu immer am meisten interessiert hat: der Zusammenhalt und das Auseinanderfallen der Familien, die Brüche mit der gesellschaftlichen Tradition und die starkwerdenden Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Die Hauptfigur des Films, Yoko, ist eine junge Frau, die aus Taiwan kommt, in Japan lebt und einen thailändischen Freund hat, von dem sie schwanger ist, den sie aber nicht heiraten will, da er eine zu enge Bindung an seine Mutter hat. Ihr Vater schweigt angesichts der vaterlosen Schwangerschaft, trinkt stumm seinen Saké, den Yoko von der Nachbarin leiht, als er und die Stiefmutter in Tokio zu Besuch sind. Seit Ozu hat sich die Gesellschaft verändert und ist dennoch gleich geblieben, die Witwer heiraten wieder, die Töchter bekommen uneheliche Kinder, immer noch aber wird im Alltag improvisiert, und die Züge, bei Ozu Zeichen für das sich modernisierende Japan, stellen Verbindungen zwischen den Menschen her, ohne sie aber wirklich zusammenführen zu können. Wie bei Ozu blickt die Kamera aus Kniehöhe, schwenkt von dort nach oben, geht auf Augenhöhe zu den Figuren, erhebt sich über die Stadt, zeigt immer wieder das Labyrinth des Schienennetzes der Stadtbahn von Tokio. Ein schöner, ruhiger Film, der das quasi-dokumentarische Beobachten seiner Hauptfigur über das Erzählen der Geschichte stellt, seine Figur bisweilen verliert durch die Lastwagen, die sich zwischen sie und die Kamera schieben, so wie Yoko in der Großstadt den befreundeten Hajime verliert. Ein Film, der nur das preisgibt, was Yoko zu erzählen bereit ist, und der fern ist von emotionalisierendem Psychologismus.

Auch auf eine Figur konzentriert, dabei aber sehr emotional, auf den ersten Blick fast schon rührselig, war CLEAN von Olivier Assayas, der bereits in Cannes gezeigt wurde und dort nur verhaltene Zustimmung bekam. Erzählt wird die Geschichte von Emily Wang (Maggie Cheung), einer heroinsüchtigen Musikerbraut, die nach der Überdosis ihres Mannes für ein halbes Jahr in den Knast muss, danach, von der Musikszene ausgestoßen von Kanada nach Frankreich geht, sich mit allerhand würdelosen Jobs über Wasser hält, versucht, clean zu werden, um ihren achtjährigen Sohn zurückzubekommen, der bei seinem Großvater (Nick Nolte) in Sorge steht. Eine geradlinige Geschichte, die aber keineswegs das schnulzige Genre der Familienzusammenführung bedient. Zum einen, weil am Ende des Films mitnichten die familiy values auferstehen, sondern die Wichtigkeit eines sinnerfüllten Lebens, und zwar trotz der familiären Bindungen und nicht etwa durch diese. Zum anderen, weil das Thema der sozialen Heilung einer Ausgestoßenen Fragen nach Entwurzelung und biografische Brüche aufwirft, die dem Film weit wichtiger sind, als die Frage nach dem Drogenentzug oder die Wiedergewinnung des Kindes. Zentral ist bei allem die Musik; nicht nur ist sie Weg und Ausweg für die Hauptfigur, eine neue Biografie zu finden, die Kind und Karriere vereint, sie kann als konzeptionelles Zentrum des Films gesehen werden. Alle Musikszenen filmte Assayas mit authentischen Musikern, ließ sich für die Szenenführung von Tricky, Liz Densmore, Emily Haines beraten. Gerade der Beginn des Films lässt sich an wie ein Konzertfilm, die Kamera ist dicht an der Sängerin dran, gibt der Musik ganzen Raum. Ein kurzer, authentisch-dokumentarischer Moment des Films; und wenn man bedenkt, dass Maggie Cheung die entwurzelte Emily spielt, gehen diese authentischen Momente auf andere Teile der Handlung über. Ihr Switchen zwischen den verschiedenen Sprachen, ihre Unzugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, die Identifikation, wenn man so will, über ein künstlerisches Tun, verleihen ihrer Figur eine selbstreflexive Authentizität (zumal in der Szene, in der sie sich als Bedienung in einem asiatischen Lokal abmüht); Authentizität vielleicht auch beim gealterten Nick Nolte, der für ein humanes Verhalten einsteht. Der Film ist nicht ohne Botschaft, aber was er verkündet, ist dann doch etwas anderes und vielschichtigeres als die Geschichte von der Mutter, die ihren Sohn wiedergewinnen will, und in keinem Fall im Sinne von konservativen Werten einer restaurativen Gesellschaft.

Sehr allegorisch anmutend war die iranisch-irische Koproduktion DASTEN NATAMANN (STORY UNDONE) von Hassan Yektapanah, der dieses Jahr in Locarno mit einem Silbernen Leoparden ausgezeichnet wurde. Ein Film im Film über eine illegale Flüchtlingsgruppe, die an der iranischen Grenze von einem Polizeitrupp aufgespürt und zerschlagen wird. Nur dank des Täuschungsmanövers der fiktiven Filmemacher gelingt es der Gruppe überhaupt, bis an die Grenze vorzustoßen, camoufliert sich kurz vor dem Grenzübertritt mit blauen Kontaktlinsen, Perücken und gefärbten Haaren, um ihre iranische Identität im Zielland Italien zu verbergen. Sinnbilder der Identitätsunterdrückung und -vertauschung, die das Verlassen des Heimatlandes als schmerzhaften Ich-Prozess veranschaulichen. Trotz aller symbolischen Überhöhung, die dem iranischen Kino zueigen ist, erzählt der Film nach den Worten des Regisseurs authentische Realität. Eine Gänsehaut bleibt zurück nach dem Scheitern der Flüchtenden. Der Erzählstil, um sein Thema kreisend und in sich immer wieder aufs Neue wiederholenden Dialogen, mutet utopielos an, was viel über den Status der iranischen Gesellschaft aussagen mag, aber vielleicht auch ein problematisches Zeugnis ablegt für das iranische Kino jenseits von Kiarostami und Makhmalbaf, das nicht primär für den europäischen Filmmarkt produziert wird, sondern sich innerhalb der iranischen Grenzen entwickelt und von Ausweglosigkeit zeugt.

Radikal und kraftvoll, dabei nicht minder allegorisch, war LOS MUERTOS des Argentiniers Lisandro Alonso. Sein Film zentriert sich um Vargas, der nach 30-jähriger Haft entlassen wird und sich in den Urwald zu seiner Tochter aufmacht. Es ist ein Weg, der ihn von der Zivilisation in die wilde Natur führt, auch dahin zurück, wo er den Mord an seinen beiden Brüdern begangen hatte. Eine Bootsfahrt auf einem Fluss, die eine archaische Existenz offenlegt, wenn Vargas Bienenwaben aus einem hohlen Baumstock holt und gierig aussaugt. Eine Fahrt, die, wenn Vargas mit bloßen Händen ein Zicklein schlachtet, in ein immer blutigeres Handeln mündet und in den gewalttätigen Zusammenschluss von Mensch und Natur. LOS MUERTOS ist ein fast sprachloser Film, in dem die Natur weniger zum Antagonisten als zum zweiten Protagonisten wird, mit einer Kamera, die in das tiefgrüne Blätterwerk eindringt, und durch die unerbittliche Hitze, die das Bild bei der Fahrt auf dem Fluss spürbar werden lässt. Alonso drehte seinen Film mit dem Laienschauspieler Argentino Vargas, der vor der Premiere von LOS MUERTOS in Buenos Aires noch nie einen Film gesehen hatte. Eine überwältigende Zustandsbeschreibung des Landes jenseits der Megalopole: Unter seiner Oberfläche liegt eine irisierende Gewalttätigkeit, deren blutiger Horizont das Verbrechen ist, das am Menschen begangen wird.

Zerbrechende Familienverhältnisse wurden in dem argentinischen Roadmovie LA FAMILIA RODANTE von Pablo Trapero thematisch, an dessen Ende der Störer aus der Familienbande ausgestoßen wird. Ein vergnüglicher, chaotischer Film, bei dem erstens die Frage auftaucht, wie Trapero fünfzehn Familienmitglieder in den Hinterraum eines Wohnmobils unterbringen konnte, was aber nur filmische Konstruktion sein kann, zweitens die Frage nach den Dreharbeiten entsteht, die in jedem Fall auf äußerst beengtem Raum stattgefunden haben müssen.

Krimi und Familiensaga, wurden schließlich in den Filmen von Arnaud Desplechin deutlich als erzählerische Grundmuster des Kinos, die ihrerseits in den antiken Tragödien und Mythen wurzeln. LÉO - EN JOUANT "DANS LA COMPAGNIE DES HOMMES" von 2003 ist ein Projekt, das zugleich fürs Fernsehen wie fürs Kino entstand, nach einem Theaterstück von Edward Bond. Der Film erzählt die politische Fabel von der Macht eines despotischen Waffenproduzenten und seines Adoptivsohns, der ihn beerben möchte. Desplechin zeigt direkte, blutige Gewalt im Erbfolgestreit und durchbricht die Erzählung medial durch Videobilder, die Proben der Schauspieler zur gefilmten Handlung zeigen. Oft wechselt in der direkten Folge von Schuss und Gegenschuss das Medium. Desplechin führt durch die Brechung die Filmebene in ihrer Illusionshaftigkeit vor, bezieht sie zurück auf das Spielen, thematisiert damit das Theater als Quelle seines Films, und führt schließlich darüber die Tragödie mit dem Thriller zusammen. Trotz aller Intellektualität, die da aufscheint, ein packender Film, der sich nicht auf seine Handlung resümieren lässt, sondern immer auch vom Film als medialem Ort universeller Konflikte handelt.

ROIS ET REINE, der aktuelle Film von Desplechin, ist sehr viel leichter als LÉO…, was nicht nur daran liegt, dass Mathieu Amalric, der verträumte und vergebliche Fraueneroberer des Neuen Französischen Kinos, den irregewordenen Ex-Mann von Nora (Emanuelle Devos) spielt. Eine Geschichte, in der die Familie durch den Entzug ihrer emotionalen Ursprünge gesprengt wird: Der Sohn von Nora wächst ohne Vater auf, der noch vor der Geburt starb. Nora ist bemüht, einen neuen Vater für ihn zu finden; Ismaël, ihr Ex-Mann, befindet sich in psychiatrischer Behandlung, soll ihren Sohn adoptieren. Zur gleichen Zeit stirbt ihr Vater, und auf seinem Todesbett verfasst er eine Hassschrift gegen den Hochmut von Nora, der er das Recht aberkennt, sich seine Tochter zu nennen. Immer wieder erscheinen am Rand der Szenen mythische Darstellungen wie Lea mit dem Schwan, ganz beiläufig ins Bild gesetzt, ohne thematisch zu werden, und dennoch scheinen sie das Kernstück der Handlung abzubilden. Erzählt wird die universelle Geschichte von der herkunftslosen Abstammung, dies sanft in den Gesprächen zwischen den Figuren dahinfließend. Auch die Kamera scheint hier zu plaudern, in einem beiläufigen, sprunghaften Stil, wie man ihn von Desplechin spätestens seit MA VIE SEXUELLE… bekannt ist. Ein Kino der Leichtigkeit also, auch des Irreseins, das untergründig von einer sich selbst unerträglich gewordenen Bourgeoisie handelt.

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Schön war es übrigens auch, auf dem Weg zum Gartenbaukino Mathieu Amalric auf der Straße zu begegnen. Er schlenderte dahin und sah sich die Umgebung an. Ganz ohne Melancholie.

Dunja Bialas

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