10.05.2012

50 Jahre Manifest

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
The Centrifuge Brain Projekt

Die Oberhausener Kurzfilmtage 2012

Von Doris Kuhn

Der ganze Ruhrpott ist voll mit Plakaten, hellgrün wie der Frühling: Ober­hau­sener Manifest 1962 – 2012. Fünfzig Jahre ist es jetzt her, dass eine Handvoll Rebellen bei den Ober­hau­sener Kurz­film­tagen das berühmte Manifest verlas, das vorgab, wie der Film sich ändern müsse, um ein besserer zu werden. Damit hatte der Neue Deutsche Film seinen offi­zi­ellen Start­schuss 1962. Der wurde in diesem Jahr schon mehrfach gefeiert, zweimal im Februar in München, Heimat­stadt vom Großteil der Mani­fes­t­anten, einmal zu Beginn des aktuellen Ober­hau­sener Festivals am 26. April. Das öffent­liche Interesse am unab­hän­gigen, künst­le­ri­schen Film kochte anläss­lich des Jahres­tags speziell in München so hoch, als läge jeder­manns geheime Liebe beim nicht­kom­mer­zi­ellen Kino – exotische Reaktion für eine sonst so main­stream-orien­tierte Gesell­schaft.

Ober­hausen hingegen nutzte natürlich die Aufmerk­sam­keit klug für das Programm der dies­jäh­rigen Kurz­film­tage. Es gab eine Reihe namens »Mavericks, Mouve­ments, Mani­festos«, die zum einen deutsche Filme aus der Zeit des Manifests zeigte (knapp 20 von ihnen wird es auf einer DVD geben, die in der Edition des Münchner Film­mu­seums erscheint). Zum anderen wurde der Aufbruchs­stim­mung jener Jahre auch in anderen Ländern nach­ge­spürt, mit Filmen aus Frank­reich, Ungarn, USA, Schweden und Japan.

Die Retro­spek­tive bot also Kurzfilme, die zwischen 1957 und 1966 entstanden. Sah man sich diese an, kombi­niert mit den Programmen aktueller kurzer Filme, passierte das, was immer Ziel eines guten Festivals ist: man entdeckte Über­schnei­dungen, Verknüp­fungen, Paral­lelen trotz aller stilis­ti­schen Unter­schiede. Die Kühnheit des formalen Expe­ri­ments in einem Film wie Ming Green von Gregory Marko­poulos, USA 1966, korre­spon­dierte mit Filmen wie Kerry Laitalas Conjuror’s Box, USA 2011, der sich mit ange­brachter Wehmut dem aktuellen Verschwinden des 35mm-Materials widmete. Die Avant­garde, das ließ sich hier erkennen, zeigt sich immer noch im expe­ri­men­tellen Film. Der kurze Spielfilm dagegen hatte Probleme mit genau der geringen Länge: Auch eine gute Idee für Inhalt und Form trug oft nicht über die Dauer von 20 Minuten, sondern verpuffte schon nach zwei. Danach setzte die Repe­ti­tion ein, Pferde wurden zu Tode geritten, weniger wäre mehr.

Poli­ti­sches Bewusst­sein sah man viel, nicht nur in den arabi­schen Filmen, dort aber besonders schön. In Café Regular, Cairo (Ritesh Batra, 2011) unterhält sich ein junges Paar über das Undenk­bare, über Sex vor der Ehe, und es ist die Frau, die dieses Gespräch antreibt und dahin steuert, wo ihre Inter­essen liegen: Zur Liebe. Weniger hoff­nungs­froh war der femi­nis­ti­sche Input bei Anna (Öster­reich 1980/81), einem der großar­tigen, streng struk­tu­rierten Filme von Linda Chris­ta­nell. In Anna konnte man unter anderem sehen, wie Gene­ra­tionen von Frauen ihre Demut in Häkel­borten fassen, eine textile Zierde, deren manischer Charakter plötzlich augen­fällig wurde.

Das Festival widmete Chris­ta­nell eine Werkschau, für die man höchst dankbar war, wenn man immer schon eine Ergänzung haben wollte zu den – auch nur mehr selten gezeigten – Filmen der öster­rei­chi­schen Avant­garde des letzten Jahr­hun­derts. Die halbe Öster­rei­cherin, halbe Schwei­zerin Linda Chris­ta­nell, Jahrgang 1939, sortierte sich spät in die Künst­ler­truppe um Kurt Kren oder Peter Kubelka, die schon in den Fünf­zi­gern mit filmi­schen Expe­ri­menten loslegten. Chris­ta­nell begann als bildende Künst­lerin, ging über zu Perfor­mance und Foto­grafie, und den nächsten Übergang konnte man bei Die Dinge entscheiden selbständig (1977) im Ober­hau­sener Lichtburg-Kino miter­leben: Da waren es noch Dias, die nach­ein­ander auf der Leinwand erschienen, in der nächsten Arbeit begannen die Bilder dann, sich zu regen. In einem ersten Super-8-Film sah man, so schlicht wie inspi­rie­rend, die Bewegung einer Handin­nen­fläche von Nahem. Nichts anderes versprach der Filmtitel, Movements In the Inside of My Left Hand (1978), und er gab dem Zuschauer 6 Minuten lang Zeit, Struk­turen und Kontraste zu betrachten, die mal wie Haut, mal wie fremde Land­schaft wirkten.

Chris­ta­nells autonome Herstel­lungs­weise von Super-8 und 16mm Arbeiten unter­scheidet sich eklatant vom Filme­ma­chen der Gegenwart, obwohl die Reduktion der Mittel ja digital auch soweit ist, dass jeder jederzeit mit seinem Handy Filme dreht, mit Kunst oder ohne. Über die digitalen Bilder, in Herstel­lung wie Rezeption, gab es allmor­gend­lich eine Gesprächs­runde mit Teil­neh­mern wie der Berli­nerin Constanze Kurz vom Chaos Computer Club oder dem Video-Essay­isten Kevin B. Lee aus Chicago. Film, soviel wurde geklärt, kommt heute haupt­säch­lich über den Computer und oft bloß in Frag­menten. Nur schwer würde hier ein Betrachter die Geduld aufbringen, die ein Chris­ta­nell-Film verlangt.

Besonders die klas­si­sche private Version des Filme­se­hens, das Fernsehen, rückte weit in den Hinter­grund. Sie habe sieben Bild­schirme, erzählte Constanze Kurz, aber keiner davon sei ein Fernseher. Nur Claudius Seidl, Chef­re­dak­teur der FAS, sprach noch von jenem inneren Bedürfnis, beim Fernsehen an etwas teil­zu­nehmen, was viele andere Menschen gleich­zeitig auch erleben. Das lässt sich in Deutsch­land bei jeder Fussball-Lifeüber­tra­gung finden – wahr­schein­lich der letzten Erschei­nungs­form des Phänomens »Straßen­feger«.

Das Festival selbst fegte immerhin die Ober­hau­sener ins Kino und die fremden Gäste zuein­ander hin, denn die Atmo­s­phäre war so unprä­ten­tiös sympa­thisch, dass Gespräche im Foyer unver­meid­lich wurden. Die Vorführer muss man unbedingt loben für ihre Profes­sio­na­lität, sei es im Umgang mit altem oder neuem Material, Kino und Kantine waren entspannt zu Fuß zu erreichen, und trotz stolzer Ernst­haf­tig­keit fand sich im Programm auch so gran­dioser Unfug wie ein echter Mad-Scientist-Film: Ziel des Wissen­schaft­lers in The Centri­fuge Brain Projekt (Till Nowak, 2011) ist, die Gehirne der Menschen durch Zentri­fu­gal­kraft zu opti­mieren. Wie dieses Expe­ri­ment ausgehen wird, ist noch ungeklärt; bis dahin bleibt es weiterhin Sache des Ober­hau­sener Festivals, einmal jährlich die Gehirne des Publikums in einen höheren Bewusst­seins­stand zu schnellen.