Der nordamerikanische Staat verfügt seit Jahren über eine
besonders blühende Filmindustrie. International bekannte Namen
wie David Cronenberg, Atom Egoyan und Dennis Arcand markieren
die Lebendigkeit dieser Kinokultur, die sich seit den - erstaunlich
späten - Anfängen in den 70-er Jahren (vorher gab es überhaupt
kein kanadisches Kino) längst aus dem Schatten des übermächtigen
Nachbarn USA gelöst und zu einer eigenständigen, selbstbewussten
Filmsprache gefunden hat. Viele dieser Filme finden auf Festivals,
auch in Deutschland, begeisterte Aufnahme, bekommen aber trotzdem
nie einen Verleih.
Weitab von Hollywood-Üblichkeiten werden in Kanada Independent-Filme
produziert, die einer europäischen Perspektive auf die Dinge
in vielem näher stehen, als US-Geschmäckern. Kanada ist mit
seinen liberalen Einwanderungsgesetzen ein Land tatsächlicher
Multikulturalität. Die Filme, die hier entstehen, sind sowohl
von europäischen Filmsprachen, vom Erbe der indianischen Ureinwohner,
als auch von den vielen asiatischen Einwanderern der letzten
Jahrzehnte beeinflusst. Denn jeder zehnte Kanadier stammt
heute bereits aus China oder Indien, in der pazifischen Metropole
Vancouver sind es sogar über 30 Prozent. Und viele kanadische
Filmemacher interessieren sich für Coproduktionen mit Europa.
Einer der Gründe: Die Filmförderungsgesetze ähneln denen in
Europa: Eine eigenständige Filmkultur ist politisch gewollt.
Zudem verbesserte sich das Marketing des kanadischen Kinos
durch die Regierung.
Gegenkultur zum Hollywood-Triumphalismus
Gab es, von Außen betrachtet, lange Zeit nur Cronenberg und
Atom Egoyan, so gibt es heute gibt es eine ganze Reihe junger
begabter kanadischer Filmautoren. Gibt es einen typischen
kanadischen Filmstil? Das kanadische Kino zeichnet sich vor
allem durch einen Verzicht auf gängige Erzählmuster aus. Viele
kanadische Filme werden mit weitaus geringeren Budgets realisiert,
wobei vor allem die staatlichen Förderprogramme der "Telefilm
Canada", des "National Film Board" und der vielen weiteren
lokalen und nationalen Kulturinstitutionen die Infrastruktur
für eine diverse Filmproduktion geschaffen haben. In und um
die großen kulturellen Zentren Montreal, Vancouver oder auch
Toronto ist ein dezidiert kanadisches Kino entstanden, dass
sich im Gegensatz zum gängigen US-Kino traut, die Schwächen
seiner Figuren als Stärken zu begreifen, menschliche Probleme
nicht als Makel zu sehen, und eine grundsätzliche Sympathie
für brüchige Biografien aufzubringen. Die Protagonisten im
kanadischen Kino überwinden nicht alle Hindernisse wie ihre
US-Pendants; sie müssen vielmehr lernen, mit inneren und äußeren
Widersprüchen zu leben.
Diese in den Filmen immer wiederkehrenden Darstellungen von
Zerrissenheit, von der Suche nach einem Platz in der Welt
und die Sehnsucht nach einer wenn auch fragilen Identität,
spiegelt, so könnte man sagen zum Teil sicher auch die Geschichte
einer noch sehr jungen Nation.
"Eine der Stärken des kanadischen Kinos", sagte andererseits
der in Toronto lebende André Bennett, einer der wichtigen
Independent-Produzenten des Landes, im artechock-Gespräch,
"ist die Sensibilität für Regionen. Einige der interessantesten
kanadischen Filme kommen gerade von Regisseuren, die keine
irgendwie 'nationale Identität' repräsentieren." Kanadische
Identität, das wird damit klar, ist die Idee einer multikulturellen
ethnischen Identität. "Toronto ist eine der multikulturellsten
Städte der Welt." ergänzt Bennett.
Auch David Cronenberg meinte im Gespräch mit artechock: "Ich
fühle mich unbedingt als 'kanadischer' Regisseur! Alle meine
Filme habe ich dort gedreht. Auch mein letzter Film SPIDER
(ab Juni auch im deutschen Kino) wurde drei Wochen in London
und immerhin fünf Wochen in Kanada gedreht. Die 'kanadische
Erfahrung' unterscheidet sich stark von derjenigen der US-Amerikaner.
Wir sind stark europäisch und asiatisch geprägt, stärker,
als die USA. Bei uns nennen wir es Multikulturalismus, die
US-Amerikaner sprechen dagegen von Schmelztiegel... Aber der
nationalen Basis steht das Phänomen gegenüber, das man als
Globalisierung bezeichnet. Sowohl mein Land, als auch mein
Filmemachen ist natürlich sehr stark davon geprägt - sie ist
gar nicht wegzudenken. Und wenn Grenzen fallen, ist das ja
im Prinzip etwas sehr Positives."
Recht typisch kanadisch wirkt auch biographische Mixtur,
die Person wie Werk von Atom Egoyan prägt. Mit Filmen wie
EXOTICA (1994), DAS SÜßE JENSEITS (1997) und FELICIA'S JOURNEY
(1999) wurde Egoyan zum nach David Cronenberg wichtigsten
kanadischen Regisseur. Immer wieder geht er in ihnen auch
den eigenen Herkünften nach, und macht seine "postkoloniale
Identität" (Egoyan), die Wanderung über kulturelle Grenzen
und die Vermischung der Einflüsse zu seinem Hauptthema.
Zu jener von Cronenberg beschworenen "kanadischen Erfahrung"
gehört auch neben den neuen multikulturellen Varianten, die
traditionelle Teilung des Landes in einen französischen und
einen anglophonen Kulturkreis. Jahrzehntelang war das politische
Selbstverständnis Kanada von den Auseinandersetzungen zwischen
Separatisten und Föderalisten bestimmt. Und dass etwa Dennis
Arcand, aber auch Léa Pool aus Quebec stammen, ist alles andere,
als ein Zufall.
"Das kanadische Kino hat eine ganz bestimmte Nische im gegenwärtigen
Weltkino besetzt." meint der Filmwissenschaftler Tom McScorley
vom "Canadian Film Institute", "Das kanadische Kino bietet
ruhige, kräftige Visionen der zeitgenössischen Erfahrung ...
eine Gegenkultur zum Hollywood-Triumphalismus, eine bescheidene
Stimme aus dem nördlichen Nordamerika, die darlegt, dass es
ander Vorstellungsmöglichkeiten gibt, andere Arten zu träumen,
andere Weisen, uns zu erleuchten jenseits der blendenden Lichter
unseres ganz nahen südlichen Nachbarn."
Der Blick in drei Richtungen
Und wo wird das kanadische Kino in 20 Jahren stehen? Andrew
Bennett meint: "Es wird noch dezentralisierter sein. Und für
europäische Filmemacher und Produzenten noch attraktiver."
Der Blick der Kanadier geht gleichzeitig in drei Richtungen.
Neben dem Blick nach Osten, nach Europa und nach Westen zum
pazifischen Raum und den großen Kinonationen Ostasiens, reicht
er neuerdings auch nach Süden, zu der neuen Blüte des lateinamerikanischen
Filmemacher. Bennett verweist auch darauf, was Europäer möglicherweise
von seiner Heimat lernen können. In Kanada ist es nämlich
längst üblich, dass TV-Sender einen gewissen Anteil am Programm
für heimische Produktionen reservieren, dass US-Filme durch
kanadische Verleiher vertrieben werden: "Wir Europäer und
Kanadier müssen zusammenhalten. Wir müssen Kriterien etablieren,
die es möglich machen, dass der Independent-Film gedeihen
kann. Quoten wären nicht die schlechteste Möglichkeit."
Das erste und wichtigste Kriterium bleibt aber, dass man
überhaupt die Filme kennt und er-kennt. Denn gerade anglo-kanadische
Filme werden aufgrund der Sprache und Schauplätze oft als
US-amerikanische Produktionen wahrgenommen - was kanadische
Filmmacher häufig und zu Recht ärgert. Inhaltlich und stilistisch
unterscheiden sich die meisten kanadischen Filme nämlich deutlich
vom Gros der US-Produktion. Die Auswahl setzt zudem vor allem
auf eher wenig bekannte Filmautoren und eröffnet auf diese
Weise wirklich neue Einblicke in die äußerst vitale Filmproduktion
Kanadas.
Hierfür bieten die nächsten zwei Wochen beste Gelegenheit:
15 Filme von 13 Regisseurinnen und Regisseuren - mehr Vielfalt
kann man sich nicht wünschen. Sie stammen aus den Jahren 1994
bis 2002, mit einer Ausnahme: SHIVERS von David Cronenberg
ist sein erster abendfüllender Spielfilm und der Beginn von
dessen "Body Horror": Er zeigt die Invasion eines Hochhauses
durch künstlich hergestellte Parasiten, die in den menschlichen
Körper eindringen und jede Hemmung, die Sex und Gewalt betrifft,
zum Verschwinden bringen.
Lynne Stopkevich, geboren 1964 und in Montreal aufgewachsen,
ist mit zwei Filmen vertreten. Beide liefen bereits früher
auf dem Filmfest München: KISSED erzählt von der Todesbesessenheit
eines jungen Mädchens. Als Kind entwickelt Sandra bizarre
Rituale, um tote Tiere im Wald zu begraben. Später arbeitet
sie in einem Beerdigungsinstitut und kann viel Zeit mit toten
Körpern verbringen. Dabei lernt sie den Medizinstudenten Matt
kennen. Doch ihre Gefühle für den Tod sind stärker, als jene
für ihn. Eine Liebesgeschichte für Nekrophile. SUSPICIOUS
RIVER erzählt von einer sexsüchtigen Frau, die in einem Motel
Männer aufsucht. Irgendwann lernt sie einen kennen, mit dem
sie die Grenzen ihres Willens austesten kann. Gegenwart und
Vergangenheit crashen mit dem Schicksal.
Léa Pools Biographie ist völlig anders. 1950 in der Schweiz
geboren, wanderte sie erst 1975 nach Kanada aus. EMPORTE MOI
erzählt von einer 13jährigen in den 60er Jahren. Langsam entdeckt
sie ihre Sexualität, wird erwachsen. Der Film besticht durch
Genauigkeit und Originalität - zudem eine Hommage an die "Nouvelle
Vague".
Soweit eine erste Anregung, um weitere Filme kennenzulernen,
muss man schon selber hingehen!
Rüdiger Suchsland
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