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Jeder Tag der Berlinale scheint wie unter einem Motto zu
stehen, ein Motto, das sich freilich ganz von selbst und wie
durch Zufall der Programmation ergibt. Jeder Film verzahnt
sich mit dem vorherigen, wird mitgetragen in den neuen. Es
bildet sich eine Kette aus, eine thematische Kette der Ähnlichkeit
und der Unterschiedlichkeit. Wenn man aus den Kinosälen kommt,
und sich auf dem künstlichen Potsdamer Platz, der Berlinale-City
wiederfindet, dann sehnt man sich nach einem kleinen Stück
Wirklichkeit. Und vielleicht gibt einem die Erinnerung an
das echte Leben die Frage, die die Filme durchzog: Was macht
das Kino mit dem Leben?
Zunächst der italienische TUTTA LA CONOSCENZA DEL MONDO von
Eros Puglielli, den spiritueller Hauch umschwebte. DAS GANZE
WISSEN DER WELT scheint von dem italienischen Epistemologen
Umberto Eco inspiriert, mit seiner Frage nach dem abendländischen
Wissen und dem, was davon übrig geblieben ist, in der esoterischen
Welt. Oder: Ob die esoterischen Glaubensrichtungen vielleicht
endlich die absolute Wahrheit bereithalten, in ihrer Widersprüchlichkeit
einen gemeinsamen Kern der Weisheit verborgen halten. Umberto
Eco, das ist bekannt, ist ein Humorist, und er hat selten
Fragen nach der Wahrheit ohne ironischem Augenzwinkern verhandelt.
Auch der italienische Regisseur will eine Parodie, eine Satire
auf das esoterische Over-brain. Leider nicht sehr überzeugend.
Zu schnell verlässt er jede humoreske Szene, ohne Vertrauen
auf die Wirkung, die sich ergibt, wenn eine Situation ausgespielt
wird. Mehr ist über den italienischen Film an dieser Stelle
leider nicht zu sagen, es war zwar ein netter Start in die
Berlinale, der aber die Lust am italienischen Kino nicht gerade
fördert.
Ganz anders ALAI PAYUTHEY (WAVES). Im Zwischenraum der filmischen
Bilder, dort wo ein Bild vom anderen getrennt ist, aus dem
Spalten der indischen Zügen heraus beginnt eine wunderschöne
Liebesgeschichte, die gnadenlos die indische Tradition dekonstruiert.
Da wird am Anfang gesungen und getanzt, der Film hebt an als
augenbetörend fotografiertes Musical, das Blumen und Saris,
indische Schönheit zeigt und Jeanshosen und ein Farbenswitching
wie aus einer Pafurmwerbung. Dann werden die Bilder immer
realistischer, technoid am Schluss. Was zunächst wie die Geschichte
von Romeo und Julia beginnt, die gegen den Willen der Eltern
heimlich heiraten, endet in einem Ehealltag, in dem nichts
mehr von der anfänglichen Romantik übrigblieb. Die Frau zieht
Männerklamotten an, das Ehepaar verstrickt sich in Missverständnisse,
gleitet in den Streit ab, und es wird jeder Tag markiert,
an dem gestritten wird im Kalender - und das ist JEDER Tag.
Die Verhältnisse kehrten sich um, es bleibt dann nur noch
Zerstörung der familiären Bünde und auf einmal wächst daraus
etwas, was am Anfang nur indisches Kino-Klischee gewesen war:
LIEBE. WAVES verschafft grosse Lust darauf, den indischen
Film zu entdecken: Bilderopulenz, Fröhlichkeit, der Blick
auf das reale Leben.
Um das Leben geht es auch in MORTAL TRANSFERT, dem neuen
Film von Jean-Jacques Beineix, nach achtjähriger Pause (für
uns ist es eine Pause, die 15 Jahre gedauert hat, nur noch
die Erinnerung an BETTY BLUE ist geblieben). Das Leben, mit
dem wir zu tun haben, zeigt sich hier als Angriff des Unbewussten
auf die bewusste Welt. Die "tödliche Übertragung" ist eine
sarkastische Parodie auf die Psychoanalyse. Was passiert,
wenn das Unbewusste sich erhebt und sich in realen Bildern
äussert? Dann entsteht ein Film, der das uneigentliche Sprechen
in die wörtliche Sprache konkreter Bilder übersetzt, einen
Plot heraufbeschwört, in dem nichts mehr real ist, und doch
alles wirklich. Ein Psychoanalytiker verschläft die Ermordung
seiner Patientin auf seiner Couch, woraus sich der Plot entwickelt.
Daraus festzuhalten ist: Eine weibliche Leiche ist, wenn sich
Libido und Thanatos begegnen. Ein Krimi ist, wenn der, der
die Leiche entdeckt, versucht, sie zu beseitigen, weil er
denkt, er wäre der Mörder. Und eine Komödie ist, wenn sich
darüber allerhand missverständliche Situationen ergeben und
nahezu alle Figuren in den Kreis der Verdächtigen gezogen
werden. Beineix hat einen Film gemacht, der ein Fall dafür
ist, wenn das französische Kino Mainstream sein will: Unterhaltsam
und attraktiv im Casting, letztlich ein netter Film, über
den man viel schreiben könnte, der es aber unter Umständen
gar nicht verdient.
Die tödliche Übertragung des Unbewussten auf den Patienten
- in gewissem Sinne trifft dies in umgekehrter Weise auf VIVRE
APRES - PAROLES DE FEMMES zu. Hier überträgt sich der Tod,
das Sterben eines Menschen auf die Hinterbliebenen - als Trauer,
als Verlust der Lebenslust, als tiefer Abgrund, der sich mit
einemal in der Biographie auftut. Ein harter Dokumentarfilm,
den Laurant Becue-Renard über bosnische Frauen gedreht hat,
die ihre Männer im Balkankrieg verloren. Was ihnen bleibt,
das sind allein die Worte, die Erinnerung, die erzählt werden
kann, die im Wort wiederaufersteht. Leider vertraut der Filmemacher
nicht auf die Kraft des Mediums. Er findet packende, überzeugende
Bilder, die die Situation des Verlustes der Frauen ganz deutlich
machen. Aber er lässt sie nicht wirklich "zu Worte kommen".
Bevor sie sich entfalten können, werden sie schon wieder aufgegeben,
der erzählerischen Kraft und Wirkungskraft der Ästhetik wird
nicht vertraut. Der Film mit dem schwierigen Thema wird so
wohl nur von vorneherein politisch Interessierte erreichen.
Deshalb ist es so wichtig, auch im Dokumentarfilm, die Grenze
zwischen Fiktion und Dokumentation zu überdenken. Bela Tarr
macht dies mit WERCKMEISTERS HARMONIEN auf seine Weise. Er
zeigt sich als ein Meister der politischen Parabel, der mit
der Geschichte von Janos (Lars Rudolph) und dem Wal, seiner
Beschäftigung mit der Harmonia Munda zur Weltenharmonie und
Fragen der Unendlichkeit kommt. Seine Schwarz-Weiss-Bilder
zeigen eine Lichtführung, die zur einer Hell-Dunkel-Erzählung
innerhalb der Plansequenzen führt, der Statik der Bilder Bewegung
einhaucht. WERCKMEISTERS HARMONIEN ist eine Parabel auf den
Krieg, mit dem alle Arten von Krieg gemeint sein können: der
Bürgerkrieg (als Anspielung auf das Zerfallen der Ostblockländer,
des Balkans, der slawischen Welt, in der sich Ungarn wie eine
Insel befindet), auf den faschistischen Krieg, wenn Hanna
Schygulla zusammen mit dem Polizeimeister Sauberkeit im Ort
herstellen will. Und auch auf die ideologische Infiltration
(faschistisch? / kommunistisch?), die zum Überfall auf die
Schwächsten des Ortes führt: den Kranken im Hospital. Der
Wahnsinn kann nur aufgehalten werden mit dem Bild eines alten,
knöchernen Greises, wie er sich ganz nackt und still, hilflos
im Baderaum zeigt. Der Film von Bela Tarr ist wie eine kinematographische
Erleichterung gewesen inmitten des Kinotempos von Berlin:
Einer, der sich Zeit nimmt, sogar noch über die Erzählsequenz
hinweg weiterzuerzählen. Der die Bilder herauslöst aus dem
Plot.
Eine ganz andere Erleichterung waren Emir Kusturicas SUPER-8-STORIES.
Temporeich und mit einer Musik, die einem Dank Boselautsprechern
die Ohren weggeblasen hat. Die SUPER-8-STORIES sind ein Dokumentarfilm
über die Band "No Smoking", die die Filmmusik zu SCHWARZE
KATZE WEISSER KATER lieferte, und mit der Kusturica die Konzerthallen
von Sarajewo, Berlin und Paris durchfegt. SUPER-8-STORIES
zeigt endlich, wie mit dem Medium des Films umgegangen werden
kann, wenn Realität dokumentiert werden soll. Für die "personal
memory", so Kusturica wurde ein bildlicher Ausdruck gesucht.
Mit Super-8 für die Kindheitserinnerungen, mit digitaler Kamera
für die Konzertdokumentation, und mit grober Schwarz-Weiss-Videoästhetik
für die Portraits im Reisebus, auf der Fahrt zum nächsten
Gig. All das scheint nichts neues zu sein, aber Kusturica
hat tatsächlich gezeigt, dass er die Schnittstelle zwischen
Wirklichkeit und Fiktion, die in einer Dokumentation allein
durch die Art der gezeigten Bilder und ihrer Verknüpfung entstehen
kann, beherrscht, und dass er ein grossartiger Konzertfilmer
ist. Oder, wie Dr. Nelle Karajlic, Bandleader von "No Smoking",
über Kusturica sagte: "When he does music, he thinks like
a director, and when he is directoring, he thinks like a musician."
Dunja Bialas
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