13.12.2012

Schwarze Nacht im Kino

Der russische Film Die Tochter (Dotch)
Fipresci-Preisträger:
Der russische Film Die Tochter (Dotch)

Das Black Night Film Festival in Tallinn: Im Nordosten Europas formiert sich ein Megafestival

Von Dieter Wieczorek

Das 16. Tallinn Black Nights Film Festival vom 12.-28.November (um diese Zeit beginnt die Nacht gegen 16:16 Uhr) bietet ein breites Programm von Wett­be­werbs- und Neben­reihen, beginnend mit dem »Eurasia« beti­telten Haupt­wett­be­werb, gefolgt vom Wett­be­werb des estlän­di­schen Films, dem »Tridens Herring«-Wett­be­werb, in dem baltische und nord­eu­ropäi­sche Werke (Deutsch­land einge­schlossen) gezeigt werden, dem »North American Indies«-Wett­be­werb, der »Menschen­recht­sek­tion«, »Nordic Lights«, »Forum« und »Panorama«-Programmen, neben anderen natio­nalen und themen­spe­zi­fi­schen. Darüber hinaus inte­griert das »Black Nights«-Festival in den ersten Spiel­tagen ein eigen­s­tän­diges Kurz- und Studen­ten­film­fes­tival, auch bekannt unter dem Titel »Sleep­wal­kers«. Hier werden neben den inter­na­tio­nale Programmen vor allem estlän­di­sche und baltische Filme gezeigt, neben Filmen der aufstre­benden »Baltic Film- und Media­school« in Tallinn. Des Weiteren ins Programm inte­griert finden sich ein Anima­tions- und ein Kinder­film­fes­tival, sowie ein an Bedeutung gewin­nender Filmmarkt, der während der Schluss­tage der sechzehn Tage umfas­senden Gesamt­spiel­zeit des Festivals statt­findet.

Hervor­zu­heben im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb ist das auch mit dem Haupt­preis gekürte ukrai­ni­sche Werk House with a Turret von Eva Neymann. Dieses in Schwarz­weiß gehaltene Film offeriert in raren Inten­sität ein inten­sives Spektrum der Einsam­keit, nicht allein des Haupt­dar­stel­lers, ein Acht­jäh­riger, der sich durch verschneite Winter­tage in Kriegs­zeiten auf den Weg zu seinem Großvater macht, nachdem er seine an Typhus erkrankte Mutter in einem Provinz­kran­ken­haus verlor, sondern auch all der Vers­törten, Verlo­renen und Verarmten, denen er auf seinem Weg begegnet. Die Kamera folgt seinem naiven, unge­schützten Blick auf die harsche Wirk­lich­keit. Nur in seinen Träumen findet er ein wenig Frieden und Glück. Diese kleinen Passagen des Entrin­nens in poeti­scher Sensi­bi­lität, allem Desaster zum Trotz, einzu­fangen ist eine weitere besondere Qualität Neymanns Film.

Durchaus ausse­rer­ge­wöhn­lich ist auch Wadjda, Erst­lings­werk der Filme­ma­cherin Haifaa Al-Mansour und zugleich erster komplett in Saudi-Arabien reali­sierter und fina­li­sierter Film. Al-Mansour porträ­tiert, oft mit versteckter Kamera, eine selbst­be­wusste, rebel­li­sche Zwölf­jäh­rige in hypo­kriter Umgebung, struk­tu­riert durch den gesamten Alltag über­zie­henden Regeln, unter strenger Aufsicht gehalten von ihrer Mutter wie der Lehrerin. Allen Wider­s­tänden zum Trotz sucht sie ihren Weg zu ein wenig Freiheit und Souver­änität, nie ihren Traum aufgebend, ein Fahrrad zu haben, Symbol der weib­li­chen Aufleh­nung gegen stereo­type Erziehung und geschlechts­be­zo­genes Rollen­ver­halten. Um ihr Ziel zu erreichen, lernt sie selbst Passagen des Korans auswendig, da hier ein Preisgeld zu gewinnen ist. Sie entpuppt sich als talen­tierter als all ihre dümpelnden, devoten Mitschü­le­rinnen. Mit feinem Humor, Polemik und Pathos meidend, bietet Al-Mansour einen inten­siven Blick in eine Gesell­schaft in langsamer Trans­for­ma­tion hin zur Respek­tie­rung von Indi­vi­dua­lität und Aner­kenntnis des Rechts auf Selbst­be­stim­mung.

Der dritte beein­dru­ckende Wett­be­werbs­bei­trag kam aus Grie­chen­land. Boy Eating the Bird’s Food von Ektoras Lygizos taucht tief ein in die verwirrten Wahr­neh­mungen und unsta­bilen psycho­ti­schen Verhal­tens­weisen eines jungen Mannes. Die Close-up-Einstel­lungen erlauben dem Zuschauer weder Übersicht noch Distanz­nahme, posi­tio­nieren ihn dagegen in der gleichen klaus­tro­phoben Position, in der auch der Prot­ago­nist sich befindet. In pausen­losen schnellen und unkon­trol­lierten Bewe­gungen, einer durch Nahrungs­mangel verur­sachten Trance, kostet und verschlingt dieser alles, was sich in seiner unmit­tel­baren Umgebung befindet, einge­schlossen das Futter seiner beiden Vögel, die einzigen Wesen nebenbei, für die er wirklich sich sorgt. Dieser Hyper­ner­vöse folgt hilflos einer jungen Frau durch die Strassen und Korridore, die den Zuschauer in eine ebenso nervöse Erwar­tungs­hal­tung versetzen. Lygios schafft eine miss­be­hag­liche anstei­gende Spannung. Die beschleu­nigte Desori­en­tie­rung eines verwirrten Geistes lassen Darren Aron­ofskys Requiem for a Dream anklingen.

Der deutsche Beitrag, Marga­rethe von Trottas Hannah Arendt verschenkt leider das bedeut­same Thema der Konfron­ta­tion mit der admi­nis­tra­tiven Banalität des »Bösen«, die während des Eichmann-Prozesses in Israel für Arendt zur schock­haften Evidenz wurde, da ihr Film sich auf die senti­men­talen Aspekte Arendts privater Umgebung konzen­triert, den in die Verei­nigten Staaten emigrierten Intel­lek­tu­ellen, wie auch ihren israe­li­schen Freunde, nicht zu vergessen Heidegger, der in einer Rück­blende vor ihr als junger Studentin kniend um Liebe bettelt. All diese Figuren sind tenden­ziell porträ­tiert als eine Schar hyste­ri­scher Jugend­li­cher zwischen Ressen­ti­ments und simpler Mora­li­sie­rung. Auf der anderen Seite offeriert Trotta einige Minuten puren intel­lek­tu­ellen Genuss, den als Univer­sitäts­rede ins Bild gebrachte Meis­ter­dis­kurs Arendts zur Frage der Würde des Denkens. Diese Passage bleibt gewiss in Erin­ne­rung.

Sowohl im »Eurasien« wie im estlän­di­schen Wett­be­werk­pro­gramm fiel Toomas Hussard Mushroo­ming auf durch seine sati­ri­sche Behand­lung der mentalen und mora­li­schen Degra­da­tion eines hoch­ran­gigen Poli­ti­kers und eines Rockstars in kriti­schen, karrie­re­schäd­li­chen Situa­tionen. Zwei­fellos gewinnt das Thema an Aktua­lität ange­sichts der kürzlich eröff­neten Korrup­ti­ons­vor­würfen hoch­si­tu­ierter Politiker in Estland. Auf der anderen Seite zeigt Hussard in beein­dru­ckender Luzidität die massen­me­diale Mani­pu­la­tion der Fakten durch groteske Rhetorik und senti­men­tale Stra­te­gien. Ebenfalls bemer­kens­wert in der estlän­di­schen Sektion war Ain Mäeots Film Demons, auf den ersten Blick eine Studie zur Spie­ler­men­ta­lität, auf den zweiten ein trans­pa­renter Kommentar zur Konfron­ta­tion der Naiven mit den falschen Verspre­chungen einer Konsum­ge­sell­schaft, die für all dieje­nigen strikt in die Kata­strophe führt, die nicht gerüstet sind für ihre Spiele und Risiken.

Im »Tridens Herring«-Wett­be­werb, der nord­eu­ropäi­sche und baltische Film­pro­duk­tionen zusammen schließt, fand der deutscher Beitrag Jan Ole Gersters Oh Boy große Beachtung, der aufs Neue und beacht­lich verdichtet eine bekannte Geschichte variiert: die Rat- und Lust­lo­sig­keit eines jungen Mannes, Identität, Status oder gesell­schaft­liche Rolle anzu­er­kennen. Der Einladung seiner Freundin zu bleiben, lehnt er gleich zu Beginn des Filmes ab, sein Kontakt mit der Führer­schein­ord­nungs­behörde konfron­tiert ihm mit büro­kra­tisch legi­ti­mierten sadis­ti­schen Ritualen ritueller Degra­da­tion, sein Vater, Karikatur eines erfolg­rei­chen Geschäf­te­ma­chers mit sadis­ti­schen Tendenzen, bietet ihm keine Perspek­tive, und selbst Begeg­nungen mit scheinbar freieren Menschen, wie mit einer Schau­spie­lerin, die einst in ihn verliebt war, entpuppen sich auf den zweiten Blick nicht unpro­ble­ma­tisch, da auch diese nicht frei sind von massiven Traumata und sich letztlich in hilfloser Selbst­be­haup­tung verlieren. Der Mangel an einem akzep­tier­baren und sinn­er­füllten Lebens­mo­dell kulmi­niert in Gersters auf Schwarz­weiß redu­zierter Film­sprache zu einer letzten Begegnung mit einem alten Einsamen in einer Berliner Kneipe, der sein Leben lang keinen Weg zu einem gesel­ligen Leben gefunden hat und kurz darauf ohne jeden Verwandten in einem Kran­ken­haus stirbt. Für den Jungen wird der Alte zur Vision seines eigenen Lebens, tun sich ihm nicht noch neue Wege auf. Gersten betont, einen sehr subjek­tiven, auf eigenen Erfah­rungen aufru­henden Film gemacht zu haben, entgegen der Verlo­ckung, und ein Erfolg verspre­chendes Skript zu verfilmen. Der tatsäch­liche Erfolg seines Filmes in Deutsch­land, besonders auch in Berlin, indiziert, dass das Verlangen nach persön­li­chen Film­spra­chen ange­sichts zuneh­mender Skript­kon­trolle nur umso größer wird.

Der zweite, aus dem Rahmen fallende Film der »Tridens Herring«-Sektion kam aus Russland. Aleksandr Kasatkins und Natalya Nazarovas Film Tochter taucht sensibel ein in die für Jugend­liche No-Future signa­li­sie­rende Welt einer russi­schen Provinz­kle­in­stadt. Mangels Alter­na­tiven flüchten sie einer­seits in die wohl kontrol­lierte Welt des leichten Sex und Drogen­kon­sums, ande­rer­seits sind sie konfron­tiert mit orthodox reli­giösen Lebens­werten, die ihnen »Sünde« vorhalten. Die Filme­ma­cher verviel­fa­chen die Proble­matik auf Felder wie orthodoxe Wahn­vor­stel­lungen, die zur Selbst­sti­li­sie­rung als Rache­engel führen, die Proble­matik des Beicht­ge­heimnis selbst in extremen Situa­tionen, der schnell aufkei­menden Lynch­justiz in geschlos­senen Enklaven und Folter­prak­tiken der Polizei hinter geschlos­senen Türen. In diesem von Gewalt geprägten Desaster gelingt es ihnen zugleich, die Geschichte einer scheuen und sanften Liebe zu gestalten, die nie aufge­setzt wirkt, nicht zuletzt aufgrund der über­zeu­genden schau­spie­le­ri­schen Leistung der jungen Akteure. Die Fipresci vergab ihren Preis an dieses viel­schich­tige und trotz des lokal­spe­zi­fi­schen Zuschnitts überaus aktua­litäts­be­zo­genen Werkes: da-Gott-existiert-ist-alles-erlaubt.

Aus dem breit gefächerten »Panorama«-Programm sei nur ein Film zitiert, der ebenfalls seine Stärke durch die persön­liche Betrof­fen­heit der japanisch-korea­ni­schen Filme­ma­cherin Yang Yonghi gewinnt. Nach der japa­ni­schen Okku­pa­tion in Korea wurden den korea­ni­schen Annek­tierten nie die Chance einer wirk­li­chen Inte­gra­tion in die japa­ni­sche Gesell­schaft eröffnet. Sie bleiben stets ausge­schlossen von wirk­li­chen Berufs­chancen. Als Konse­quenz folgten einige von ihnen dem Ruf der Repa­tri­ie­rung (nach Nordkorea), was zur endgül­tigen Spaltung von Familien führte und sich in Folge als eine verhäng­nis­volle Illusion entpuppte. Vor ihrem aktuellen fiktio­nalen Film Our Homeland ging Yang dieser wenig bekannten, ihr eignes Fami­li­en­schicksal spie­gelnden Proble­matik, bereits in zwei vorher­ge­henden Doku­men­tar­filmen nach. Hier nutzt sie die Mittel der Drama­turgie, um dem Konflikt vor allem mit einer psycho­lo­gi­schen Dimension zu bereichen, der Frage nach der Verant­wor­tung für die Rück­sen­dung nach Nordkorea, die die endgül­tige Spaltung der Familie einlei­tete.

Im gut ausge­wählte »Human Right«-Programm soll hier nur an das wichtige Schweizer Werk Forbidden Voices von Barbara Miller erinnert werden, das drei Frauen in drei Ländern (Kuba – China – Irak) in ihrem täglichen Kampf für die funda­men­talsten Frei­heits­rechte und ein Überleben in Würde porträ­tiert. Ihnen gemeinsam ist, neue Kommu­ni­ka­ti­ons­formen wie Facebook zu nutzen, für sie die einzige Form eines effek­tiven Wider­standes, der ihnen den Ausbruch aus der Anony­mität ermög­licht, in der sie stets Opfer geblieben wären.

Das Team des Black Night Festival betreut alle geladenen Gäste mit einer herz­li­chen Aufmerk­sam­keit, die es schwer machen, wieder von hier aufzu­bre­chen, gewiss mit dem Wunsch, bald zurück zu kommen. Dies ist der richtige Ort, ihnen dafür zu danken. (Dieter Wieczorek war Mitglied der dies­jäh­rigen Fipresci-Jury.)