06.05.2010

Die Wonnen der Regres­sion

Monolog
Monolog, Laure Prouvost, GB 2009 – Internationaler Wettbewerb, Hauptpreis

Sehen lernen in Oberhausen: Älteste und neueste Werke bei den 56. Internationalen Kurzfilmtagen

Von Rüdiger Suchsland

Ein Clip aus einer anderen Zeit: Frauen, Männer, junge Frauen, junge Männer. Bilder, die seltsam berühren. Oder ist das nur Kitsch? Und wenn schon. Klaus Lemke, den man sich scheut, einen »Film­ve­teran« zu nennen, aber irgendwie ist er das halt, der Ex-Münchner Lemke also hat in einem Musik­vi­deo­clip zum Song »Andere Leute« einfach Bilder aus früheren eigenen Filmen, vor allem aus Liebe, schön wie die Liebe von 1972 zusam­men­ge­schnitten, in einer Form, die dann Sinn ergibt und Rhythmus hat. Auf den ersten Blick allzu einfach, stellt sich schnell eine magische Wirkung ein: Schöne Frauen, schöne Männer, deren bewegte Portraits eine eigene Aura entfalten, Gesichter eines verschwun­denen deutschen Kinos, verlorene und verges­sene Verspre­chen, die kaum einer aus der Gene­ra­tion des neuen deutschen Films gehalten hat, allen­falls Lemke selbst und der kürzlich verstor­bene Werner Schroeter. In ihnen geht es einfach um Schönheit. Man träumt sich zurück in eine verlorene Zeit. Eine ganz wunder­schöne Erfahrung und eine der über­ra­schensten Entde­ckungen auf den »Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen ›.‹«

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Alle Jahre wieder ziehen immer genau um den »Tag der Arbeit« die Filmszene nach Ober­hausen, um sich dort zu einer Maikund­ge­bung ganz eigener Art zu treffen: Den »Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen«, die es inzwi­schen auch schon seit 56 Jahren gibt. Ausge­rechnet in Ober­hausen. Immerhin wurde hier einst Christoph Schlin­gen­sief geboren, außerdem hat die Stadt zur Film­ge­schichte neben tausenden von Kurz­film­pre­mieren auch noch jenes berühmte »Ober­hau­sener Manifest« beige­tragen, das Grün­dungs­do­ku­ment des deutschen Auto­ren­kinos, das die meisten deutschen Filme­ma­cher leider längst vergessen haben, obwohl daran hier jedes Jahr in irgend­einem nicht immer passenden Zusam­men­hang erinnert wird.

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Es ist bis heute, viel­leicht heute sogar noch ein bisschen mehr, eine kuriose bis absurde Erfahrung, am ersten Mai in dieser Stadt zu sein, um die man sonst eher, womöglich völlig zu Unrecht, einen Bogen macht: Gewerk­schaftler ziehen mit Tril­ler­pfeifen trillernd durch die Stadt, im prall­vollen Teil der Fußgän­ger­zone lang­weilen sich ein paar traurige Wahl­kämpfer der CDU und der Grünen, die in dieser durch und durch sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­stadt wahr­schein­lich keine Schnitte machen, das Wahlvolk klumpt sich derweil 20 Meter weiter um fahrende CD-Verkaufs­buden, aus denen laut die neuesten Hits von Michael Wendler dudeln. Im fast ausge­stor­benen Teil derselben Fußgän­ger­zone finden in einem sehr schönen Kino noch bis Dienstag die Kurz­film­tage statt. Da werden dann die inter­na­tio­nalen Doku­men­tar­filmer, genau gesagt eine sehr eigene Schnitt­menge aus Kurz­film­spe­zia­listen, Film­stu­denten und Expe­ri­men­tal­fil­mern, in den Pausen von den Einhei­mi­schen wie gerade gelandete Aliens angeguckt, an den Vormit­tagen disku­tieren sie bei sehr lohnens­werten Podi­ums­dis­kus­sionen, der zweiten Säule des Festivals, über spannende, manchmal aber auch etwas abge­ho­bene Dinge.

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Diesmal geht es um »Die Illusion des Ich«. Teil­nehmer war unter anderem der bekannte britische Doku­men­tar­filmer Adam Curtis, der meist für die BBC arbeitet, und viel­leicht deshalb eine etwas boden­s­tän­di­gere Perspek­tive einfor­derte. Curtis, erstmals bei den Kurz­film­tagen, amüsierte sich über den Clash zwischen Filme­ma­chern und der übrigen Welt: »Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie wenig Idee zeit­genös­si­sche Künstler haben. Dabei hat Kunst auch die Funktion, der Gegenwart die Vision eines anderen Lebens entge­gen­zu­halten und diese auch zu erklären. Aber es gibt sie nicht. Statt­dessen findet man nur inter­es­sierte Ratlo­sig­keit.« Dann schlug Curtis einen nur auf den ersten gewagten Bogen zur kommenden Parla­ments­wahl in seiner Heimat: »Das passiert im Grunde genau dasselbe. Alle Parteien und ihre Kandi­daten machen nicht die Politik, die sie für richtig halten, sondern die, von der sie glauben, dass die Wähler sie wollen. Das ist aber nicht ihre Aufgabe. Politiker wie Künstler schaffen sich auf diese Weise selber ab. Was wir erleben, ist ein Total­ver­sagen der Eliten.«

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Die Filme laufen hier kunter­bunt durch­ein­ander, sehr vage zusam­men­ge­stellt nach Themenähn­lich­keiten zu Programmen, die dann zusammen etwa so lang sind, wie ein Spielfilm: 90 bis 120 Minuten. Man fragt sich, ob diese Ironie eigent­lich den Machern bewusst ist? Oder gar Absicht? Ansonsten wird nur unter­schieden zwischen einem inter­na­tio­nalen und einem deutschen Programm, einer Extra-Reihe für Musik­vi­deos und Retro­spek­tiven.

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Erst vor genau hundert Jahren kam das Kino zu sich selbst: 1910 erschien zum ersten Mal der Name der Darsteller auf Film­ab­spann und Kino­plakat, und mit dieser Geburt des Filmstars wandelten sich bald die Zuschau­er­inter­essen und die Gestalt der Filme. Die Gebrüder Lumieres hatten zwar 1895 die Technik erfunden, mit der aus Foto­gra­fien der Eindruck von Bewegung erzielt werden konnte, aber es bedurfte eines anderen fran­zö­si­schen Brüder­paars, den Pathés, um das Kino dem Jahrmarkt zu entreißen: Sie schufen ein Korre­spon­den­ten­system in der ganzen Welt, das in großen Mengen exotische Doku­men­tar­bilder nach Paris lieferte, sogar mit Film­auf­nahmen – zum Teil origi­nalen, häufig nach­ge­stellten – vom Russisch-Japa­ni­schen Krieg und dem Aufstand auf dem Panzer­kreuzer Potemkin trumpfen konnten. Die Pathés erfanden auch die Vorläufer des Star­sys­tems, sie versahen ihre Filme mit eigenen Logos und schufen als erste ein Verleih­system. So machten sie das Kino zu dem, als das wir es heute kennen. Etwa zur gleichen Zeit, ab 1910 wurden die Filme auch länger als 60 Minuten und schnell kam es zur Heraus­bil­dung von Genres und Formaten. Davor war jeder Film ein »Kurzfilm« im heutigen Sinn, also auch inhalt­lich verspielter, expe­ri­men­tell bis zum Anar­chismus und ein Mix verschie­dener Genres; aller­dings meist weniger intel­lek­tuell. Vieles, was in den ersten Licht­spiel­häu­sern, oft provi­so­ri­schen Hütten, damals vorge­führt wurde, sah auch aus, wie das, was man heute als »Found Footage« bezeichnet: Neu arran­gierte Schnipsel und Fund­s­tücke, die offen­sicht­lich nicht zusam­men­gehörten oder auch nur -passten, aber gerade aus dem kreativen Neuar­ran­ge­ment Funken schlugen.

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Die Kurz­film­tage Ober­hausen waren also der genau der richtige Ort für die in vieler Hinsicht erstaun­liche Retro­spek­tive, die unter dem poeti­schen Titel »Vom Meeres­grund« früheste Kurzfilme von 1898-1918 versam­melte, mit klarem Schwer­punkt auf den wenigen kreativen Jahren 1905-1910, als sich der Film in Sieben­mei­len­stie­feln verän­derte und zum Kino wurde. Die frühesten Filme sind ungemein albern und zugleich tragisch, und gern Grotesken, die Terror und Humor kombi­nieren, wenn etwa das Duell zweier Herren um eine Dame mit Granaten ausge­tragen wird: Ein Körper explo­diert in seine Einzel­teile, wird aber am Ende wieder zusam­men­ge­setzt, sodass alles ohne schlimme Folgen bleibt. Oder in Le nègre gourmand wo der plumpe Witz darin liegt, dass einem sichtbar unbe­hag­li­chen Schwarzen eine weiße Sahne­torte ins Gesicht geworfen wird. Subver­siver wirkten da die Episoden um Tilly und Sally, zwei britische Komi­ker­girls, die mal Gouver­nanten ärgern, mal mit einem Wasser­schlauch vorbei­ra­delnde Bürger bespritzen. Man muss hier wohl von der Pubertät des Kinos sprechen, womit auch jenes Element wonniger Regres­sion benannt wäre, das sich einstellt, wenn man heute diese Filme sieht, die, wie die Schweizer Kuratorin Mariann Lewinsky betonte, »nicht für uns gemacht wurden.«
Das gilt gerade bei einem eher protes­tan­ti­schen »Arbeits­fes­tival« wie Ober­hausen, wo ein Film zumindest bei manchem Filme­ma­cher erst als Erfolg gilt, wenn er mindes­tens ein Dutzend Zuschauer aus dem Saal treibt. Bei den frühen Filmen durfte man hingegen unge­straft schallend lachen und manchmal glaubte man dann, beim Publikum eine klamm­heim­liche Erleich­te­rung zu spüren, der dann die Subti­lität, die auch diese Werke oft auszeichnet, zum Opfer fiel.

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Die Tugenden der besten frühen Filme: Neugier, Erfah­rungs­hunger, Expe­ri­men­tier­freude und die Fähigkeit, Kompli­zier­testes in knappen Bildern und wenigen Skizzen zu konden­sieren, hat das alte Kino dann aller­dings mit dem aller­jüngsten gemeinsam. Auf atem­be­rau­bende Weise zeigten das zwei junge Frauen: Die Finnin Miia Tervo kombi­niert in Lumikko zunächst Dispa­rates: Bilder einer jungen Frau, eine Renn­tier­jagd, Disco­bilder, Schwarz­weiß-Aufnahmen von Autos und Panzerübungen. Das ist anfangs schwer zu deuten, bekommt aber nach und nach Sinn, als nächt­liche Anrufe eines traurigen Mädchen bei einer Radio-Sendung ins Spiel kommen – mit einem Knall­ef­fekt, der einer ameri­ka­ni­schen Short-Story ähnelt, begreift man dass der Ton nicht fiktional ist, sondern aus dem Archiv stammt und einen realen Miss­brauchs­fall schildert. Ganz anders, aber ähnlich in seiner immer beiläu­figen Erzähl­form ist Second Cousins Once Removed von Eliza Hittman. Als hätte Monte Hellman oder Cassa­vettes einen Zehn­minüter gedreht, enthält diese Reise zweier Mädchen durch die Lange­weile einer Durch­schnitts­nacht nicht nur das ganze Zauber­land der Kindheit, sondern auch die Mythen des ameri­ka­ni­schen Alltags.

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Was den Kurzfilm vom übrigen Kino unter­scheidet, ist die Vielfalt seiner Formen. Ange­fangen mit den unter­schied­liche Längen – von unter einer Minute bis über 40 Minuten –, gibt es auch viele unter­schied­liche Typen: Spielfilm, Doku­men­ta­tion, Musik-Video, Animation, Kino-Essay und Expe­ri­men­tal­film. Kurzfilme sind grob gesagt intel­lek­tu­eller, aber auch gewagter und spie­le­ri­scher.

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Im deutschen Wett­be­werb blieben eher bereits bekannte Regis­seure mit ihren neuesten Arbeiten im Gedächtnis: Corinna Schnitts Hänsschen Klein war eine Art urbaner Heimat­film im Minia­tur­format einer einzigen langen Einstel­lungen, eines sieben­minü­tigen Rück­wärts­zooms, der vom Blick auf ein Porzel­lan­ge­mälde auf einen Straßen­pan­orama führt, und einen, wie man so sagt, das Sehen lehrt. Christoph Girardet und Matthias Müller, die immer zusam­men­ar­beiten und die aus Klas­si­kern – zum Beispiel zu Hitchcock gibt es eine ganze Serie, die im Museum of Modern Art lief – eigene Geschichten zusam­men­setzen. Der neue Film Maybe Siam erzählt von Blinden und Blindheit im Kino – Refle­xionen über das Kino und eine melan­cho­li­sche Betrach­tung über Sehen und Nicht­sehen im Kino, und über Orte, die nur in der Vorstel­lung exis­tieren, die man lange weiter­denken könnte.

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Auffal­lend viele Arbeiten machten Fragen der poli­ti­scher Ästhetik zum Thema: Aus ihnen stach zum einen Flag Mountain von Altmeister John Smith heraus: Die dichte Beschrei­bung der protür­ki­schen Flag­gen­pro­pa­ganda in einem zyprio­ti­schen Grenzort, in der die leise Ironie des Regis­seurs immer präsent bleibt. Mehrere Filme aus Israel, etwa Promo­tional Video von einer poli­ti­schen Thea­ter­gruppe, wirkten wie die direkte Wieder­spie­ge­lung des Über­drucks der poli­ti­schen Situation. Der israe­li­sche Film Mur i wieza (Mauer und Turm), einer von vier Beiträgen aus Israel, der den zweiten Preis gewann, thema­ti­siert die Stra­te­gien und den Stil von Propa­gan­da­filmen. Wenn es an der guten, aber nicht über­ra­genden Ober­hau­sener Auswahl etwas zu bemängeln gab, dann war das die geringe Neugier für das Kino jenseits des Westens. Europa und die USA domi­nierten, Latein­ame­rika und Asien waren unter­re­prä­sen­tiert.

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Fast wie ein Videoclip wirkt Las remesas, ein vier­minü­tiger Film aus El Salvador, der in schnellen Schnitten und mit Witz mal eben die Finanz­krise erklärt: Anhand einer illegalen El Salva­do­ria­nerin in den USA. Erwar­tungs­gemäß hatten auch bei der Preis­ver­lei­hung am Dienstag poli­ti­sche Werke die Nase vorn: Im Fall von Madame & Little Boy vom Magnus Bärtås sehr verdient. Der Schwede doku­men­tiert in 28 Minuten die ebenso phan­tas­ti­sche, wie wahre Geschichte von Choi Eun-hee (Madame Choi), die als Schau­spie­lerin in die Fänge der Politik geriet, von Nordkorea entführt wurde. Ein Film über die Macht des Kinos, die nord- wie südko­rea­ni­sche Geschichte des 20. Jahr­hun­derts und histo­ri­sche Patho­lo­gien

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Für die Wegstrecke, die das Kino im letzten Jahr­hun­dert zurück­ge­legt hat, stand auch das sekti­ons­über­grei­fende Thema der Debatten-Podien über »Die Illusion des Ich«, also die Behaup­tung, dass dieses »Ich« eigent­lich eine Erfindung des 20 Jahr­hun­derts, von Marketing, poli­ti­scher Propa­ganda und Werbe­psy­cho­logie ist. Was das Kino, das im Zeitalter von YouTube gewis­ser­maßen wieder zu seinen expres­siven Ursprüngen in den Jahr­märkten der »Welt von Gestern« zurück­kehrt, zur Zukunft dieser Illusion oder dem Wieder­auf­er­stehen des Subjekts beitragen könnte, zeigte sich in Ober­hausen immerhin in Ansätzen: In zwei Jahren wird man in Ober­hausen etwas deut­li­cher Flagge zeigen müssen: Dann wird das nach wie vor stil- und bewusst­seins­bil­dende Ober­hau­sener Manifest des Auto­ren­kinos 50 Jahre und hoffent­lich nicht nur das Thema einer erbau­li­chen Retro­spek­tive.