27.11.2014

Paranoia, Putin und Purismus

The Forecaster
Wunderbares Paranoia-Kino – The Forecaster

Jenseits des wohltemperierten Menschelkinos: Erste Eindrücke vom Internationalen Dokumentarfilmfestival in Amsterdam

Von Rüdiger Suchsland

Ein Reise in die Anfänge unseres Jahr­hun­derts, Kino als Jahrmarkt, als panisches Chaos und süße Nostalgie – ein Kinder­traum. Escaping Riga heißt dieser magische Film aus Estland, der die Anfänge des Kinos beschwört, wie den Zauber seiner Hochzeit: Sergei Eisen­stein, das Genie der Schnitt­ge­witter und der Fürst des sowje­ti­schen Stummfilm-Realismus steht im Zentrum dieses Films, der ihn aus seiner Heimat­stadt Riga, seiner Jugend erklärt. Zugleich paral­le­li­siert Regisseur Davis Simanis das Leben dieses Kino-Akti­visten mit einem anderen Berühmten, dem poli­ti­schen Philo­so­phen Isaiah Berlin. Auch der stammte aus Riga und war so ziemlich das Gegenteil des acht Jahre älteren Eisen­stein: ein Passiver, ein Konser­va­tiver, ein Beob­achter, der schon als Kind vor der Revo­lu­tion floh, und bis an sein Lebens­ende nirgendwo richtig ankam.

Einmal sehen wir im Film Eisen­stein bei seinem Besuch in den USA mit Charlie Chaplin Tennis spielen – es sind solche großar­tigen Anekdoten der Geschichte, die die große Faszi­na­tion von Escaping Riga ausmachen, Geschichten wie jene von dem einen Mal als Berlin kurz nach dem Krieg in die Sowjet­union reiste, in Leningrad durch Zufall die Lyrikerin Anna Achmatowa kennen­lernte und sich mit ihr eine ganze Nacht unter­hielt, unter den Augen des Geheim­dienstes – eine Begegnung, die er später als die wich­tigste seines Lebens bezeich­nete. Terror, Weltkrieg, Poesie und Skep­ti­zismus fielen in eins.

Dass alles, wenn noch die wider­sprüch­lichsten Dinge in eins fallen – so ergeht es einem auch auf einem Doku­men­tar­film­fes­tival. Wie erzählt man überhaupt von einem Hurrikan, wenn man mitten­drin steht? Denn diese IDFA ist ein Wirbel­sturm, oder besser noch ein Riesend­schungel, ein wunder­bares Chaos, ein einzig­ar­tiger Rummel­platz aus Themen und Stilen, ästhe­ti­schen Haltungen und persön­li­chen Inter­essen, geprägt vor allem von Neugier, von Hunger nach unserer Welt – und doch bei aller Fülle das Gegenteil von Reizüber­flu­tung und Infor­ma­ti­ons­über­schuss.

IDFA steht für »Inter­na­tio­nales Doku­men­tar­film­fes­tival Amsterdam« – die IDFA in Amsterdam gibt es seit 27 Jahren, und schon bald nach ihrer Gründung galt sie als das wich­tigste Doku­men­tar­film­fes­tival der Welt. Es gibt hier hunderte von Welt­pre­mieren in Wett­be­werben und Themen-Schwer­punkte – in diesem Jahr zum Beispiel über den »weib­li­chen Blick« –, es gibt das Beste aus anderen Festivals, Retro­spek­tiven, und ein Panorama für den ganzen Rest. Daneben treffen sich hier auch Produ­zenten und Redak­teure, loten die Lage aus, dealen und entscheiden, was wir alle in den nächsten Jahren zu sehen bekommen.

Der typische Doku­men­tar­film der Gegenwart erzählt von wirklich wichtigen Dingen, bren­nenden Anliegen – »films that matter« lautet eine, in meinen Augen vor allem bedroh­lich klingende, Floskel, die einem von den vielen Trailern vor jedem Film entge­gen­schreit, und natürlich von Menschen – »Jedes Leben ist einen Film wert«, behauptet allen Ernstes eine weitere Trail­er­floskel, und niemand im Publikum steht auf und ruft »Wirklich?« oder »Das glaubt ihr doch selber nicht!« –, von einzelnen Menschen. Norma­ler­weise geht es ihnen schlecht, sie hungern, dürfen nicht zu Schule, werden verfolgt. Oder sie suchen etwas: Eltern, Kinder, das Glück oder den lieben Gott.

Aber diesem Gott sei Dank ist das längst nicht in allen Filmen so, und wenn dann sind es hier eher die guten unter diesen »37 Grad«-Filmen. So nennt sie das ZDF in ihrer letzten übrig­ge­blie­benen Doku-Reihe, eine Bezeich­nung, die verrä­te­risch ist: Normal­tem­pe­ratur eben, wohl­tem­pe­riertes Menschel­kino.

Die besten Doku­men­tar­filme – und ihrer gibt es in Amsterdam auch mehr als genug – handeln in diesem Sinne überhaupt nicht von Menschen, sondern von Verhält­nissen. Von den Verhält­nissen und Systemen, die aller­dings Menschen verbinden, trennen, erziehen, prägen, diszi­pli­nieren und beherr­schen.

Ein Themen­strang bei der IDFA erzählt immer wieder von den Verhält­nissen im Westen: Citi­zen­four der gerade im deutschen Kino läuft, porträ­tiert bekannt­lich Edward Snowden. Doch 40 Jahre vor ihm, gab es bereits Whist­leb­lower des analogen Zeit­al­ters: 1971 heißt ein großar­tiger Film, der die Geschichte von acht Bürger­recht­lern erzählt, die 1971 in eine FBI-Zentrale einbra­chen, sämtliche Akten stahlen, und so illegale Akti­vitäten beweisen konnten. In der Folge musste der brutal berüch­tigte FBI-Patriarch J. Edgar Hoover zurück­treten.

Oder der Fore­caster, jenes ameri­ka­ni­sche Börsen­genie, das dreimal einen Börsen­krach auf den Tag genau vorher­sagte – mit einer nur ihm bekannten Formel, in der die Zahl »Pi« eine wichtige Rolle spielt: Ist er ein Genie, ein Wahn­sin­niger oder ein Gangster. 1999 nahmen ihn die US-Behörden jeden­falls unter faden­schei­nigen Umständen fest, nie wurde ihm ein Verbre­chen bewiesen, trotzdem saß er 12 Jahre im US-Gefängnis – wie das möglich ist, und um was für einen Mensch es sich handelt, davon erzählt Matrcus Vetters Film The Fore­caster der auch ins deutsche Kino kommt. Wunder­bares Paranoia-Kino – mit dem Unter­schied, dass die Verschwö­rung womöglich real ist.

Absolut real ist auch Vladimir Putin. Gleich drei Doku­men­tar­filme beschäf­tigen sich mit dem russi­schen Präsi­denten, dem der Westen in Hassliebe und perverser Faszi­na­tion verbunden ist. Der beste von ihnen stammt vom Franzosen Jean Michel Carré.

In Putin Is Back widerlegt Carré zunächst einmal ein paar land­läu­fige Vorur­teile, um Putin durch genaues Hingucken zu erklären. Das gelingt sehr schlüssig, und das Ergebnis lässt Putin eher noch bedroh­li­cher erscheinen.

Zugleich ist dies eine Art Doku­men­tar­film­va­ri­ante des Horror­kinos: Man geht hinein und darf sich schön gruseln, besonders, wenn seine Milizen Demons­tranten nieder­knüp­peln, rieselt manch ein Schauer wohlig über den Rücken, denn so schlimm wie in Russland ist es schließ­lich bei uns einst­weilen noch nicht; und wenn Putin dann redet, erinnert er an den bösen Wolf aus dem Märchen: Groß­mutter, warum hast Du so große Zähne.