13.11.2008

Künstliche Stahlgewitter

Jean Jeunets Mathilde - Eine große Liebe
Jean Jeunets Mathilde – Eine große Liebe
(Foto: Deutsche Kinemathek | Jean Jeunets)

»Der Erste Weltkrieg im Film« – ein Symposium und eine Filmreihe der Deutschen Kinemathek

Von Rüdiger Suchsland

Reenact­ment gab es schon immer. Die heute hoch­um­s­trit­tene Nach­stel­lung histo­ri­scher Ereig­nisse mit Spiel­szenen in vermeint­lich »objek­tiven« Doku­men­tar­filmen war in den 20er Jahren ein völlig übliches Stil­mittel. Nur etwa 12 Prozent, besten­falls knapp 20 Prozent des Bild­ma­te­rials alter Doku­men­tar­filme über den Ersten Weltkrieg zeigt tatsäch­liche Kriegs­hand­lungen, der Rest der zum Teil sehr spek­ta­kulären Bilder wurde später nach­ge­stellt oder bei Manövern aufge­nommen. Oder es stammte gleich aus Spiel­filmen. Wenn man Glück hatte machten sogar die Betei­ligten dabei mit, etwa der fran­zö­si­sche Marshall Philippe Petain, der Held von Verdun (»Sie werden nicht durch­kommen!«), der sich in den zwanziger Jahren für Film­auf­nahmen nochmal die alte Uniform anzog und an Origi­nal­schau­plätzen posierte. Solche Entde­ckungen waren kleine Glanz­stücke auf einem mit Geschichts­wis­sen­schaft­lern und Film­his­to­ri­kern hervor­ra­gend besetzten, zwei­tä­gigen Symposium der Deutschen Kine­ma­thek und des Berliner Zeug­haus­kinos, das sich mit dem »Ersten Weltkrieg im Film« beschäf­tigte – zum Auftakt einer Filmreihe, die bis Ende November im Zeug­haus­kino seltene Filme zum Weltkrieg präsen­tiert.

Vor 90 Jahren wurde noch gekämpft. Erst ab dem 11. November 1918 waren die Kampf­hand­lungen in Europa wirklich zuende. Da war der Kaiser aus Berlin schon geflohen, und im Deutschen Reich tobte der Kampf um die neue Ordnung. Zehn Millionen Tote hatten das Massen­schlachten gekostet, und es ist wohl nicht über­trieben zu sagen, dass dieser Krieg, trotz allem was seitdem an Schreck­lich­keiten geschah, immer noch das größte kollek­tive Trauma der Europäer darstellt, das alles, was folgte, ohne diesen Konflikt, der in Frank­reich und Groß­bri­tan­nien immer noch »der große Krieg« heißt, nicht vers­tänd­lich ist.

Dieser Tage wird wieder erinnert, aber auch die letzten Zeit­zeugen sind verschwunden. Was bleibt, jenseits des Geschrie­benen, was der authen­ti­schen Erfahrung vermeint­lich am nächsten kommt, sind die Bilder. Denn dieser erste moderne Krieg war auch der erste für das neue Medium des bewegten Bildes. Aber welche Film­bilder gehen uns nun durch den Kopf, wenn wir an den Ersten Weltkrieg denken? Zual­ler­erst natürlich der Graben­kampf, Soldaten mit ängst­li­chen Gesich­tern vor dem Sturm­an­griffe, dann heraus, über Stachel­draht springend, und reihen­weise, »wie die Fliegen« zu Boden gemäht. Aufnahmen von Riesen­ge­schützen, deren Bedienung mindes­tens zehn Mann erfordert, der unun­ter­bro­chene Hagel der Geschosse, die Explo­sionen auf dem Feld. Im Hinter­land kilo­me­ter­lange Nach­schub­trans­porte, Pferde neben absurd verfremdet ausse­henden Panzern, Menschen mit Bajo­netten und großen Gasmasken, wie Aliens wirkend; viel­leicht ein paar deutsche Offiziere, gesti­ku­lie­rend, mit Pickel­hauben. Am Ende dann die Luft­auf­nahmen von den Mond­land­schaften in Ostfrank­reich. Und die vielen, vielen Toten, in Granat­trich­tern der Erde.

Der Charakter dieser Bilder und ihr Weiter­wirken, ihre Verwand­lung und poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung war das Thema der Tagung. Die ersten Illu­sionen zerstörte bereits gleich zu Beginn Jeanpaul Goergen (Berlin). Anhand briti­scher Filme, ange­fangen mit Werken, die noch während des Kriegs entstanden, bis hin zu durchaus anspruchs­vollen »Channel 4«-Produk­tionen der jüngsten Zeit illus­trierte Goergen den »Bedeu­tungs­ver­lust des histo­ri­schen Materials«, der bereits sehr früh einsetzte. Die erste Frage ist die nach der Echtheit der Aufnahmen. Denn trotzdem 1914 das Kino bereits 20 Jahre alt war, waren es nur jeweils eine Handvoll Kame­ramänner, die auf jeder Seite wirklich an vorderster Front waren. Das hat mit zunächst mit Geheim­hal­tung und Propa­ganda zu tun – schon damals waren Bericht­erstatter »embedded«. Aber Film­auf­nahmen im Schüt­zen­graben waren auch ganz einfach hoch­ge­fähr­lich. Die moderne Film­wis­sen­schaft versucht nun in alten Aufnahmen Kame­ra­po­si­tionen zu rekon­stru­ieren, und beschäf­tigt mitunter sogar Experten im Lippen­ab­lesen, um gespro­chene Worte aus Stumm­film­auf­nahmen hörbar zu machen, und so die Authen­ti­zität der Bilder zu klären – mit den oben bereits erwähnten, ernüch­ternden Ergeb­nissen. Hinzu kam, dass Filme­ma­cher recht ungerührt Aufnahmen von 1917 mit solchen von 1914 kombi­nierten, um ein Ereignis von 1916 darstellen – wenn es gerade »passte«. So verschmolz die Grenze zwischen Fakt und Fiktion schon früh, zudem waren Kriegs­filme jeder Gattung von Anfang an Mittel der Propa­ganda und nach dem Krieg Arbeit am jewei­ligen Mythos.

Vor allem versuchte man das Bild des Krieges für die Heimat­front zu schönen, die depri­mie­rende Wirk­lich­keit zu verstellen. Besonders in Deutsch­land waren Flie­ger­asse wie der berühmte »Rote Baron« Richt­hofen die großen Träger für den Propa­ganda-Mythos eines ehrenhaft geführten sauberen Krieges – der doch nur die schmut­zige Realität der Massen­schlachten, wo täglich Zehn­tau­sende verblu­teten, und auch die Zivil­be­völ­ke­rung keines­wegs verschont blieb, verschleiern sollte. Immer wieder insze­nierten Luft­kampf­filme den Krieg als Spektakel, und von Anfang an war der – nach der noch frischen realen Kriegs­er­fah­rung eher unge­liebte – Kriegs­film mit melo­dra­ma­ti­schen Rahmen­hand­lungen, mit Liebes- und Fami­li­en­ge­schichten verknüpft.

Den Krieg sinnlich ange­messen und ohne Verharm­lo­sung darstellen konnte der Stummfilm aller­dings sowieso nicht, argu­men­tierte Corinna Müller (Hamburg) in einem hoch­in­ter­es­santen Vortrag über die Kriegs­äs­thetik des frühen Tonfilms. Während der Stummfilm eher hilflos mit Musik­be­glei­tung Maschi­nen­ge­wehr­feuer und Bomben­hagel nach­zu­ahmen suchte, hatte der Tonfilm im Krieg ein konge­niales Sujet gefunden. Zwar ist auch hier nichts realis­tisch – selbst heutige digitale Tonauf­nahmen erreichen nicht einmal annährend die Dezi­bel­zahl einer Granat­ex­plo­sion –, doch ermög­licht der Ton den Verzicht auf gewisse Stili­sie­rungen. Müller zeigte eine gerade in ihrer Reduktion groß­ar­tige Kampf­szene aus G.W.Pabsts Westfront 1918: Das Bild verharrt minu­ten­lang auf einem Graben, die Szene ist entper­so­na­li­siert, weil man plötzlich aus der Distanz das Kämpfen und Sterben sieht, und die Geschichte wird völlig durch die Tonspur erzählt.

Es waren diese Spiel­filme der 20er und 30er Jahre, etwa auch Lewis Milestones glänzende Remarque-Verfil­mung Im Westen nichts Neues (1930) oder Victor Trivas Niemands­land (1931) gehörten, die die Darstel­lungs­muster für fast alle nach­fol­genden Kriegs­filme vorgaben, und die Kriegs-Ikono­gra­phie des Kinos begrün­deten. Während die auch disku­tierten Welt­kriegs-Doku­dramen des deutschen Fern­se­hens, in beschä­mender Weise vor den Vorgaben der »Prime­time­fähig­keit« kapi­tu­lieren, Dokumente schamlos »bear­beiten«, nahezu jeden Vorgang zum kleinen Melo herun­ter­sen­ti­men­ta­li­sieren und all dies dann mit ihrer angeb­li­chen »Darstel­lungs­kom­pe­tenz« (Sönke Neitzel) recht­fer­tigen, vermögen es Spiel­film­re­gis­seure von Kubrick bis Spielberg und Malick dem Zuschauer die Erfahrung des Krieges zumindest ein Stück näher zu bringen. Auch diese Geschichte fing mit dem Ersten Weltkrieg an.

Publi­ka­tion:

Rainer Rother, Karin Herbst-Meßlinger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Film, Edition Text + Kritik, München 2009
Heraus­ge­geben in Zusam­men­ar­beit mit der Deutschen Kine­ma­thek, 280 Seiten
ISBN 978-3-86916-030-6