04.02.2010

Die Kunst des Zusam­men­hangs

Helke Sander: DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT - REDUPERS
Das Forum: Generationen im Dialog, international, familiär

Revolte und Reflexion: 40 Jahre »Internationales Forum des jungen Films« – über ästhetischen Strategien des Widerstands auf einem Filmfestival

Von Rüdiger Suchsland

Kürzlich habe er mit seinem Sohn einen gerade zehn Jahre alten Hollywood-Film gesehen, erzählt der japa­ni­sche Regisseur Sabu auf den Jubiläums­seiten der aktuellen Forums-Homepage, und berichtet von diesem Erlebnis: »Ich war frappiert, wie alter­tüm­lich mir der Film jetzt vorkam. Zu seiner Zeit war es ein gut gemachter, modischer Action­film ... Kommer­zi­elle Filme, die halb­herzig irgend­wel­chen neuen Moden hinterher rennen, glänzen, wenn sie heraus­kommen, aber schon wenige Jahre später wirken sie verstaubt. Wirklich tief­grei­fende und große Filme werden viel­leicht wie Wein durch Gärung gewonnen. Ein guter Film ist wie ein Lebewesen. Je nach Zeit und Perspek­tive wirkt er frisch und neu. Bei guten Filmen lässt sich jedes Mal etwas Neues entdecken.« Solche zeitlos leben­digen, nie veral­tenden Filme sind es, die die Faszi­na­tion des Kinos ausmachen, und die Cinephile dort immer wieder suchen. Das Inter­na­tio­nale Forum des Jungen Films, das im vergan­genen Sommer mit den umfang­rei­chen Feiern zu seinem 40-jährigen Jubiläum in diesem Februar begann – seiner­zeit fand die Berlinale ja noch im Juni statt –, hat sie in der Vergan­gen­heit immer wieder gefunden, mit erstaun­li­cher Treff­si­cher­heit, und über alle Moden, Stil­wechsel und politisch-kultu­relle Gezeiten hinweg.

Den Auftakt zum Jubiläum bildete eine kleine Reihe im Berliner Arsenal-Kino, die »Dialoge mit Filmen« über­schrieben war. Dieser Titel und das Prinzip ihrer Kura­tie­rung sagt schon sehr viel: Man lud ein paar namhafte jüngere inter­na­tio­nale Regis­seure ein, aus den nunmehr rund 2300 Filmen der vergan­genen 40 Forums-Jahr­gängen ihre persön­liche Auswahl zu treffen, Filme­ma­cher und deren Forums­filme zu präsen­tieren, durch die »ihre eigene Arbeit geprägt« wurde, und für diese eine Art Paten­schaft zu über­nehmen: Sabu, der Regisseur von Unlucky Monkey, The Blessing Bell und von Monday, dem Caligari-Preis­träger des Jahrs 2000, präsen­tierte Hou Hsiao Hsiens Lien Lien Fung Chen, Jean-Marie Téno zeigte Baara von Souley­mane Cissé, Avi Mograbi D’est von Chantal Akerman, Aditya Assarat George Washington von David Gordon Green, Jia Zhangke zeigte Nuri Bilge Ceylans Kasaba, Sharon Lockhart So Is This von Michael Snow, Jasmila Žbanic (Berlinale-Siegerin mit Grbavica) Das Mädchen aus der Streich­holz­fa­brik von Aki Kauris­mäki, Anja Salo­mo­no­witz Beau travail von Claire Denis und No von Sharon Lockhart, und Bradley Rust Gray und So Yong Kim zeigten My Childhood & My Ain Folk von Bill Douglas. Die deutschen Regie­paten waren Ulrike Ottinger (Sieben Lieder aus der Tundra von Anastasia Lapsui und Markku Lehmus­kallio), Angela Schanelec (Sauve qui peut (la vie)) von Jean-Luc Godard und Ulrich Köhler (Die allseitig redu­zierte Persön­lich­keit – Redupers von Helke Sander). Man könnte jetzt schon anhand dieser spre­chenden, bis auf das Fehlen des latein­ame­ri­ka­ni­schen Films recht reprä­sen­ta­tiven, Auswahl das Forum charak­te­ri­sieren, seine maßgeb­liche Rolle für die Entde­ckung und Unter­s­tüt­zung des inter­na­tio­nalen Auto­ren­kinos loben. Aber wichtiger noch und nicht weniger charak­te­ris­tisch fürs Forum ist der generelle Ansatz dieses Programms: Gene­ra­tionen sollen in Dialog treten, familien-ähnliche Zusam­men­hänge wurden gebildet, und noch die Jubiläums­ver­an­stal­tung, zu der ein Großteil der Regis­seure nach Berlin anreiste, wirkte wie ein Festival im Kleinen.

»Die Arbeit des Forums ist immer auch ein Kollektiv gewesen, einer Familie, einer verschwo­renen Gemein­schaft« hielt Grün­dungs­di­rektor Ulrich Gregor in dem – ganz und gar ausge­zeich­neten – Jubiläums­band vor zehn Jahren fest. Diese Idee einer über die eigent­liche Veran­stal­tung hinaus gültigen Verbun­den­heit, das Wissen darum, dass man ästhe­ti­sche und poli­ti­sche Posi­tionen teilt, bedeutet in der Praxis wech­sel­sei­tige Loyalität: Des Forums zu »seinen« Filme­ma­chern ebenso wie der Regis­seure zum Forum. Das erreicht und über vier Jahr­zehnte aufrecht erhalten zu haben ist viel­leicht das erstaun­lichste an der erstaun­li­chen Geschichte dieses Festivals im Festival.

»Gegen­ber­li­nale« für Expe­ri­men­telles, Poli­ti­sches und Unbe­kanntes

Es waren im Wesent­li­chen drei Säulen, auf denen das Programm des Forums seit seiner Gründung 1970 ruhte: Man konnte dort das Expe­ri­men­telle, das politisch Dezi­dierte und die unbe­kannten Film­länder entdecken. Damit posi­tio­nierte sich das Forum von Anfang an ganz klar als Alter­na­tive zu dem verkrus­teten offi­zi­ellen Wett­be­werb der Berlinale. So war es bereits gegründet worden: Im Sommer 1969 von den Freunden der Deutschen Kine­ma­thek als »Ergän­zungs­pro­gramm« zur selbst­ge­fäl­ligen und kommer­zi­ellen Berlinale »aus Anlass der Berliner Film­fest­spiele.« Aus dem Under­ground­fes­tival wurde dann bereits 1971 nach dem Eklat um Michael Verhoevens Anti-Vietnam-Film O.K. mit anschließendem Wett­be­werbs­ab­bruch, ein gleich­be­rech­tigtes »Paral­lel­fes­tival«, um das Festival zu retten. »Man musste nach dem Debakel von 1970 irgend­etwas tun, es konnte so nicht weiter­gehen.«, so Gregor, »Die Stimmung war sehr stark gegen Wett­be­werbe, wenn man den nicht abschaffen wollte, dann musste man zumindest eine ergän­zende Veran­stal­tung anbieten. Wir waren ja auch kein Verein von Chaoten oder Anar­chisten, sondern recht­fer­tigten ein gewisses Vertrau­ens­ver­hältnis.«

Inter­na­tio­nales Forum des Jungen Films – schon dieser Titel ist seitdem Programm: Jung und Inter­na­tional wollte man sein, wobei jung sich nicht aufs Alter bezieht, sondern auf die Haltung, auf die Bereit­schaft zu einem wilden, fragenden, sich selbst infrage stel­lenden Denken mit den Mitteln des Kinos, ums Denken überhaupt – also Intel­lek­tua­lität, nicht von oben herab, aber auch ohne sich dümmer zu machen, als nötig, nur um billiger Anbie­de­rung willen. Und Inter­na­tional meinte den Blick den Blick vor allem auf unbe­kannte Kino­re­gionen und unter­drückte Film­spra­chen, auf alles, was aus diesen und jenen Gründen unter­re­prä­sen­tiert schien. Dazu gehörten auch Filme aus den USA, die sich abseits nicht nur von Hollywood, sondern auch vom Main­stream der Inde­pen­dent-Mode bewegten. Und jener China-Schwer­punkt »Elek­tri­sche Schatten«, der 2002 Filme vor allem aus Peking und Shanghai präsen­tierte, war nicht ein Reflex auf den damals gerade aufkom­menden China-Boom, sondern gerade der Versuch, Alter­na­tiven zur ober­fläch­li­chen Begeis­te­rung und zum seiner­zeit bereits zum Kunst­hand­werk erstar­renden Kino der älteren chine­si­schen Auto­ren­filmer zu öffnen. Vor allem die Entde­ckung des asia­ti­schen Kinos seit Ende der 80er Jahre ist vom Forum entschei­dend ange­stoßen und gefördert worden: Nicht nur China, Hongkong, Japan und Korea galten zum Teil mehrere Werk­schauen, auch Burma, Indo­ne­sien, Indien, Vietnam und zuletzt die Phil­ip­pinen widmete man explizite oder unaus­ge­spro­chene Programm-Schwer­punkte. Auch anderen Regionen in Latein­ame­rika und Afrika galten Sonder­prä­sen­ta­tionen. Nicht zuletzt diese Länder­schauen verän­derten oft den west­li­chen Blick sie wurden zum Auslöser eines neuen oder überhaupt ersten Inter­esses. Ebenso zeigte man frühe inter­na­tio­nale Werk­schauen, etwa für Yilmaz Güney, Margue­rite Duras, Manoel de Oliveira, und bereits im ersten Jahr für Fass­binder. Wenn man die Liste der gezeigten Filme – lange Zeit pro Jahr nur etwa 40, später dann bis zu 70, 80 Filmen pro Jahrgang – Revue passieren lässt, dann entdeckt man dort größte Namen, viele zur Zeit der Auffüh­rung auch unter Cineasten noch wenig bekannt: Oshima, Ange­lo­poulos, Marker, Garrel, Taviani, Loach, Yoshida, Ruiz, Imamura, Belloc­chio, Akerman, Wong Kar-wai, Johnnie To, Eustache, Greenaway, Karusmäki, Jarmusch, Reitz, Kluge, Straub, Farocki, Bitomsky, Syberberg, Schilling… Doku­men­tar­filme waren hier schon immer viel wichtiger, als bei anderen Festivals – etwa die Auffüh­rung von Claude Lanzmans Shoah war einer der Höhe­punkte in der Forums-Geschichte. Manchmal erlaubte man sich auch einen Hieb gegen das sich immer mehr kommer­zia­li­sie­rende öffent­liche Fernsehen in Deutsch­land: So zeigte man 1985 Eberhard Fechners Majdanek-Gerichts­doku Der Prozess, der von der ARD aus der Primetime kurzer­hand ins NDR-Spät­pro­gramm verschoben worden war, um diesem wichtigen Film ein ange­messen breites Forum zu bieten. Was das Forum zudem lange ausge­zeichnet hat, war sein Sinn für den extre­meren Teil des Main­stream, sein Interesse für außer­west­liche Publi­kums­hits wie Bollywood und Martial Arts – auch das Teile der Welt­kultur, die hier­zu­lande unter­re­prä­sen­tiert sind.

Neue Heraus­for­de­rungen

Ungefähr zeit­gleich mit der Stabüber­gabe Gregors an seinen Nach­folger Christoph Terhechte 2002 ist das Inter­na­tio­nale Forum auch mit neuen Heraus­for­de­rungen konfron­tiert. Sie haben zum Teil struk­tu­rell-orga­ni­sa­to­ri­sche Ursachen: Während das Forum zu Gregors Zeiten sich dezidiert als »Gegenbild oder Alter­na­tive zu den domi­nie­renden Film­strö­mungen« und damit implizit auch als Gegen­ber­li­nale, als ihr kriti­scher Spiegel – auch dies ist ja eine Form von Zusam­men­hang – verstanden hat, während Gregor und Berlinale-Direktor Moritz De Hadeln persön­lich regel­recht verfeindet waren, ist das Forum mit dem Wechsel zu Dieter Kosslick auch orga­ni­sa­to­risch inte­griert worden. Nach wie vor formal unab­hängig in seinen Program­ment­schei­dungen sitzt – zu Gregors Zeiten undenkbar – Terhechte heute im Auswahl-Gremium für den Wett­be­werb (einem aller­dings nur bera­tenden Gremium), werden Filme zwischen Berlinale und Forum wech­sel­seitig weiter­ge­reicht, spricht man marke­ting­deutsch von »Syner­gie­ef­fekten«. Die frühere scharfe Konkur­renz war aber oft gut für das Profil beider Seiten. Heute wirkt das Forum kaum noch als Gegen­ber­li­nale, mehr wie eine ergän­zende Neben­ver­an­stal­tung.

Die ja oft beider­seitig frucht­baren Kämpfe um einzelne Filme und ästhe­ti­sche Grund­sätze vermutet man heute eher innerhalb des Forums – insti­tu­tio­nell durch eine interne Doppel­struktur geprägt: Auf der einen Seite die Berlinale (und das finan­zie­rende Staats­mi­nis­te­rium für Kultur), auf der anderen nach wie vor die Freunde der Deutschen Kine­ma­thek und der Vorstand des Arsenal, dem nach wie vor Ulrich Gregor, seine Frau Erika und Tochter Milena angehören. Wie man hört, gibt es hier gele­gent­lich zwischen den jewei­ligen Vertre­tern im nach dem Abstim­mungs­prinzip orga­ni­sierten Auswahl­aus­schuss Kampf­ab­stim­mungen über Filme und Programm­ge­wich­tungen.

Neue Heraus­for­de­rungen liegen aber auch in verän­derten Sehge­wohn­heiten und Inter­essen des Kino­pu­bli­kums. Die Globa­li­sie­rung macht heute viel mehr Filme viel leichter verfügbar. Der Austausch findet schneller statt. Das erschwert Entde­ckungen, erschwert auch das ruhige sich-einlassen auf Filme. Zudem hat sich die Land­schaft für Festivals verändert. Gewis­ser­maßen wird die Erfolgs­ge­schichte des Forums zu seinem Problem: Das Kino, das in dieser Sektion entdeckt und gepflegt wurde, hat nach dem Ende von New Hollywood den inter­na­tio­nalen Auto­ren­film aufge­rollt und ist heute längst in Main­stream einge­flossen.
Zudem geht es in der PR-Gesell­schaft, in der wir gegen­wärtig – und wie zu fürchten ist: noch eine Weile – leben, immer auch stark um Selbst­ver­mark­tung, auch eines Festivals. Dazu ist das Forum immer ein Gegen­s­tück gewesen. Ein bisschen verschlafen, im besten Sinn – oder an vorder­grün­diger Aktua­lität desin­ter­es­siert? – ist das Forum schon, dafür muss man nur immer wieder mal auf die Homepage gucken. (Aber es ist besser geworden).

Puri­ta­nismus als Tugend

Immer schon arbeitete man im Forum an ästhe­ti­schen Stra­te­gien des Wider­stands gegen die herr­schenden Verhält­nisse. Kino stellte man sich als ein mögliches Instru­ment dieses Wider­stands vor. Was in den Anfangs­jahren Ideologie und poli­ti­sche Macht waren, ist heute das Geld. Aber das Grund­pro­blem ist geblieben.
Noch immer versucht das Forum, es demge­genüber nicht jedem recht zu machen; noch immer ist das Forum ein Ort für das Unsaubere, Riskante, für die Verbin­dung von Revolte und Reflexion. Ein Ort, an dem nicht nur mehr­s­tün­dige Doku­men­ta­tionen und Expe­ri­men­tal­filme laufen können, sondern auch ein vier­stün­diger Spielfilm, wie der dies­jäh­rige Caligari-Preis­träger Love Exposure von Sono Sion. Noch immer gibt es hier eine besondere Liebe zu Asien. Nach wie vor ist das Forum einer jener zu seltenen Orte, von dem aus Filme und Regis­seure ihren Weg um die Welt starten können. Nach vielem anderen entdeckte man hier zuletzt die Filme­ma­cher und den Stil der »Berliner Schule«.

»Viel­leicht waren wir früher wirklich etwas dogma­tisch.« meinte Ulrich Gregor 1999 im erwähnten Sammel­band. Erika Gregor: »Das waren wir sicher. wir waren puris­tisch und dogma­tisch, ja ein bisschen eingeengt.« Ulrich Gregor: »Wir haben manches auch nicht gewollt, aber das war unser Film­ver­s­tändnis.« In der Geschichte des Forums kann man entdecken, welche Vorteile Dogma­tismus und Puri­ta­nismus haben können – zumindest für die Kunst