30.11.2017

Sag es der Welt

Mamma Saylah
Ein Film aus Sierra Leone eröffnet das dritte »Kino Asyl«: Mamma Saylah

Zum dritten Mal zeigen junge Geflüchtete bei Kino Asyl Filme aus ihrer Heimat

Von Natascha Gerold

8058 – das sei, so kann man auf der Homepage der Stadt München nachlesen, die Zahl der soge­nannten »unter­ge­brachten Flücht­linge«, die zum Stand Ende Juni dieses Jahres in der Landes­haupt­stadt lebten und deren Daten erfasst werden konnten. Dazu kamen 1670 unbe­glei­tete minder­jäh­rige Flücht­linge, deren Angaben nicht enthalten waren. Die meisten kommen laut der Übersicht im Internet aus Afgha­nistan, Syrien, Nigeria, dem Irak, Somalia und Pakistan: »77 Prozent der Flücht­linge in Münchner Unter­künften verfügen über eine dieser Staats­an­gehö­rig­keiten«, heißt es.

Knapp 10.000 Menschen also, knapp 10.000 Lebens­ge­schichten, von denen sich die meisten nur erahnen lassen. Egal, wie der Aufent­halts­status lauten mag: Die Erin­ne­rung an die alte Heimat wurde mitge­nommen in ein anderes Land, von dem oft nicht sicher ist, ob es wirklich die neue Heimat wird. Da aber zunächst mal im Hier und Jetzt gelebt wird, ist die Frage stets legitim: Welche Möglich­keiten gibt es für einen ange­kom­menen Menschen, sich mit seiner neuen Umwelt auf einer guten Basis in Verbin­dung zu setzen, in ihr Fuß zu fassen und sich Perspek­tiven zu schaffen?
Das Projekt Kino Asyl bietet so eine Möglich­keit. Hier stellen Menschen, die in ihrem jungen Leben bereits mit Flucht, Gewalt und Vertrei­bung unmit­telbar konfron­tiert wurden, Spiel-, Kurz- und Doku­men­tar­filme aus ihrem jewei­ligen Heimat­land vor. Anderen etwas von sich zeigen zu können stärkt Selbst­ver­trauen und ermög­licht einen direkten Zugang zum neuen Nächsten. »Als Übungs­raum kollek­tiver Empathie ist das Potenzial des Kinos tran­szen­dent und beinahe unbe­grenzt«, sagte Regisseur Chris­to­pher Nolan vor einigen Monaten in einem Interview im SZ-Magazin. Gemeinsam zeit­gleich Empfin­dungen zu teilen ist – in dieser emotio­nalen Unmit­tel­bar­keit, mitunter auch jenseits des Intel­lekts – vergli­chen mit anderen Kunst­formen wohl am besten im Kino möglich.

Es ist nicht nur, was so ein abge­dun­kelter Saal in einander fremden Menschen zu bewirken vermag: Er kann auch überall statt­finden. Wie das Kino in seinen Anfängen als Jahr­marktat­trak­tion, die von Ort zu Ort zog, um Menschen in ihren Bann zu schlagen, zieht auch Kino Asyl innerhalb Münchens von Spiel­stätte zu Spiel­stätte und präsen­tiert seine Filme an unter­schied­li­chen Münchner Kultur­schau­plätzen.

Die Kraft dieses unge­wöhn­li­chen Film­fes­ti­vals, das heuer aus einem 17-köpfigen Team aus Kuratoren und Machern besteht, ist nicht unbemerkt geblieben. Zum Einen wurde es 2016 mit dem ange­se­henen medi­en­päd­ago­gi­schen Dieter- Baacke-Preis geehrt, zum Anderen hat es auch bundes­weit bereits Nachahmer gefunden.
Eröffnet wird Kino Asyl 2017 mit zwei Kurz­filmen (So., 3.12. von 15 bis 17 Uhr; Pina­ko­thek der Moderne, Ernst von Siemens-Audi­to­rium): In Mammah Saylah, einem Sierra Leone­si­schen Spielfilm von Reel 2 Real Produc­tions and The Culture Heroes ist eine junge Frau perma­nentem Mobbing ihres Umfelds ausge­setzt, da sie nicht schwanger wird. Doch ihr Schicksal nimmt eine uner­war­tete Wendung …die beschwingte Musik stammt von Steady Bongo, einem der berühm­testen Musiker Sierra Leones und täuscht indes nicht darüber hinweg, unter welcher Diskri­mi­nie­rung Frauen wie die Heldin von Mammah Saylah mitunter zu leiden haben. Die schwei­ze­risch-syrische Co-Produk­tion Bon voyage von Marc Wilkins kata­pul­tiert den Zuschauer in die europäi­sche Tages­ak­tua­lität: Ein Ehepaar aus der Schweiz ist mit seiner Yacht im Urlaub auf dem Mittel­meer, ihre Wege kreuzen sich mit einem Flücht­lings­boot in Seenot. Einigen der Flücht­linge gelingt es, sich an Board der Yacht zu retten. Das Paar ringt mit sich und trifft eine folgen­schwere Entschei­dung … die Komple­xität des inter­na­tional vielfach ausge­zeich­neten 21-Minüters erfasst neben den Figuren auch den Schau­platz: Das offene Meer ist Sehn­suchts- und Schre­ckensort zugleich, je nachdem, auf welchem Boot man sich befindet.

Bei »Kino Asyl meets HFF« (Mo., 4.12. von 20 bis 23.55 Uhr, Audimax der Münchner HFF) treffen nicht nur Flücht­linge auf Filme­ma­cher, in einem Fall sind sie sogar in Perso­nal­union vertreten: Der in Zolling bei München lebende Afghane Ali Khorosh Fazli Bayat stellt Black Mission von Sarwar Mohammad vor – einen Action­thriller über eine afgha­ni­sche Spezi­al­ein­heit, die sich im Kampf gegen Korrup­tion in den gefähr­li­chen Norden des Landes begibt, bei dem der Kurator auch Co-Regie führte. Trotz widrigster Umstände gelang es dem krebs­kranken Regisseur Sarwar Mohammad, diesen kurzen Spielfilm in Afgha­nistan zu drehen und ein mehr als mutiges Filmteam zu rekru­tieren, das das Werk „der jungen Gene­ra­tion Afgha­nis­tans“ widmete. Nicht minder halten den Zuschauer die fünf Minuten von Docu­men­ters des syrischen Regis­seurs Faisal Attrache in Atem, in dem drei junge Männer die Gräu­el­taten des Regimes im Internet veröf­fent­li­chen wollen. Die kurze Zeit­spanne genügt dem Film, allen „civilian jour­na­lists“, die über Massaker von Regierung und Terro­risten allen Gefahren zum Trotz berichten, ein ehrvolles Denkmal zu setzen – und die Frage zu provo­zieren, welche Rolle dem Bürger-(oft)

Amateur-Bericht­erstatter gegenüber dem etablierten Reporter mitunter zukommt. Der Schlüs­sel­satz »Sag es der Welt« am Ende des Films jeden­falls hallt im Zuschauer wie ein Donner­schlag nach. Neben diesen beiden Filmen werden von der Hoch­schule für Fernsehen und Film Bis einer weint von Benjamin Leich­tens­tern sowie der große Gene­ra­tio­nen­quer­schnitt Alter von Veronika Hafner und Nancy Camaldo gezeigt.

Ausver­kauft bereits vor Event­be­ginn – gibt es bessere Werbung für ein Film­fes­tival? Für Drachen­läufer von Marc Forster am Diens­tag­vor­mittag (5.12.) gibt es keine Karten mehr, auch nicht für Men in the Arena am Mitt­woch­vor­mittag (6.12.). Doch glück­li­cher­weise hat Letzterer am Diens­tag­abend (5.12., 18.30 Uhr, Gasteig, Carl-Amery-Saal) noch eine Vorstel­lung, für die es bis dato noch freie Plätze gibt. In Men in the Arena porträ­tiert der US-Ameri­kaner J.R. Biersmith zwei junge Fußball-Profis, die für das soma­li­sche Natio­nal­team spielten, ihre Freund­schaft und ihre hürden­reiche drei­jäh­rige Odyssee, die in St. Louis vorerst ihr gutes Ende fand. Der Doku­men­tar­film zeigt die beiden Helden als Botschafter Somalias, einem Land, das seit drei Jahr­zehnten nichts als Bürger­krieg und Terror erlebt hat und auch unter dem Verbot eines Sports leidet, der doch alle Nationen in ihrer Leiden­schaft für ihn eint.

Im Anschluss wird die irakisch-deutsche Co-Produk­tion Haus ohne Dach (Di., 5.12. 21 Uhr, Gasteig, Carl-Amery-Saal) von Sollen Yusef gezeigt. Der letzte Wille ihrer Mutter schickt drei kurdischs­täm­mige Geschwister zurück in die Heimat des Nordirak. Dort sollen sie Mama neben ihrem Mann beerdigen, einem kurdi­schen Rebellen. Einst vor den Truppen Saddam Husseins nach Deutsch­land geflohen, kehren die Tochter und ihre beiden Brüder zurück, wo immer noch der Terror regiert – diesmal in Gestalt des IS. Wird es den Dreien gelingen, das Grab zu finden und den Wunsch der Mutter zu erfüllen? Dieser eigen­wil­lige Film von unterwegs mit feinem Humor hat seinen Ursprung in der Realität: Regis­seurin Yusef floh in den 1990er-Jahren mit ihrer Familie nach Deutsch­land aus jener Stadt, wo die gefähr­liche Mission der Geschwister mit dem Sarg der Mutter startet.

Kammer 3 der Kammer­spiele ist Spiel­stätte beider Scree­nings von Kino Asyl am Mitt­woch­abend. Und wie könnte man diesen ange­mes­sener beginn als mit dem größten Drama­tiker überhaupt? Shake­speare always and ever­yw­here – selbst und erst recht in Zaatari, einem der weltweit größten Lager in Jordanien, in dem zahl­reiche syrische Flücht­linge leben. Shake­speare in Zaatari (5.12., 19 Uhr) zeigt den syrischen Regisseur und Schau­spieler Nawar Bulbul, der als Persona non Grata schon lange in Jordanien lebt und vor einigen Jahren ins Camp ging, um mit den dort unter­ge­brachten Kindern »King Lear« und »Hamlet« einzuüben und aufzu­führen – als Maßnahme gegen die Trost- und Hoff­nungs­lo­sig­keit des Lager­all­tags. Die Smart­phone-Aufnahmen, die Bulbuls ehrgei­ziges Projekt abbil­deten, fanden ihren Weg zum syrischen Filme­ma­cher und Fotograf Maan Mouslli, der in Osnabrück lebt und aus dem Material schließ­lich diesen ergrei­fenden Kurz-Doku­men­tar­film machte, der in Cannes Welt­pre­miere hatte.

Bildung als beste Waffe dagegen, dass aus einer jungen trau­ma­ti­sierten keine verlorene Gene­ra­tion wird – Dieses Anliegen tritt als eindring­liche Botschaft nicht nur bei Men in the Arena oder Shake­speare in Zaatari in den Vorder­grund: Das Recht auf Lernen sollte weltweit Privileg von Kindern und Jugend­li­chen sein, in Wahrheit ist es, vor allem für Mädchen, oft ein verzwei­felter, aussichtslos wirkender Konflikt. Zum Beispiel in Afgha­nistan, wo Hana Makhmalbaf 2007 den Spielfilm Buddha zerfiel vor Scham (Mi., 5.12. 20.30 Uhr; Kammer 3 der Kammer­spiele) drehte: Das Bamiyan-Tal, der Ort, an dem die Taliban zu Beginn des Jahr­tau­sends die welt­berühmten Buddha-Statuen zerstörten, bildet die viel­sa­gende Kulisse für die Geschichte der fünf­jäh­rigen Bakhtay, die einen Kampf auf mehreren Ebenen ausfichten muss: Sie will unbedingt in die Schule gehen und muss sich gegen größere Jungs vertei­digen, die sie regel­mäßig bei grausamen Folter-Nach­stel­lungen quälen. Die damals 19-jährige Hana Makhmalbaf insze­nierte das erschüt­ternde Spiel der kleinen Haupt­dar­stel­lerin bereits in drama­ti­scher Perfek­tion, wie man sie von Vater Moshe und Schwester Samira kennt. Noch erschüt­ternder ist viel­leicht die Antwort, die Makhmalbaf bei einem Screening auf die Frage gab, ob das Mädchen auf die Gewalt­dar­stel­lungen vorbe­reitet werden musste: »Nein, so etwas kennt sie aus ihrem Alltag.«

Für ein gutes Ende sind die besten Vorbe­rei­tungen getroffen – Bei der Closing Party im Import Export um 21 Uhr zeigt Kino Asyl die Doku Kino Asyl, eine Retro­spek­tive von Tobias Rehm, der das Projekt von Anfang an seit 2014 im tech­ni­schen Bereich begleitet.

Kino Asyl wird veran­staltet vom Medi­en­zen­trum München in Koope­ra­tion mit Refugio München sowie der Münchner Stadt­bi­blio­thek, der Hoch­schule für Fernsehen und Film (HFF) München, der Pina­ko­thek der Moderne, Import Export und den Münchner Kammer­spielen. Parallel zur Filmreihe findet auch die Foto­aus­stel­lung »Keine Flücht­linge mehr« von Max Kratzer im »Pixel« (Rosen­heimer Straße 5, im Durchgang zur S-Bahn) statt.
Sämtliche Veran­stal­tungen sind gratis, Spenden will­kommen.
Weitere Infos und das Programm­heft gibt es hier.

Kino Asyl ist eine Veran­stal­tung unter dem Dach der Filmstadt München e.V., die das ganz­jährig das Angebot der Münchner Kino­land­schaft erweitert und ergänzt.