15.08.2013

Darüber hinaus: Die Verviel­fäl­ti­gungen des Realen

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Ein Schiff wird kommen:
From Gulf to Gulf to Gulf ist schönstes Bollywood

Das 24. Festival International du Cinéma »FID Marseille«

Von Dieter Wieczorek

Wie nur wenig andere Festival wird beim FID Marseille weniger Realität doku­men­tiert als immer wieder neue Perspek­tiven, Optiken und Verfah­rens­weisen angeboten, das Reale als unge­si­chertes Terrain zu umschreiben. FID bietet ein viel­stim­miges Panorama, mit Realität umzugehen, ohne unter Bestim­mungs­zwang zu geraten. Das Möglich­keits­spek­trum reicht von Arbeiten, die auf Auto­ren­schaft nahezu verzichten, um lediglich ein Konzept zu verwirk­li­chen, es führt über das Spiel mit reinen Möglich­keiten des Realen, über die kommen­tar­lose Wieder­gabe des Realen mittels Über­wa­chungs­ka­meras bis hin zum schlichten Aufgreifen des fragil Gegen­wär­tigen, zum reinen Eintau­chen in das Hier und Jetzt, als Akt reiner Lebens­lust und Augen­blicks­be­ja­hung.

Für die erste Form steht etwa der im Wett­be­werbs­pro­gramm plat­zierte, in Indien und den Verei­nigten Emiraten produ­zierte Film From Gulf to Gulf von Shaina Anand und Ashok Sukumaran, der faktisch aus audio­vi­su­ellen Aufzeich­nungen einfacher Fracht­schif­f­ar­beiter kompo­niert ist, jene nahezu Heimat­losen, die permanent die ansonsten unpas­sier­baren Grenzen über­schreiten und die Ozeane durch­streifen, um den Preis, nie wirklich an Land gehen zu dürfen. Die Filme­ma­cher liefern hier lediglich die Idee, deren Handy-Aufzeich­nungen zu nutzen, die ein Leben am Rande der Virtua­lität einfangen. Die Seeleute nutzen ihre Taschen­ka­meras und Handys übli­cher­weise für Nach­richten an Fami­li­en­an­gehö­rige und Freunde, weit seltener auch zur Doku­men­tie­rung ihrer frei schwe­benden Existenz zwischen den sozialen Wirk­lich­keiten.

Ein Spiel mit Poten­zia­litäten entfaltet sich, wenn im Zentrum des Filmes ein möglicher, aber nie reali­sierter Film steht, dessen mögliche Reali­sie­rung in unter­schied­li­chen Ereig­nis­räumen und Fikti­ons­ebenen evoziert wird. Die in Paris lebenden Filme­ma­cher Sylvia Maglioni und Graeme Thomson sind während ihrer Recher­chen zu Gilles Deleuze und Felix Guattari auf ein um 1980 geschrie­benes Science-Fiction-Manuskript des am Main­stream­kino inter­es­sierten Guattari gestossen, dass dieser (denk­wür­di­ger­weise) auch gleich in Hollywood verwirk­li­chen wollte. Das Künst­ler­paar macht sich auf den Weg der Rekon­struk­tion des Nichtrea­li­sierten und thema­ti­siert ihre Suche selbst als eine der möglichen Poten­zia­litäten Guattaris Werk­ent­wurfs. Ihr Versuch, sich dem Nicht­voll­endeten anzu­n­ähern, wird auf verschie­denen Ebenen durch­ge­spielt, von Radio­stu­dio­auf­nahmen bis nur Kontakt­nahme mit den einst auch von Guattari kontak­tierten Film­stu­dios bis hin zum Aufsuchen einer Wahr­sa­gerin. Sie verviel­fäl­tigen das Kontakt­feld noch, als sie auf einen merk­wür­digen, jedoch nie präsenten Zeit­ge­nossen stoßen, der offen­sicht­lich auch auf Guattaris Skript aufmerksam geworden war und sich zur Spuren­suche aufmacht hatte, in der Folge jedoch – wie eine – sei’s nun Fiktion oder nicht – von Maglioni und Thompson zufällig gefundene Fest­platte des einsamen Suchers zeigt, sich in immer laby­rin­thi­schen Bild­folgen und Refle­xionen verlor. Das Verlo­ren­gehen in Poten­zia­litäten, auch dies eine mögliche Konse­quenz des uner­reich­baren Werkes. Ihre Suche nach dem Unbe­stimm­baren doku­men­tiert das Künst­ler­paar nicht nur in dem in der »Théoreme«-Sektion plat­zierten, nach Guattaris Skript­ent­wurf beti­telten Film In Search of UIQ, sondern gut-rhizo­ma­tisch auch in Form von Ausstel­lungen und Buch­pu­bli­ka­tionen. Jedes Medium schafft seine eigene Inter­pre­ta­ti­ons­form, das »Phänomen« des unrea­li­sierten Werkes zu konsti­tu­ieren.

Für das Eintau­chen in den reinen Augen­blick, in die Schönheit des Flüch­tigen, in die fragile Zeit­lich­keit steht kaum ein Name so klar wie Jonas Mekas, der Mann, der während seines langen Lebens nur selten die Kamera aus der Hand legte. Mit dieser Kamera schuf sich Mekas ein Medium der Verge­gen­wär­ti­gung all jener einst präsenten Ereig­nisse, so eröffnet er sich und seinen Freunden einen Rückblick auf den gesamten Mikro­kosmos der Details, die sich seinem eigenen Gedächtnis schon lange entzogen haben. »Ich habe gelebt, dies ist meine Welt, dem Vergessen und der Vergäng­lich­keit entzogen«, ist das Credo Mekas', das er in seinem im FID als Abschluss­film gezeigten Outtakes from the Life of a Happy Man noch einmal auf wunder­same und berüh­rende Weise doku­men­tiert. Die reine Selbst­auf­zeich­nung… – auch dies eine Form der Realitäts­stif­tung.

Der Wille zur Selbst­be­kun­dung wird übli­cher­weise in proble­ma­ti­schen Situa­tionen virulent. Chris­tophe Brisson gibt in seinem im fran­zö­si­schen Wett­be­werb gelau­fenen Werk Au Monde exklusiv den Erzäh­lungen eines trau­ma­ti­sierten Mannes Raum, der in einem fast licht­losen Keller­ge­wölbe hockt. Hierhin hatte er sich nach einer chir­ur­gi­schen Operation zurück­ge­zogen, die ihn zum Behin­derten gemacht hatte. Hier berichtet er mit metal­li­scher, seine Atem­geräu­sche stark akzen­tu­ie­render Stimme von seiner selbst gewählten, totalen Isolation und seiner langsamen Rückkehr in die Norma­lität der Gesel­lig­keit.

Über­wun­dene Behin­de­rung ist Thema auch in José Luis Torres Leivas Film Ver y escuchar. Der chile­ni­sche, im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb gezeigte Film doku­men­tiert die Begegnung von Stummen und Tauben, die ihre ganz eigenen Wege finden, mitein­ander zu kommu­ni­zieren und zuweilen das Vorurteil der »Behin­de­rung« zu trans­for­mieren vermögen zur Teilnahme an einer spezi­fi­schen, schlicht anderen Form der Wahr­neh­mung des Realen.

Isolation und Trans­gres­sion, Asyl und seine Über­schrei­tung werden als Thema in recht enig­ma­ti­scher Weise ebenso variiert in Marcin Malasz­czaks bereits auf der Berlinale gelau­fenen Beitrags Sieniawka. Der aus Polen stammende, heute in Berlin lebende Filme­ma­cher schafft ein drei­ge­teiltes Werk, das nahezu surreal und ortlos beginnt, in einer Wald­ge­gend, wo ein in Schutz­anzug und Helm daher kommender Mann einem Clochard begegnet, der die Nacht nicht überleben wird. Der weitaus längste Teil des Wett­be­werbs­films ist dem fast ereig­nis­losen Leben der Insassen eines Asyls in Sieniawka gewidmet, in deren Rhythmus und Horizont Malasz­czak eintaucht. Langsam nur schälen sich Mikro­er­eig­nisse und Charak­tere heraus, vor allem aber offeriert Malasz­czak eine andere Wahr­neh­mung der Zeit und des Da-Seins. Im dritten Teil öffnen sich die Türen zu einer Rückkehr in die bekannte Alltäg­lich­keit, die nicht wirklich als vorzu­zie­hende Lebens­form zu über­zeugen vermag.

Auch den analy­ti­schen Doku­men­tar­film in seinen wiederum unter­schied­li­chen Formen bietet FID im Wett­be­werbs­pro­gramm. Einer­seits als besten­falls durch Dialoge ange­reichte, sich auf reine Beob­ach­tung beschrän­kende Doku­men­ta­tion, wie sie etwa Lech Kowalskis in Holy Field Holy War darbietet. Thema ist die Umwelt­zer­stö­rung durch einen US-ameri­ka­ni­schen Chemie­kon­zern in länd­li­chen polni­schen Regionen. Kowalski zeigt die Farce der Demo­kratie-a-poste­riori», nachdem unter Ausschluss der Öffent­lich­keit alle wirk­li­chen Entschei­dungen bereits getroffen wurden und nimmt sich Zeit für die durch­sich­tigen Täuschungs­manöver auf den Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tungen des in Allianz mit Kommu­nal­po­li­ti­kern agie­renden Konzerns, während die Einhei­mi­schen faktisch in Folge der Wasser­ver­seu­chung in eine Exis­tenz­krise getrieben werden. Kowalski kontra­punk­tiert diese Ereig­nis­ebene mit Bildern der Ölka­ta­strophe im Golf von Mexiko, wie auch mit Film­zi­taten des 1948 von einer Ölkom­panie in Auftrag gegebenen Propa­gan­da­werks ›Louisiana Story‹ Robert Flahertys, den er in wilder Montage dekon­stru­iert zu einer denun­zie­renden Lesart.«

Kommen­tierte Analytik dagegen demons­triert der US-ameri­ka­ni­sche Beitrag Travis Wilker­sons Los Angelos Red Squad: The Communist Situation in Cali­fornia, der anhand sorg­fältig recher­chierten Materials nach­zeichnet, auf welche Weise die ameri­ka­ni­sche kommu­nis­ti­sche Bewegung metho­disch unter­mi­niert und dekon­stru­iert wurde. Einschleusen von Agenten, Denun­zi­anten, Infor­manten, bis hin zu besto­chenen Antreiber und Führungs­per­sön­lich­keiten... das ganze Register der Destruk­tions- und Desta­bi­li­sie­rungs­formen wird hier durch­de­kli­niert und kris­tallin trans­pa­rent gemacht, ein Muster­fall von verblüf­fender Aktua­lität: Entschei­dungs-, Grup­pen­bil­dungs- und Akti­ons­pro­zesse, die poli­ti­schen Umbruch inten­dieren, können kaum real werden in einer bereits macht­zen­trierten Gesell­schaft.

Doch dann brechen in FID die Schar­niere auch wieder, und die schöne anar­chis­ti­sche Libido bricht ein, fern allen Doku­men­ta­ri­schen. Im fran­zö­si­schen Film Il est des nôtres Jean-Chris­tophe Meurisses kommen in einem in einer Fabrik­halle abge­stellten Wohnwagen eine Gruppe von recht indi­vi­dua­lis­tisch Begehr­li­chen zusammen, die alle üblichen Formen sozialen Umgangs erst gar nicht aufkommen lassen. Das Programm des freien Ausdrucks und der libi­dinösen Selbst­ent­fal­tung, das auch ältere Damen mal eine Strip hinlegen lassen, setzt bei Meurisse aller­dings auch erup­ti­ons­artig aufflam­mende mortale, destruk­tive Energien frei. Schade, denn der Film wirkt vor allem durch seine fröhliche Ausge­las­sen­heit und lustvolle Infra­ge­stel­lung sozialer Tabus. Er zeigt eine verspielte, sich spielende und sich auspro­bie­rende Gruppe, die in bizarren, zuweilen hyper­realen Diskursen kommu­ni­ziert und die Grenzen des Möglichen abtastet. Eigent­lich bräuchte es mehr dieser expe­ri­men­tie­renden Filme. Fellinis, Ferreris und Pasolinis mangeln heute schmerz­haft, in einer sich einö­denden, immer stärker normierten und kontrol­lierten Realität. Reales wird in den abge­sackten Szenerien dominiert von der »Sicher­heits-« Ideologie ohnehin kaum mehr spürbar. Die Tilgung von Abwei­chungen und Wider­stands­formen gegen die kommer­zi­elle Prozess­ma­schine durch die »Sicher­heits-Agenten« ist weit fort­ge­schritten.