03.11.2016

Der Exzess der Wirk­lich­keit und die Wirk­lich­keit des Exzess

Weiner von Elyse Steinberg und Josh Kriegman
Hochaktuell: Weiner von Elyse Steinberg und Josh Kriegman

Obszönes aus Amerika, Heimat im Umbruch aus Deutschland und ein Film für Monika Grütters über Aspekte zur Zukunft des Kinos – neue Dokumentarfilme auf der Viennale

Von Rüdiger Suchsland

Am Mitt­woch­abend ging sie in Wien zuende – die Viennale, das Film­fes­tival der öster­rei­chi­schen Haupt­stadt. Als eines der renom­mier­testen und besten europäi­schen Festivals zeigt die Viennale einen Quer­schnitt des zurück­lie­genden Film­jahres. Neben Spiel­filmen gehören dazu auch viele Doku­men­tar­filme.

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Er war der Ketten­hund der demo­kra­ti­schen Partei im US-Kongreß, ein Scharf­ma­cher, glän­zender Polemiker, zugleich ein Bilder­buch­kar­rie­rist im poli­ti­schen Betrieb von Washington – und ein Vollidiot. So hart muss man das formu­lieren, nachdem man diesen Film gesehen hat: Weiner heißt der faszi­nie­rende Doku­men­tar­film, in dem zwei Regis­seure, Elyse Steinberg und Weiners ehema­liger Mitar­beiter Josh Kriegman das Geschehen als Wahl­kampf­be­gleiter den Kandi­daten Anthony Weiner in der noblen Tradition des »direct cinema« bei einem für ihn desaströsen Wahlkampf begleiten. Denn nicht genug damit, dass Weiner ein begabter Populist und Vulgärcha­ris­ma­tiker ist, ein Politiker von monu­men­taler Eitelkeit und gigan­ti­schem Selbst­dar­stel­lungs­trieb, ein Kandidat, der sich ohne Scham fast bis in sein Schlaf­zimmer von der Kamera begleiten lässt. Weiner hat auch in anderer Hinsicht alle Scham- und Geschmacks­grenzen über­schritten: Per Twitter versen­dete er Photos von seiner Unterhose samt Inhalt. 2011 musste er deswegen zurück­treten. Was ihn nicht hinderte, es bald erneut zu versuchen – beides: Zwei Jahre nach den pein­li­chen Vorfällen versuchte Weiner ein Comeback als New Yorker Bürger­meis­ter­kan­didat, doch bald darauf folgten auch neue Enthül­lungen über sexuelle Annähe­rungen an Schü­le­rinnen, die ihn endgültig (?) seine poli­ti­sche Karriere kosteten.

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Dieser Film hätte aktueller nicht sein können: Denn ausge­rechnet Huma Abadin, Weiners Ex-Frau – im Film sind sie noch verhei­ratet – ist ihrer­seits eine stählerne Magnolie: eiskalt, hart, sichtbar intel­li­genter als ihr Mann, aber genauso skru­pellos wirkend. Als rechte Hand von Hillary Clinton ist sie so einfluss­reich wie umstritten, und galt sie bislang als Anwär­terin auf den Posten des Stabs­chefs – jaja, der Stab­chefIn – im Weißen Haus. Clinton hat sie einmal ihre zweite Tochter genannt. Doch ist sie nun die Empfän­gerin jener ominösen E-Mails, die jetzt der Präsi­dent­schafts­kan­di­datin Hillary Clinton als Vorwand neuer FBI-Ermitt­lungen das Leben schwer machen.
Dieser Film lässt Abadin als eine überaus unan­ge­nehme Person erscheinen, eine Lady Macbeth im Schatten des fast leutselig-depperten Karrie­risten. Eine Kopie Clinton, die auf die pein­li­chen Enthül­lungen so reagiert, wie einst First Lady Clinton: Eherne Rücken­de­ckung für den Götter­gatten.
Was der Film aber ausblendet: Abadin könnte auch zur Lady Macbeth der Clinton-Admi­nis­tra­tion werden: Sie ist die Tochter von Pakis­ta­nern, und hat ihre Jugend in Saudi-Arabien verbracht – ihr wird Nähe zu den im Dienste der Saudis stehenden radi­kal­is­la­mis­ti­schen Muslim­brü­dern nach­ge­sagt, und vieles spricht für diese Vermutung.
Wird sie wirklich im Weißen Haus den Ton angeben, dürfte Clintons Nah-Ost-Politik noch einsei­tiger, als bereits in ihren Jahren als Außen­mi­nis­terin zugunsten der Saudis und der Türkei, zu Lasten des Irans, aber auch Ägyptens ausfallen. Die israe­li­schen Rechten werden sich ebenfalls die Hände reiben.
Hierüber schweigt der Film – weil er offen­kundig zu feige ist, um es auch mit diesem Feind aufzu­nehmen.

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Dafür aber glückt den Regis­seuren eine Entlar­vung und ein Psycho­gramm des poli­ti­schen Betriebs. Zu dem gehört das Bedürfnis, das Private in den Dienst des Poli­ti­schen zu stellen: Home­storys im Hoch­glanz­format, Puppen­stu­be­nidyllen, für die der kleine Sohn des Paares vor die Kameras gezerrt wird, Weiners Mutter dazu. Allein diese Mutter! Würde Woody Allen eine schräge Komödie über den Polit­be­trieb drehen, eine neue New York Story über eine Jewish Mum, die ihren Boy zur Karriere dressiert hat, täglich unter Druck setzt, aber auch nach den schlimmsten Sünden noch vertei­digt, dann wäre dies dieser Film.

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Erst der Hang des poli­ti­schen Betriebs, einer­seits selbst Bana­litäten zu skan­da­li­sieren oder aufzu­blasen und ande­rer­seits gravie­rendste Vergehen unter den Teppich zu kehren, macht den Aufstieg von zwie­lich­tigen Figuren wie Weiner überhaupt möglich, der seinem Fall natur­gemäß voraus­ging.
So ist dieser Film eine listige bittere Betrach­tung unserer Spek­ta­kel­ge­sell­schaft.

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Der poli­ti­sche Betrieb der USA, das zeigt der derzei­tige »Wahlkampf« glänzend, ist ein absurdes Panop­tikum aus Amoral von obszönem Ausmaß und aus würde­losen Menschen, die bereit sind, alles für ihre Polit-Karriere zu tun. Viel ist das nicht, denn Ehre und Über­zeu­gungen haben Figuren wie Weiner nie gehabt. Der Film wirft insofern auch einen tiefen Schatten aufs Clinton-Lager, denn er zeigt, dass zumindest Clintons Entourage um keinen Deut besser ist als der Gegen­kan­didat. Im Gegenteil sind sie einander zum Verwech­seln ähnlich: Ein Haufen stil- und würde­loser Neurei­cher, der das Land unter sich wie einen Privat­be­sitz aufteilt – und die verab­scheu­ungs­wür­digste Seite von New York.
Das Unan­ge­nehmste an diesem depri­mie­renden Sitten­bild ist die deutliche Ahnung, dass der Film doch nur die Spitze des Eisbergs zeigt. Das span­nendste die begrün­dete Vermutung, dass man von der deutschen Politik ähnliche Geschichte erzählen könnte. Erinnern wir uns an den Hoch­stapler Gutten­berg. Man wüsste nur wissen, wo man anfängt und sich der Rücken­de­ckung der Redak­tionen gewiss sein können.

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Mit dem Spektakel hat auch Homeland (Iraq Year Zero) zu tun, und doch handelt es sich um das Gegenteil: Abbas Fahdel heißt der in Babylon im Irak geborene Regisseur, der hier die traurige Odyssee seines Landes erzählt, über fünf Stunden mit oft schwer erträg­li­chem Film­ma­te­rial. Sein Film zeigt die Norma­lität des Abnormen. Die zentrale Figur ist Fahdels 12-jähriger Neffe Haidar: ein schlauer, früh­reifer Über­le­bens­künstler, der seine eigenen Vorstel­lungen von Krieg und Bedrohung hat. Aber der Wind des Krieges weht, wo er will, und so muss die Familie bittere Opfer bezahlen. Ein unmit­tel­bares Dokument über die Nahost-Region und ihre Menschen in den zurück­lie­genden zwei Jahr­zehnten.

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Verges­sene Winkel hat der Doku­men­tar­filmer Volker Koepp oft porträ­tiert. Koepp hat vom Leben normaler Leute erzählt, vom immer frischen Zauber der Land­schaften, und vom zähen Gang der Geschichte. In seinem neuen Film kehrt der 71-Jährige nun heim, und wendet sich der Uckermark zu, die seine Wahl­heimat ist.
Langsam ziehen Wolken vor die Sonne und verdun­keln die sanft geschwun­gene Hügel­land­schaft. Dieses Motiv, mit dem der Film beginnt, ist eine Metapher: Die märchen­hafte Schönheit der Land­schaft, die vor allem in der Vielfalt der kleinen Einzel­heiten besteht, ist bedroht. Der Film zeigt, dass die dünn besie­delte, wald- und wasser­reiche Gegend nordöst­lich von Berlin, keines­wegs jene unan­ge­tas­tete Idylle ist, die die Sonn­tags­aus­flügler und eilige Touristen zu entdecken glauben. Trotz schöner Land­schafts­bilder wird hier keine falsche Harmonie beschworen. Schon 1976, vor einem halben Leben hat Volker Koepp einen Film über die Uckermark gedreht. Seine Zuneigung stammt aus dieser Zeit. Koepp spürt der Verän­de­rungen der vergan­genen Jahre, befragt Nachbarn und Freunde, hinreißende alte Damen, die seit Ewig­keiten hier zu Hause sind, und er ergreift Partei. Denn riesige Tier­mast­be­triebe und Biogas­an­lagen zerstören über Jahr­hun­derte gewach­sene Struk­turen, dazu kommen Windparks und vom Staat geför­derte Golf­plätze. Der Anbau von Mais und Raps setzt der Erde zu. Der Humus verschwindet, die Böden können sich oft kaum noch erholen, zahllose Pflanzen und Tierarten verschwinden. Koepp hält dagegen und feiert Helden des Alltags vom Biobauer über den Bienen­züchter bis zum zuge­zo­genen Wessi, der den alten Plat­tenbau wieder herrichtet. Und er feiert das Prinzip Soli­da­rität, um ein Stück Kultur­land­schaft für die Mensch­heit zu retten. Die Erkundung einer Welt zwischen Paradies und Mono­kultur ist ein Lehrstück über unsere Idee von Heimat und das, was wirklich zählt im Leben. Ein poeti­scher Film, der trotzdem kritisch ist.

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Neben solchen Stich­proben unserer Nach­rich­ten­wirk­lich­keit bot die Viennale auch viele Filme über das Kino. Darunter war der fran­zö­si­sche Le complexe de Fran­ken­stein der schwächste: Eine vor allem geschwät­zige, nur stel­len­weise witzige Hommage an die Nerds und Geeks, die als Mons­ter­mas­ken­bildner unsere Alpträume auf die Leinwand bringen, in Inter­views dann aber eine Platitüde an die nächste reihen. Eine der wenigen inter­es­santen Anmer­kungen stammt vom Regisseur Guillermo del Toro: »Wir brauchen die Monster«, sagt er, »um die Welt zu verstehen: Ohne sie könnten wir unseren Platz im Universum nicht erklären.«

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Ein sehr wichtiger Film, wenn auch filmisch höchst banal, war der öster­rei­chi­sche Cinema Futures von Michael Palm. Kultur­po­li­tisch verdient er höchstes Interesse: Denn der Film kreist um die Zukunft des Kinos und der Zukunft seines Gedächt­nisses. Enttäu­schend an dem Film war aber zum einen das perma­nente Name­drop­ping: Klar hätte auch ich ein Interview mit Martin Scorsese geführt, und viel­leicht auch mit Chris­to­pher Nolan, der als jüngerer Regisseur wichtig für das Argument ist: Ein extremer Vertei­diger des analogen Kinos, dem man nicht nachsagen kann, dass er von gestern sei, und der es sich heraus­nehmen kann, analoges Material zu fordern.
Geradezu ener­vie­rend war aber die US-Fixierung des Regis­seurs und was noch mehr verwun­dert, offenbar auch des öster­rei­chi­schen Film­mu­seums, das den Film wesent­lich unter­s­tützt hat. Stel­len­weise konnte man den Eindruck bekommen, nur ameri­ka­ni­sches Kino verdiente es, gerettet zu werden. Kein asia­ti­scher Film, kein fran­zö­si­scher. Erstaun­lich, das auch nicht einmal ein einziger öster­rei­chi­scher Film auch nur erwähnt, nicht ein öster­rei­chi­scher Regisseur inter­viewt wurde. Das ist ein bornierter Blick aufs Kino.
Scorsese, Nolan und andere, wie der fran­zö­si­sche Philosoph Jacques Rancière steuern zwar Gedanken bei, ebenso wie ein Dutzend Film-Archivare, kommen aber nie zu tieferen Aussagen.

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Trotzdem möchte man vor allem die deutsche Kultur­staats­mi­nis­terin zwingen, sich diesen Film anzusehen. Dann müsste Monika Grütters erklären, warum man Film nicht gleich­be­rech­tigt wie Literatur und Malerei und das Theater unter Kultur­gut­schutz stellt und wenigs­tens ein Bruchteil der entspre­chenden Gelder auch dem Kino zur Verfügung stellt. Dann könnte sie begreifen, warum man Film auf Film sichern muss, nicht nur digital. Und dann würde sie verstehen, warum in Norwegen, einfach alles gesammelt wird – und zwar laut Verfas­sungs­zu­satz für die nächsten 1000 Jahre. Antwort: Weil man nicht weiß, was zukünf­tige Gene­ra­tionen erhal­tens­wert finden werden.

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Ein weiterer Aspekt der Film­do­ku­men­ta­tion ist De Palma. Darin portrai­tiert der US-Regisseur Noah Baumbach, sonst eher für roman­ti­sche Komödien zuständig, den Meister des Psycho­thril­lers und des italo­ame­ri­ka­ni­schen Kinos. Brian De Palma rekla­miert für sich, tatsäch­lich Hitch­cocks Nach­folger zu sein. Baumbach hat ihn über mehrere Tage inter­viewt. Das Gespräch montiert er mit viel Film­aus­schnitten zu einer erhel­lenden Reise durch das Werk dieses großar­tigen Regis­seurs.