Ein ganz neues Leben

Yeo-haeng-ja

Südkorea/F 2009 · 92 min. · FSK: ab 6
Regie: Ounie Lecomte
Drehbuch:
Kamera: Kim Hyun-seok
Darsteller: Kim Sea-ron, Park Do-yeon, Ko Ah-sung, Park Myeong-shin, Oh Man-seok u.a.
Jinhee

Jinhee allein in der Welt

Ein einfühl­samer Blick in eine Kinder­seele

Korea 1975: Jinhee ist acht, als sie von ihrem Vater auf eine große Reise mitge­nommen wird. Vorher kauft er ihr noch ein neues Kleid, einen schicken Mantel und elegante Schuhe. Gemeinsam essen sie im Restau­rant. Jinhee darf erstmals einen kleinen Schluck Schnaps probieren. Am nächsten Tag fahren sie lange mit dem Bus und kaufen einen Kuchen. Den bringen sie den Kindern im Waisen­haus mit. Das ist das Ziel der Reise. Ihr Vater – er hat eine neue Frau und ein kleines Baby – liefert sie dort ab, einfach so, ohne Erklärung oder Abschied. Jinhee will nicht wahrhaben, dass sie im Waisen­haus bleiben soll. Sie wartet auf die Rückkehr des Vaters. Sie isst nicht, spricht nicht mehr, weigert sich, die Kleidung, die ihr Vater ihr gekauft hat auszu­ziehen, versucht wegzu­laufen. Sie ist ein richtiger verstockter Trotzkopf, voller Trauer und Zorn.

Erst die einige Jahre ältere Sookhee, ebenfalls eine Waise, findet einen Draht zu Jinhee. Mit ihrer Hilfe lernt Jinhee, sich in die Gemein­schaft der Waisen einzu­glie­dern und die neue Umgebung zu akzep­tieren. Die beiden werden unzer­trenn­liche Freunde. Doch während die anderen Kinder eifrig Englisch lernen, um ihre Chancen bei ameri­ka­ni­schen Adop­tiv­el­tern zu verbes­sern, will Jinhee von Adoption nichts wissen. Sie hofft immer noch auf die Rückkehr ihres Vaters. Als dann Sookhee adoptiert wird, bricht für Jinhee erneut eine Welt zusammen. Wieder ist sie alleine, wieder terro­ri­siert sie mit ihrem Zorn das ganze Waisen­haus...

Nie verlässt der Film die Perspek­tive des Kindes. Besonders eindring­lich ist dies in der geschlos­senen Welt des Waisen­hauses. Hier bekommt der Zuschauer die kleinen Geheim­nisse der Mädchen zu sehen – nächt­liche Ausflüge in die Küche, um Kuchen zu stibitzen, Wahr­sa­ger­spiele oder ein verletzter Vogel, den sie heimlich pflegen. Doch kurz hinter dem Tor des Waisen­hauses endet diese Welt. Dahinter liegt das Ungewisse. Mit bangen Gefühlen aber auch voller Hoffnung steigen die Mädchen, die adoptiert werden, in das Auto, das sie durch das Tor in ein neues, unbe­kanntes Leben bringen wird, während ihre Kame­ra­dinnen ihnen einen Abschied­schor singen.

Regis­seurin Ounie Lecomte hat in ihrem Erst­lings­film eigene Erin­ne­rungen verar­beitet. Als Neun­jäh­rige kam sie aus einem korea­ni­schen Waisen­haus zu ihren Adop­tiv­el­tern nach Frank­reich. Und an vieles erinnert sie sich offenbar noch sehr genau. Davon zeugen schon am Anfang des Films exakt beob­ach­tete Details, etwa die nächt­liche Heimfahrt auf dem Fahrrad, ganz fest an den Rücken des Vaters geklam­mert, oder die Pause auf der Busfahrt, bei der sie mit den schönen neuen Schuhen in den Matsch tritt. Wie liebevoll ihr der Vater die Füße wäscht! Das Gesicht des Vaters ist dagegen nicht zu sehen.

Überhaupt liegt die Stärke des Films in der sorg­fäl­tigen Beob­ach­tung des kind­li­chen Univer­sums. Das Drehbuch verzichtet erfreu­li­cher­weise auf pädago­gi­sche Hinter­ge­danken oder gar Zeige­finger. Es konzen­triert sich ganz auf eine exakte Schil­de­rung der Gefühls­welt von Jinhee und die emotio­nale Achter­bahn­fahrt, die sie durch­macht. Dabei wird Ein ganz neues Leben von den sehr guten Kinder­dar­stel­lern getragen. Besonders Kim Sae-ron als Jinhee ist sensa­tio­nell. So eine aufrich­tige Mischung aus Trotz und Trau­rig­keit in einem Kinder­ge­sicht habe ich seit Ponette nicht mehr im Kino gesehen. Egal, ob es um das schüch­terne, sorgen­volle Mädchen geht, das vor den Adop­tiv­el­tern kaum den Mund aufkriegt, um die Momente der Freude oder um gren­zen­lose Wut auf die Welt, wenn sie voller Zorn die Puppen zerstört, die das Waisen­haus als Weih­nachts­ge­schenk bekommen hat, Kim Sae-ron kann die ganze Palette der Emotionen völlig natürlich vermit­teln – und lässt so die Zuschauer mit Jinhee mitfühlen.

Auf dem Filmfest München 2010 läuft Ein ganz neues Leben im Gasteig, Vortrags­saal der Biblio­thek am Mi. 30.6. 11:00 und Fr. 2.7. 14:30.