08.10.2015

Ein anderes Kino ist möglich

Eden's Edge
»Erzählerische Landschaftsgestaltung«: Eden’s Edge

Das UNDERDOX Filmfestival geht ab heute in die 10. Runde – Einblicke in die Historie des Festivals und Ausblicke auf das Programm. Und schließlich: Das UNDERDOX-Manifest

Von Dunja Bialas

Von Dunja Bialas

I. Eine kurze Geschichte von UNDERDOX

UNDERDOX begann 2006 aus dem Gefühl einer Notwen­dig­keit heraus. Grenz­gän­ge­risch und traum­tän­ze­risch, ideo­lo­gisch und idea­lis­tisch stellten wir uns mit einem Anfangs­etat von 1200 Euro neben das Doku­men­tar­film­fes­tival und das Filmfest und zeigten Filme, die sonst keiner zeigen wollte. Filme, die für ein Publikum in München frag­würdig schienen: Wie für einen Doku­men­tar­film Interesse wecken, dessen Thema schwer greifbar ist? Wie einen Spielfilm bewerben, der sich dem Story­tel­ling verwei­gert und nur noch zeigt und beschreibt? Der womöglich gar keinen Plot hat und bei dem es keine Dialoge gibt?
Die defi­nierten Grenzen der Film­genres hinter­fragen und auflösen: Dies war eine auf den inter­na­tio­nalen Festivals beob­acht­bare, völlig neue Richtung, die seitdem immer mehr Filme beschreiten. Wir griffen sie von der Seite des Doku­men­tar­films her auf – die doku­men­ta­ri­sche Geste liegt allen UNDERDOX-Filmen zugrunde – und nannten die Formen­hy­bri­di­sie­rung, die in ihnen statt­findet, allgemein »Expe­ri­ment«. Daraus entstand der Unter­titel »Dokument und Expe­ri­ment«.

Im ersten Jahr fand UNDERDOX, noch weit­ge­hend unbemerkt, nur im Werk­statt­kino statt. Das Grün­dungs­jahr war womöglich unser radi­kalstes. Wir sprachen von der Dauer als letzter dem Kino verblie­bener Provo­ka­tion und zeigten Lav Diaz zehn­s­tün­diges Meis­ter­werk EVOLUTION OF A PHILIPPINO FAMILY.
Auf unserem Programm­flyer waren nur die Titel und Regis­seure der Filme aufge­führt, ganz als stünden sie für sich, wie Harry Potter oder James Bond. Festi­val­motiv war ein abstrakter Stem­pel­druck aus dem Studio Rossi & Libe­ra­tore, der, je nachdem, wie man ihn hielt, aussah wie eine Madonna in langem Gewand oder ein Flaschenöffner mit erigiertem Riesen­penis.

Im dritten Jahr fanden wir Aufnahme im Münchner Film­mu­seum. Das Werk­statt­kino, einste­hend für die vernach­läs­sigten Rand­ge­biete der Film­ge­schichte, und das Film­mu­seum, Ort von Hoch­kultur und Kano­ni­sie­rung, sind nicht nur die Kinos, die uns selbst maßgeb­lich geprägt haben. Sie stehen ein für die Band­breite des UNDERDOX-Programms, das sich in aktuelle Filme, ein Retro­pro­gramm, oftmals als »Lost & Found«, einen Länder­schwer­punkt und »Artist / Filmmaker in focus« gliedert. Im Film­mu­seum begannen wir mit der »Halbzeit« im Frühjahr 2008, die wir seitdem zusätz­lich zu unserer Festi­val­woche im Oktober durch­führen, zwei bis vier Tage, um einem einzelnen Filme­ma­cher dadurch besondere Aufmerk­sam­keit zu schenken.

Trotz des No-Budget-Etats verstand sich UNDERDOX von Beginn an als veri­ta­bles Festival, mit einer zwei­spra­chigen Website und einem eben­sol­chen Katalog, von Gisela Müller und Kathrin Herwig in die Welt gebracht, die das neue Festival unter­s­tützen wollten. Das Impressum der ersten Jahre gleicht indes den Credits vieler Filme aus unserem Programm: zwei Personen, die nahezu alles machen, Film­aus­wahl, Text­re­dak­tion, Anzei­gen­ak­quise, Öffent­lich­keits­ar­beit. Seit ein paar Jahren sehen wir uns erweitert um Florian Geier­stanger, der das Festival in Film­aus­wahl und konzep­tio­nellen Ideen mitge­staltet.

Seit unserer Aufnahme bei der Filmstadt München e.V. in unserem fünften Jahr wuchsen wir von No-Budget zu Low-Budget, in etwa im Sinne des fran­zö­si­schen Avant­garde-Filme­ma­chers Jean-Claude Rousseau, der uns bei der Werkschau seiner Filme im vierten Jahr von UNDERDOX mit auf den Weg gab: »You have to grow.«

Mitt­ler­weile steht das Festival für ein weiterhin radikales und in Cineasten- wie Kunst­kreisen große Zustim­mung findendes Programm.
UNDERDOX ist: den verän­derten Aggre­gat­zu­ständen des Doku­men­ta­ri­schen begegnen, im Spielfilm, der Video­kunst und im Doku­men­tar­film. Es geht dabei nicht mehr um die Doku­men­ta­tionen von Wirk­lich­keit, es geht um das Expe­ri­ment »Film« auf dem Spielfeld der Wirk­lich­keit.

II. Das Programm des 10. UNDERDOX

Die Zukunft des Kinos: Spanien & Argen­ti­nien

Einen Bogen von der Tradition zur Gegenwart zu spannen, aus dem sich die Zukunft des Kinos neu denken lässt, unter­nimmt seit zehn Jahren das inter­na­tio­nale Film­fes­tival UNDERDOX. Wir verbinden in unserem Eröff­nungs­pro­gramm den Expe­ri­mental- mit dem Spielfilm, und verweisen darauf, dass in die Zukunft nur mit der Kenntnis der Vergan­gen­heit gereist werden kann. Junge, inter­na­tional beachtete Regis­seure entwerfen spätes­tens seit El futuro von Luis López Carrasco (9. UNDERDOX) die Zukunft des spani­schen Kinos neu. Es ist eine aufstre­bende Gene­ra­tion, die inmitten der natio­nalen Krise ein ausge­prägtes Bewusst­sein für neue Erzähl­formen und unkon­ven­tio­nelle Geschichten mani­fes­tiert. Wir eröffnen unsere Jubiläums­aus­gabe mit Der Geld­kom­plex von Juan Rodri­gáñez und präsen­tieren als weitere Position Sueñan los androides von Ion de Sosa.
Ergänzt und erweitert wird das Programm durch zwei Linien, die aus der gegen­wär­tigen Topo­gra­phie Spaniens hinaus­führen. Favula des Argen­ti­niers Raúl Perrone ist inspi­riert durch die Stumm­filme von Georges Méliès und Fritz Lang und gliedert sich in die neue expe­ri­men­telle Welle des Weltkinos ein. Toponimia des Argen­ti­niers Jonathan Perel sieht sich in der Tradition der Archi­tek­tur­filme Heinz Emigholz' und zeichnet die Spuren einer Archi­tektur der Diktatur nach. Als histo­ri­sche Flucht­linie der Zukunft des Kinos zeigen wir den 1992 entstan­dene Doku­men­tar­film El sol del membrillo von Víctor Erice, ein Meis­ter­werk des Unvoll­endeten.

Artist in Focus: Nicola Boone

Dies­jäh­riger Artist in Focus ist der Franzose Nicolas Boone. Ins Zentrum seines Werks
stellt Nicolas Boone meist eine Gruppe von Laien­dar­stel­lern, die, choreo­gra­phiert als kompakter Schwarm oder Korpus, Räume durch­queren. Boones mobile Plan­se­quenzen entstehen in Impro­vi­sa­tion, bereit, die Zufälle der realen Umgebung aufzu­nehmen. Sein konti­nu­ier­li­ches Kamera-Travel­ling erforscht urbane Räume oder entleerte Land­schaften, die unter dem Agieren der Menschen zu Topo­gra­phien der Sehnsucht, der Armut oder des Terrors werden. Die Bewegung im Raum gerät zur insze­niert-doku­men­ta­ri­schen Bestands­auf­nahme urbaner Absur­dität (Bailu Dream), ist reines Hier und Jetzt der Schau­spiel­per­for­mance (HILLBROW), oder zeigt den kollek­tiven Exodus in eine ungewisse Zukunft, deren Horizont jede Utopie verwei­gert (Psaume).

Die Lange Nacht des Under­ground: Wilhelm Hein

Die Kunst bleibt... bleibt..., rief der New Yorker Avant­garde-Filme­ma­cher Jack Smith im Jahr 1974 lauthals auf der Kölner Kunst­messe „Kunst bleibt Kunst“. Sein Auftritt wurde von Fern­seh­ka­meras aufge­nommen und blieb für immer der Nachwelt erhalten. Wilhelm Hein hat Smiths über­bor­denden verbalen Auswurf zum Titel seines monu­men­talen Werks erhoben, an dem er seit über zwanzig Jahren arbeitet und das 2013 zu einem (vorläu­figen) Abschluss gefunden hat. Als work in progress inte­griert und assem­bliert die Montage konti­nu­ier­lich unter­schied­li­ches Film­ma­te­rial zu einem großen Colla­gen­werk: Found Footage, filmische Tage­buch­skizzen, Portrait-Aufnahmen von Wegbe­glei­tern und Freunden, Banales und Sublimes, Eroti­sches und nature morte erschaffen ein Kalei­do­skop der Obses­sionen und unserer Existenz, mit den Mitteln des Expe­ri­men­tal­films und der radikalen und vitalen Geste des Under­ground.

VIDEODOX: Video­kunst bei UNDERDOX

Das UNDERDOX Film­fes­tival gastiert mit der Sektion VIDEODOX abermals in der Galerie der Künstler. Für seine Jubiläums­aus­gabe unter dem Motto »Wir feiern 10!« blickt das Festival zurück auf eine vitale Video­kunst-Szene in München. Im Zentrum von VIDEODOX 2015 steht die Präsen­ta­tion von über zwanzig ausge­wählten Arbeiten aus der ehema­ligen spiegel-Mediathek der Lothringer13 (1997 bis 2010). Histo­risch getreu werden sie von VHS auf Röhren­mo­ni­toren gezeigt.
Expe­di­tion Medora heißt die Gruppe aus Künst­le­rinnen verschie­dener Natio­na­litäten, die sich 2005 in München formierte. Von den ehemals sieben Mitglie­dern sind heute noch Shirin Damerji, Claudia Djabbari, Andrea Faciu, Sandra Filic und Peggy Mein­felder in der Gruppe aktiv. VIDEODOX präsen­tiert einen Ausschnitt aus ihrem viel­sei­tigen Schaffen.
Die Münchner Künst­lerin Christina Maria Pfeifer hat eigens für VIDEODOX eine Video­ar­beit geschaffen und bringt sie in einer Perfor­mance als Kunst­figur »Cy-born« live zur Auffüh­rung.

III. Das UNDERDOX Manifest

1. Wir program­mieren glei­cher­maßen Doku­mentar-, Expe­ri­mental-, Essay- und Spiel­filme und ihre erdenk­li­chen Zwischen­formen.

2. Wir proji­zieren Filme im Origi­nal­format. 16mm, 35mm und die digitalen Formate sind uns glei­cher­maßen will­kommen. Wir geben keinem filmi­schen Format den Vorzug und schließen keinen Film aufgrund seines Formats aus.

3. Wir huldigen dem über­langen Film. In Zeiten, da Fernseh-Serien auf Festivals als Kino-Formate präsent sind, gilt uns die originär kine­ma­to­gra­fi­sche Langform als bewusst gesetztes program­ma­ti­sches Statement.

4. Wir schicken Filme in keinen Wett­be­werb. Uns geht es um die kura­to­ri­sche Sorgfalt und den inneren Dialog, die die Filme im zusam­men­ge­stellten Programm entfalten. Flucht­li­nien, Verzwei­gungen, Abzwei­gungen und zurück­ge­wor­fene Echos wirken auf die einzelnen Filme als Vers­tärker ihrer Kunstform.

5. Äußere Parameter sind für die Program­mie­rung nicht entschei­dend. Themen-Relevanz, Produk­ti­ons­land, Länge der Filme, Bekannt­heits­grad des Regis­seurs sind für sich genommen keine Kriterien.

6. Uns geht es nicht darum, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, noch um die »Branche«. Uns sind die Filme und ihre Machart wichtig, ihre oft eigen­wil­lige Annähe­rung an die Wirk­lich­keit. Unsere Program­mie­rung enhält die Propo­si­tionen für ein anderes Kino.

7. Festivals brauchen Mehr­sei­tig­keit. Festivals sind die Ausstel­lungs­platt­form für Filme. Ohne diese wiederum wären Festivals obsolet. Weder Filme noch Festivals sollten sich daher parasitär dem Gegenüber verhalten. Wir zahlen Screening Fees im Rahmen unseres Budgets und verlangen von den World Sales Companies Entge­gen­kommen.

8. Wir haben eine strenge Tür. Wir sehen die Filme im Kino, entweder auf Festivals oder gemeinsam bei Sich­tungs­ter­minen. Wer ins UNDERDOX Programm will, muss unserem seit Jahr­zehnten geschulten Blick als Cineasten, Kino­be­treiber und Film­kri­tiker stand­halten.

9. Wir brauchen keine Premieren. Wir wider­setzen uns der Premie­ren­po­litik von Festivals, aber wir führen unsere Filme erstmalig in München vor.

10. Wir sind keine Einzel­kämpfer. Wir pflegen die Part­ner­schaft und Freund­schaft zu anderen Festivals mit einer ähnlichen Programm­phi­lo­so­phie wie wir. Wir stehen im Kontakt und im Austausch mit der Viennale, dem Film­fes­tival von Rotterdam, dem Festival von Marseille, dem Forum der Berlinale, mit Bild­rausch in Basel, dem Nürn­berger Festival der Menschen­rechte.

Die Autorin leitet seit zehn Jahren zusammen mit Bernd Brehmer das UNDERDOX Festival.

10. UNDERDOX Film­fes­tival 8. bis 15. Oktober 2015, Film­mu­seum München, Werk­statt­kino, Theatiner, Galerie der Künstler
Weitere Infor­ma­tionen: www.underdox-festival.de