21.09.2017

Guilty Pleasure Film­kritik

(c) Siegfried Kracauer Preis 2017
V.l.: Dr. Bergengruen, MFG, Lukas Foerster, Stipendiat 2017/18, Federico Sanchez, artechock-Autor mit lobender Erwähnung, Elena Meilicke, Cargo-Autorin mit der besten Filmkritik, Frédéric Jaeger, VdFk, Dr. Kötz, FFDF, Petra Müller, Filmstiftung NRW – Foto: Siegfried Kracauer Preis

artechock-Autor Federico Sanchez wird beim Siegfried Kracauer Preis mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet

Von artechock-Redaktion

Unser Film­kri­tiker Federico Sanchez, den viele in München besser unter seinem Künst­ler­namen Pico Be kennen, ist einer der ganz neuen Autoren von artechock. Jetzt hat der leiden­schaft­liche Cineast, der in seinem Haupt­beruf Musiker ist, aus dem Stand die etablierte Film­kritik-Szene gehörig aufge­mischt: Sein bei artechock veröf­fent­li­cher Text »Beyoncé im Mons­ter­truck« über Raoul Pecks I Am Not Your Negro wurde bei der Verlei­hung des Siegfried Kracauer Preis am vergan­genen Samstag mit einer lobenden Erwähnung ausge­zeichnet und fand damit besondere Beachtung unter 80 Einrei­chungen. Die Jury (bestehend u.a. aus Cargo-Kollege Ekkehard Knörer, der 2016 den Preis erhielt) lobte und erwähnte in ihrer Begrün­dung, die Kritik sei »schnell im Kopf und kontextua­li­siert den Film originell und kennt­nis­reich«. Originell und kennt­nis­reich, genau so haben wir Federico Sanchez aka Pico Be kennen­ge­lernt, bei dem es bereits in der Familie bei gemein­samen Film­sich­tungen sehr cine­as­tisch zuge­gangen sein soll.

Wir freuen uns sehr für Federico, der übrigens von der Einrei­chung, die die Redaktion für ihn vorge­nommen hatte, nichts ahnte, und gratu­lieren ihm zu seinem außer­or­dent­li­chen Erfolg! Und: Wir freuen uns auf seine Texte, die noch kommen werden!

Als Danke­schön an die Redaktion hat er uns einen etwas älteren, bis dato unver­öf­fent­lichten Text zu Moonlight vermacht, den er selbst viel stärker als die jetzt ausge­zeich­nete Kritik findet. Sie zeigt seine große Leiden­schaft und seinen unver­blümten Hang zur Poesie, wenn es gilt, über Film nach­zu­denken und in ihm und mit ihm zu leben.

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Moonlight, oder die kentau­ri­sche Verklä­rung im Diner der Implo­sionen

Ich sitze in einem Burger­grill in München und habe eine Wolke aus Moonlight über mir hängen.
Was ist das, mit diesem traurigen Film. Wieso lässt er meine Gedanken nicht ziehen. Erst konnte ich ihn kaum Ansehen, jetzt kann ich nicht Aufhören, über Moonlight nach­zu­denken. Gleich die Anfangs­se­quenz war eine große Enttäu­schung; ich mag es nicht, wenn die Kamera wie ein Hubschrauber um die Prot­ago­nisten kreist. Ich mag nicht Auge Gottes als Luft­nummer der Technik sein. Ich mag Filme, die mir nicht vor der Nase herum­tän­zelnd sagen, was für tolle Filme sie sind, sondern mich einfach dasitzen lassen. Wenn ich mag, schaue ich zu, wenn nicht, dann sitze ich weiter da, wie jetzt in diesem Burger­grill, der Teil einer Kette ist, die offen­sicht­lich für Wieder­auf­fors­tung steht. Ich warte jeden­falls darauf, dass es aus der Wolke über mir gleich regnet.
Dabei mag ich durchaus, wenn sich ein Film zu erkennen gibt. Die Illusion entzau­bert wird. Wenn etwa in der Eröff­nungs­se­quenz von Godards Le mépris die Kamera gezeigt wird... und gleich eine neue Illusion mit erzeugt – musste diese Kamera schließ­lich von einer weiteren Kamera gefilmt werden. Aber was will mir eine Kreis­be­we­gung rund um eine Gruppe von Schul­kin­dern zeigen? Wie soll man mit so einer Bewegung in einem Film landen können? Lieber wäre ich jetzt im Bistro bei den Italie­nern. Die mehr Diner-Spirit haben, als der Burger-Laden, in dem ich sitze. Die Strahl­kraft der neuen Bürger­ketten hingegen will sich wie ein alles über­schat­tendes Mondlicht über meine Alltage stülpen, aber was ist das für eine Furcht? Ich hänge also erstmal in der Luft. Und denke... Moonlight... überall Moonlight. Das ist es! Gleich eingangs will der Film das loswerden, und sagt es mit der Kreis­be­we­gung: Auch wenn es taghell ist, Sonne satt, so ist unser Dasein in Mondlicht getaucht, vom Schul­kind­alter an. In weißes, grelles, aber eben nicht helles Licht.

Das Sonnen­licht war zunächst einer der Haupt­gründe gewesen, warum die ursprüng­lich an der Ostküste ange­sie­delte US-Film­in­dus­trie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr­hun­derts ins sonnige Kali­for­nien, nach Hollywood, umzog. Die ersten Film­stu­dios waren große Glas­häuser gewesen, in denen noch mit Sonnen­licht die Filme hoch­ge­zogen wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten starke elek­tri­sche Lampen die Sonne ab, und die Ateliers wurden finsterer gebaut – von da an war in Hollywood ewige Nacht. Mit oder ohne Mond. Die Weißen und ihre Lichter hatten schon lange vorher, Jahr­hun­derte vorher, Moonlight–über–alles ausge­rufen. Und nachts, weil die Straßen­la­ternen ausge­schossen sind, ist hier in Liberty City, Miami, sowieso nichts als Moonlight. Übrigens gibt es auch in Florida ein Hollywood, ein vornehm­lich weißes Hollywood. Liberty City ist schwarz. Wie alle, die an diesem Film mitge­wirkt haben, vom Dreh­buch­autor über den Regisseur bis zu den Rollen, sämt­li­chen Rollen. Moonlight heisst der Film, und bannen will er es, das Moonlight, und endlich loswerden, über den Film hinaus, ein für allemal. Und immer noch gibt es in jeder Hood die Heli­ko­pter, die mit ihren Schein­wer­fer­ke­geln das Mondlicht orches­trieren.

In Moonlight black boys look blue – Schlüs­sel­worte zu diesem unendlich traurigen Film. Der kleine Chiron hört sie aus dem Mund des Exil­ku­ba­ners Juan, als dieser dem Jungen versucht Mut zu machen. Chiron ist ein Außen­seiter, der so gut wie nie ein Wort sagt. Der nicht weiss, wie ihm geschieht. Als wäre sein Schicksal der Songtext von einem alten Lied, das Louis Armstrong sang: What did I do to be so black and blue? Blue. Traurig. Später, als Erwach­sener, wird sich Chiron Black nennen. Wie, um sich gegen all das Mondlicht zu wehren. Black, nicht Blue, wie sie Juan auf Kuba nannten. Black, und raus bist du, in Unsicht­bar­keit entschwunden. Namen sind in diesem Film wichtig. Komisch, dass die Rolling Stones vierzig Jahre nach ihrem nur halbwegs miss­lun­genen Black and Blue Album ein gänzlich verzicht­bares veröf­fent­li­chen, auf dem sie Black durch Lonesome ersetzen. Black and Blue, die Musik zu Teilen in Disco–Munich entstanden, die Bandfotos auf Sanibel Island, Florida, mag eine kokette weiße Travestie–Show gewesen sein, obschon furchtbar pampig; Auf Blue & Lonesome ist für Zwei­deu­tig­keiten kein Platz. Man soll den alten weißen Briten das Blacksein so richtig abnehmen. And I said: Raus aus meiner Wolke!

Namen und Verrat. Juan ist Johannes, der mit Chiron baden geht. Ich will nicht von einer Taufe sprechen, aber Juan ist der erste gute Mensch, den Chiron hat, und er wird von ihm enttäuscht werden, verraten, ebenso wie von Kevin, der ersten und einzigen Liebe, die Chiron hat. Ich ziehe die Bistros der Italiener, die mich vorbe­haltlos Bello taufen, diesem Burger­grill hier vor. Meine Gespräche mit den Italie­nern sind stan­dar­di­siert. »Ciao Bello, Americano?« »Ja, Americano.« »Schwarz?« »Schwarz.« Das mag ich. Ich adoptiere gern den Bello für mich. So, wie Chiron den Black, mit dem ihn Kevin immer frotzelt, für sich adoptiert. Die Nacht am Strand, da sich die beiden Jungen offen­bahren und sich lieben, ewig im Gedächtnis. Viel Christ­liche Symbolik ist in diesem Film, aber die Symbole sind noch älter.

Das Chris­tentum als Trans­fi­gu­ra­tion altgrie­chi­scher Mytho­logie hängt sinn­fällig über Chiron, der sich ungelenk wie ein junges Fohlen bewegt. Es ist ein Fliehen: Chiron ist auf der Flucht, Moonlight ist ihm immer auf den Fersen. Die Kamera gönnt keine Ablenkung, keine Zwischen­szenen. Es gibt nur den einen Hand­lungs­strang, der dreimal einen Blick auf Chiron wirft, einer Verklä­rung gleich. Als Kind, als Teenager, als junger Mann. Chiron ist der latei­ni­sierte Cheiron, Sohn des Kronos und der Philyra, Halb­bruder des Zeus und einer der Kentauren – Misch­wesen aus Pferd und Mensch. Cheiron gleicht körper­lich diesen wilden Tier­men­schen, die König Ixion schuf, als er betrunken die Göttin Hera beläs­tigte, die sich in eine Wolke verwan­delte, um ihre Ruhe zu haben, in welche Ixion aber unab­lässig buchs­täb­lich bohrte, doch Cheiron selbst ist anderen Ursprungs: Um nicht von seiner Gattin Rhea entdeckt zu werden, soll Kronos ihn in der Gestalt eines Pferdes mit Philyra gezeugt haben. Seinem Wesen nach galt dieser Kentaur als weise und als der gerech­teste unter den Kentauren. Ein Freund der Götter, der über Kennt­nisse in der Arznei­kunde verfügte. Philyra war jedoch so enttäuscht über ihre »Miss­ge­burt«, dass sie Zeus bat, sich verwan­deln zu können, was dieser ihr gewährte. So wurde sie zu einer Linde. Und der Burger­grill macht alles falsch und bestellt für sein Interieur statt einer Linde tausend Birken. Der deutsche Wald gegen die Lichter, die in Hollywood gesetzt werden... dafür tausche ich kein Pferd gegen ein Rind.

In Moonlight findet die High-School-Mobbing-Story keine Erlösung im American Dream, sondern endet in der Implosion des ameri­ka­nischsten aller möglichen Settings – dem Diner. Das Tisch­ge­spräch in einem Diner mit Fens­ter­blick auf die Schnell­straße ist eines der wich­tigsten Motive innerhalb der ameri­ka­ni­schen Kultur­ge­schichte. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass der Blick vom Diner auf die Straße die ameri­ka­ni­sche Entspre­chung für das Fens­ter­motiv der europäi­schen Romantik ist. Mit dem Unter­schied, dass in der Romantik die Ferne ein Sehn­suchtsort bleibt, während in Amerika alles immer in Bewegung ist. So gesehen ist die Enge der Diner–Lokale und der Blick heraus auch ein Trick: Man hat den Eindruck, das Tisch­ge­spräch fände in einem Spei­se­wagen statt. So bleibt der Film auch im Still­stand in Bewegung. Wenn Cheiron alias Black also am Ende in so einem Diner sitzt und nichts tut, sprachlos ob all der Enttäu­schungen, aller­spä­tes­tens dann wird klar, dass hier der Tisch dieses ameri­ka­ni­schen Topos für das schlechte Gewissen der Film­aka­demie gedeckt ist. Dafür waren die drei Oscars. Dafür, und für den Tausch: Schmerz statt Hass.

Auch ich erinnere mich an die Pein, schonmal sprachlos vor Erwartung gewesen zu sein. Voller Liebes­wunsch und Verlangen nach Erlösung an einen Ort gereist zu sein, und dann maulfaul und ungelenk nichts als Enttäu­schung und Mondlicht gespürt zu haben. Kevin kann den endlos tief sitzenden Schmerz von Black nicht auflösen. Aber er kann ihn in den Arm nehmen, seinen Kopf kraulen und ihm die Muskeln strei­cheln. Im Moonlight...

Der Burger­grill, in dem ich sitze, hat nichts von einem Diner: Keine roten Sitzbänke mit Fens­ter­blick, kein Standard-Menu, kein Refill–Prinzip, kein Zahlen am Cash-Register. Und als ich die Rechnung für meine Süßkar­tof­feln bezahle, bekomme ich die Frage, warum ich eigent­lich in so einen Laden gehe, mit dem Namen der Bedienung quittiert: Die heisst Sharon. Und aus der Wolke über mir bricht ein Tabor­licht hindurch und richtet einen Spot auf die Nacht dort draußen. Sharon – Cheiron, bist du’s, oder ist der Kevi­nismus deine Mytho­logie?

Federico Sanchez aka Pico Be