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10.12.2005
 
 
       

Russland ist eine real existierende Metapher


 
 
 
   
 
 
 
 

Das Werk des ukrainisch-russischen Dokumentarfilmers Sergei Loznitsa auf den Écrans Documentaires in Paris

Sergei Loznitsa, Jahrgang 1964, hat bislang acht mittellange Dokumentarfilme gemacht, wurde auf Festivals mit Preisen überhäuft. In einer Werkschau zeigten jetzt die "Écrans Documentaires", ein kleines Dokumentarfilmfestival in Arceuil nahe Paris, sein bisheriges Gesamtwerk, einschließlich des jüngst fertiggestellten Films BLOCKADE. Unsere Autorin hat die seltene Gelegenheit ergriffen und sich einen Überblick über sein Werk verschafft.

Seine Filme zeigen reglose Menschen vor Landschaften, Schlafende in einem Bahnhof, Wartende an einer Bushaltestelle. Das Innehalten der Menschen in Russland ist für Sergei Loznitsa immer Dokumentation und Metapher zugleich: Dokumentation einer tatsächlichen, ökonomischen und sozialen Lähmung, in das die Menschen seit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches gefallen sind; und Metapher für den Stillstand eines Landes, das sich, verfangen in mafiösen Strukturen, selbst blockiert.

Loznitsa begegnet der Realität wie einem Material. Er formt es mit dem Blickwinkel seiner Kamera, verleiht ihm Dauer, in dem er ähnliche Szenen in der Montage zu einer einzigen großen Sequenz zusammenfasst, fügt ihm nachträglich eine Tonspur hinzu, mit Tönen, die er den Szenen vor Ort entnommen hat, aber auch mit Material aus seiner "Tonbibliothek". Meist sind seine Filme schwarzweiß. Gesprochen wird kaum, und wenn, dann sind es wie zufällig eingefangene Gesprächsfetzen, oder die Tonspur ist so angelegt, dass die Worte der Menschen in den Klängen ihrer industriellen Umgebung untergehen. Loznitsa greift auf vielfältige Weise mit seinen Filmen in die Wirklichkeit ein, es sind ästhetische Eingriffe, die die Wirklichkeit sezieren: Nicht Realität wird in seinen Filmen dokumentiert, sondern der Wirklichkeit die Essenz einer tiefer liegenden Wahrheit entschält.

Vielleicht kann der Charakter seiner Filme am besten mit einer Genre-Bezeichnung erfasst werden, die er selbst einem seiner Filme zum Titel gegeben hat: das Portrait. Loznitsa bündelt die Bilder seiner Filme zu Themen und kommt darüber zu mehr oder minder in sich geschlossenen Darstellungen von Menschen und Situationen, sozialen und historischen Portraits eines Landes. Sein Film PORTRAIT aus dem Jahre 2002 macht deutlich, wie radikal dabei seine Arbeitsweise sein kann: Für seinen Film stellte er die Bewohner eines russischen Dorfs in ihrer Arbeitskleidung auf dem Dorfplatz und in den Wiesen auf, und ließ sie für seine Kamera posieren, in den Händen die Gegenstände, die ihr tägliches Leben bestimmen, ähnlich den Attribuierungen, die in Herrschaftsgemälden die gesellschaftliche Funktion des Porträtierten erkennen lassen. Derartig mit Eimer und Mist- oder Heugabel bestückt, blicken die Menschen in die unbewegte Kamera hinein, verharren minutenlang im Stillstand, wie in den Anfangszeiten der Photographie. Seine "Langzeitbelichtungen" der Menschen vor der Kamera provozieren das genaue Hinsehen des Betrachters, der konfrontiert wird mit dem Stillstand der Szenerien, in denen nur das Atmen der Porträtierten und das leichte Schwanken ihrer Körper Bewegung erzeugt. Die Schwarzweißbilder, mit denen Loznitsa das ländliche Leben protraitiert, sind weit davon entfernt, Pittoreske zu erzeugen. Die Gesichter der Landbewohner strömen Fremdheit und Abwehr aus, die Kamera verhält sich zu den Menschen meist in der respektvollen Distanz der totalen Einstellung. Nicht das "Menschliche", die Psychologie, die sich in tief furchenden Falten abbildet und sich im Close Up ergäbe, interessiert Loznitsa, sondern die Einbettung der Menschen in den Kontext ihres Lebens, das sich in den Gegenständen und der Landschaft, die sie umgibt, zeichenhaft ablesen lässt.

Meist verleiht Loznitsa seinen filmischen Portraits eine Mikrodramaturgie, die die Situation, die er zuvor portraitiert hat, aus Stillstand und Starre erlöst. So in seinem Film DAS WARTEN (2000), wo er fünfundzwanzig Minuten lang Schlafende in einem Wartesaal zeigt, in den denkbar unbequemensten Positionen: die Köpfe hintübergekippt, den Oberkörper auf die Beine, den Kopf in den Schoß seines Sitznachbars gelegt, in allen Stellungen wird geschlafen. Am Schluss erwacht ein Kind unter den Schlafenden, reibt sich die Augen, blickt um sich und schläft wieder ein. Mit diesem minimalen Ereignis erwirkt Loznitsa ein finales Öffnen seines Films und bringt Bewegung in die Gesellschaft, die er wie im Dornröschenschlaf portraitiert. Ob diese Bewegung, verursacht durch ein Kind, das wieder einschläft, hoffnungsvoll oder hoffnungslos ist, gerade das läßt Loznitsa offen. Entscheidend ist bei ihm, dass doch noch etwas passiert, etwas, das sich kontrastiv setzt zu der Situation, der er in seinem Film Dauer gegeben hat.

Eine ähnliche Situation wie in DAS WARTEN beschreibt sein Film LANDSCHAFT von 2003, nur unter gänzlich anderer Ästhetik. In einem langsamen, fortgesetzten 360-Grad-Schwenk streift die Kamera zuerst über Wiesen und Felder, fährt dann die Häuser eines Dorfplatzes entlang, passiert, immer konzentrischer werdend, die Menschen, die auf einem Marktplatz auf die Ankunft eines Busses warten, geht dabei sukzessive von der Totalen ins Close-Up. Ein endloses, kontiunierliches Kreisen, das erst dann innehält, als der Bus kommt und das Warten beendet. Die Dreharbeiten dauerten zwei Monate. Zu Beginn ist noch eine herbstliche Landschaft zu sehen, am Schluss stehen die Wartenden bei klirrender Kälte auf dem winterlichen Dorfplatz. Die "Landschaft" zurrt sich zusammen wie in immer extremere Verhältnisse, die Gesprächsfetzen, die die Wartenden austauschen, verhandeln Leben, Krankheiten, Invalidentum und Tod, mit bisweilen sarkastischem Humor, der zeigt, wie alltäglich diese Themen für die Menschen geworden sind.

Über der Dauer der Szenen herrscht dabei bei Loznitsa eine eigenartige Stille - ein Moment von akustischer Dauer, da die Zeit über den Ton kaum Skandierungen erhält. Einzelne Geräusche arbeitet Loznitsa heraus - wie das pfeifende Atmen der Schlafenden - andere lässt er nebensächlich werden, wie die Gespräche unter den Wartenden an der Bushaltestelle, die, kaum ausgesprochen, von der klirrenden Kälte schon wie verschluckt erscheinen.

In seinem jüngsten Film BLOCKADE, den Loznitsa erst vor wenigen Wochen fertiggestellt hat, ist die Arbeit auf der Tonspur ganz entscheidend. Der Film ist ein historisches Portrait Leningrads während der Blockade im Zweiten Weltkrieg, das Loznitsa ausschließlich aus Material aus den Moskauer Archiven zusammengestellt hat. Loznitsa imaginiert zu dem stummen Geschehen im Bild eine Tonspur, synchronisiert nachträglich, was auf Bildebene zu sehen ist, ordnet Geräusche zu, die auf der Tonspur unterstützen, was sich im Bild ereignet. Die Töne sind technisch vollkommen, genau zum Bild gesetzt und erzeugen eine unausweichliche, akustische Präsenz der Szenen, so als würden sie im Moment passieren. Durch diese Arbeit auf der Tonspur, entreißt Loznitsa die Bilder dem Aspekt des Archivierten, Vergangenen; er "reanimiert" sie und verlegt die Bilder wieder dahin, woher sie einst kamen: in die Mitte eines sich im Moment des Filmens ereignenden Lebens.

Im Kontext seiner eigenen Filme wirkt BLOCKADE wie ein Film, in dem auch die Bilder Loznitsa selbst zugeordnet werden können. Auch BLOCKADE faßt wiederkehrende Szenen zu längeren thematischen Sequenzen zusammen, gibt den Archivbildern dadurch Dauer, die ihnen eine ganz spezifische Präsenz verleiht. Szenerien, wie das Aufsammeln des Bausschutts nach einem Bombenangriff und das Abtransportieren von Leichen mit Handwägen, ruft Loznitsa nicht als einmalige historische Situation auf, sondern bündelt sie zu wiederkehrenden Handlungen. Erst in der Wiederholung verlieren die Bilder das Präteritum einer vergangen Zeit und erhalten in der Wiederkehr den Charakter historischen Präsens, eines quasi präsenten Lebens. Das Vergangene zur Gegenwart machen - bei Loznitsa erhält der Zeitenwechsel immer auch die Dimension der Metapher. Die Blockade ist auch noch heute auszumachen, die Geschichte kommt nicht voran in Russland, sondern dreht sich, wie die Kamera beim weitläufigen 360-Grad-Schwenk, im Kreis.

Dunja Bialas

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