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Berlinale 2001 15.02.2001
 
 
     
 

Die Wirklichkeit ist weit auf dem Potsdamer Platz
Europäisches Kino: Neues von Beineix und Kusturica

 
 
Jean-Hugues Anglade in MORTAL TRANSFERT
von Jean-Jacques Beineix
       
 
 
 
 

Jeder Tag der Berlinale scheint wie unter einem Motto zu stehen, ein Motto, das sich freilich ganz von selbst und wie durch Zufall der Programmation ergibt. Jeder Film verzahnt sich mit dem vorherigen, wird mitgetragen in den neuen. Es bildet sich eine Kette aus, eine thematische Kette der Ähnlichkeit und der Unterschiedlichkeit. Wenn man aus den Kinosälen kommt, und sich auf dem künstlichen Potsdamer Platz, der Berlinale-City wiederfindet, dann sehnt man sich nach einem kleinen Stück Wirklichkeit. Und vielleicht gibt einem die Erinnerung an das echte Leben die Frage, die die Filme durchzog: Was macht das Kino mit dem Leben?

Zunächst der italienische TUTTA LA CONOSCENZA DEL MONDO von Eros Puglielli, den spiritueller Hauch umschwebte. DAS GANZE WISSEN DER WELT scheint von dem italienischen Epistemologen Umberto Eco inspiriert, mit seiner Frage nach dem abendländischen Wissen und dem, was davon übrig geblieben ist, in der esoterischen Welt. Oder: Ob die esoterischen Glaubensrichtungen vielleicht endlich die absolute Wahrheit bereithalten, in ihrer Widersprüchlichkeit einen gemeinsamen Kern der Weisheit verborgen halten. Umberto Eco, das ist bekannt, ist ein Humorist, und er hat selten Fragen nach der Wahrheit ohne ironischem Augenzwinkern verhandelt. Auch der italienische Regisseur will eine Parodie, eine Satire auf das esoterische Over-brain. Leider nicht sehr überzeugend. Zu schnell verlässt er jede humoreske Szene, ohne Vertrauen auf die Wirkung, die sich ergibt, wenn eine Situation ausgespielt wird. Mehr ist über den italienischen Film an dieser Stelle leider nicht zu sagen, es war zwar ein netter Start in die Berlinale, der aber die Lust am italienischen Kino nicht gerade fördert.

Ganz anders ALAI PAYUTHEY (WAVES). Im Zwischenraum der filmischen Bilder, dort wo ein Bild vom anderen getrennt ist, aus dem Spalten der indischen Zügen heraus beginnt eine wunderschöne Liebesgeschichte, die gnadenlos die indische Tradition dekonstruiert. Da wird am Anfang gesungen und getanzt, der Film hebt an als augenbetörend fotografiertes Musical, das Blumen und Saris, indische Schönheit zeigt und Jeanshosen und ein Farbenswitching wie aus einer Pafurmwerbung. Dann werden die Bilder immer realistischer, technoid am Schluss. Was zunächst wie die Geschichte von Romeo und Julia beginnt, die gegen den Willen der Eltern heimlich heiraten, endet in einem Ehealltag, in dem nichts mehr von der anfänglichen Romantik übrigblieb. Die Frau zieht Männerklamotten an, das Ehepaar verstrickt sich in Missverständnisse, gleitet in den Streit ab, und es wird jeder Tag markiert, an dem gestritten wird im Kalender - und das ist JEDER Tag. Die Verhältnisse kehrten sich um, es bleibt dann nur noch Zerstörung der familiären Bünde und auf einmal wächst daraus etwas, was am Anfang nur indisches Kino-Klischee gewesen war: LIEBE. WAVES verschafft grosse Lust darauf, den indischen Film zu entdecken: Bilderopulenz, Fröhlichkeit, der Blick auf das reale Leben.

Um das Leben geht es auch in MORTAL TRANSFERT, dem neuen Film von Jean-Jacques Beineix, nach achtjähriger Pause (für uns ist es eine Pause, die 15 Jahre gedauert hat, nur noch die Erinnerung an BETTY BLUE ist geblieben). Das Leben, mit dem wir zu tun haben, zeigt sich hier als Angriff des Unbewussten auf die bewusste Welt. Die "tödliche Übertragung" ist eine sarkastische Parodie auf die Psychoanalyse. Was passiert, wenn das Unbewusste sich erhebt und sich in realen Bildern äussert? Dann entsteht ein Film, der das uneigentliche Sprechen in die wörtliche Sprache konkreter Bilder übersetzt, einen Plot heraufbeschwört, in dem nichts mehr real ist, und doch alles wirklich. Ein Psychoanalytiker verschläft die Ermordung seiner Patientin auf seiner Couch, woraus sich der Plot entwickelt. Daraus festzuhalten ist: Eine weibliche Leiche ist, wenn sich Libido und Thanatos begegnen. Ein Krimi ist, wenn der, der die Leiche entdeckt, versucht, sie zu beseitigen, weil er denkt, er wäre der Mörder. Und eine Komödie ist, wenn sich darüber allerhand missverständliche Situationen ergeben und nahezu alle Figuren in den Kreis der Verdächtigen gezogen werden. Beineix hat einen Film gemacht, der ein Fall dafür ist, wenn das französische Kino Mainstream sein will: Unterhaltsam und attraktiv im Casting, letztlich ein netter Film, über den man viel schreiben könnte, der es aber unter Umständen gar nicht verdient.

Die tödliche Übertragung des Unbewussten auf den Patienten - in gewissem Sinne trifft dies in umgekehrter Weise auf VIVRE APRES - PAROLES DE FEMMES zu. Hier überträgt sich der Tod, das Sterben eines Menschen auf die Hinterbliebenen - als Trauer, als Verlust der Lebenslust, als tiefer Abgrund, der sich mit einemal in der Biographie auftut. Ein harter Dokumentarfilm, den Laurant Becue-Renard über bosnische Frauen gedreht hat, die ihre Männer im Balkankrieg verloren. Was ihnen bleibt, das sind allein die Worte, die Erinnerung, die erzählt werden kann, die im Wort wiederaufersteht. Leider vertraut der Filmemacher nicht auf die Kraft des Mediums. Er findet packende, überzeugende Bilder, die die Situation des Verlustes der Frauen ganz deutlich machen. Aber er lässt sie nicht wirklich "zu Worte kommen". Bevor sie sich entfalten können, werden sie schon wieder aufgegeben, der erzählerischen Kraft und Wirkungskraft der Ästhetik wird nicht vertraut. Der Film mit dem schwierigen Thema wird so wohl nur von vorneherein politisch Interessierte erreichen.

Deshalb ist es so wichtig, auch im Dokumentarfilm, die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation zu überdenken. Bela Tarr macht dies mit WERCKMEISTERS HARMONIEN auf seine Weise. Er zeigt sich als ein Meister der politischen Parabel, der mit der Geschichte von Janos (Lars Rudolph) und dem Wal, seiner Beschäftigung mit der Harmonia Munda zur Weltenharmonie und Fragen der Unendlichkeit kommt. Seine Schwarz-Weiss-Bilder zeigen eine Lichtführung, die zur einer Hell-Dunkel-Erzählung innerhalb der Plansequenzen führt, der Statik der Bilder Bewegung einhaucht. WERCKMEISTERS HARMONIEN ist eine Parabel auf den Krieg, mit dem alle Arten von Krieg gemeint sein können: der Bürgerkrieg (als Anspielung auf das Zerfallen der Ostblockländer, des Balkans, der slawischen Welt, in der sich Ungarn wie eine Insel befindet), auf den faschistischen Krieg, wenn Hanna Schygulla zusammen mit dem Polizeimeister Sauberkeit im Ort herstellen will. Und auch auf die ideologische Infiltration (faschistisch? / kommunistisch?), die zum Überfall auf die Schwächsten des Ortes führt: den Kranken im Hospital. Der Wahnsinn kann nur aufgehalten werden mit dem Bild eines alten, knöchernen Greises, wie er sich ganz nackt und still, hilflos im Baderaum zeigt. Der Film von Bela Tarr ist wie eine kinematographische Erleichterung gewesen inmitten des Kinotempos von Berlin: Einer, der sich Zeit nimmt, sogar noch über die Erzählsequenz hinweg weiterzuerzählen. Der die Bilder herauslöst aus dem Plot.

Eine ganz andere Erleichterung waren Emir Kusturicas SUPER-8-STORIES. Temporeich und mit einer Musik, die einem Dank Boselautsprechern die Ohren weggeblasen hat. Die SUPER-8-STORIES sind ein Dokumentarfilm über die Band "No Smoking", die die Filmmusik zu SCHWARZE KATZE WEISSER KATER lieferte, und mit der Kusturica die Konzerthallen von Sarajewo, Berlin und Paris durchfegt. SUPER-8-STORIES zeigt endlich, wie mit dem Medium des Films umgegangen werden kann, wenn Realität dokumentiert werden soll. Für die "personal memory", so Kusturica wurde ein bildlicher Ausdruck gesucht. Mit Super-8 für die Kindheitserinnerungen, mit digitaler Kamera für die Konzertdokumentation, und mit grober Schwarz-Weiss-Videoästhetik für die Portraits im Reisebus, auf der Fahrt zum nächsten Gig. All das scheint nichts neues zu sein, aber Kusturica hat tatsächlich gezeigt, dass er die Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Fiktion, die in einer Dokumentation allein durch die Art der gezeigten Bilder und ihrer Verknüpfung entstehen kann, beherrscht, und dass er ein grossartiger Konzertfilmer ist. Oder, wie Dr. Nelle Karajlic, Bandleader von "No Smoking", über Kusturica sagte: "When he does music, he thinks like a director, and when he is directoring, he thinks like a musician."

Dunja Bialas

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