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29.04.04
 
 

Die kanadische Erfahrung

Multikulturelle Selbstverständlichkeiten - Das Werkstattkino zeigt "Maple Movies", eine Filmreihe über Kanada
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Der nordamerikanische Staat verfügt seit Jahren über eine besonders blühende Filmindustrie. International bekannte Namen wie David Cronenberg, Atom Egoyan und Dennis Arcand markieren die Lebendigkeit dieser Kinokultur, die sich seit den - erstaunlich späten - Anfängen in den 70-er Jahren (vorher gab es überhaupt kein kanadisches Kino) längst aus dem Schatten des übermächtigen Nachbarn USA gelöst und zu einer eigenständigen, selbstbewussten Filmsprache gefunden hat. Viele dieser Filme finden auf Festivals, auch in Deutschland, begeisterte Aufnahme, bekommen aber trotzdem nie einen Verleih.

Weitab von Hollywood-Üblichkeiten werden in Kanada Independent-Filme produziert, die einer europäischen Perspektive auf die Dinge in vielem näher stehen, als US-Geschmäckern. Kanada ist mit seinen liberalen Einwanderungsgesetzen ein Land tatsächlicher Multikulturalität. Die Filme, die hier entstehen, sind sowohl von europäischen Filmsprachen, vom Erbe der indianischen Ureinwohner, als auch von den vielen asiatischen Einwanderern der letzten Jahrzehnte beeinflusst. Denn jeder zehnte Kanadier stammt heute bereits aus China oder Indien, in der pazifischen Metropole Vancouver sind es sogar über 30 Prozent. Und viele kanadische Filmemacher interessieren sich für Coproduktionen mit Europa. Einer der Gründe: Die Filmförderungsgesetze ähneln denen in Europa: Eine eigenständige Filmkultur ist politisch gewollt. Zudem verbesserte sich das Marketing des kanadischen Kinos durch die Regierung.

Gegenkultur zum Hollywood-Triumphalismus

Gab es, von Außen betrachtet, lange Zeit nur Cronenberg und Atom Egoyan, so gibt es heute gibt es eine ganze Reihe junger begabter kanadischer Filmautoren. Gibt es einen typischen kanadischen Filmstil? Das kanadische Kino zeichnet sich vor allem durch einen Verzicht auf gängige Erzählmuster aus. Viele kanadische Filme werden mit weitaus geringeren Budgets realisiert, wobei vor allem die staatlichen Förderprogramme der "Telefilm Canada", des "National Film Board" und der vielen weiteren lokalen und nationalen Kulturinstitutionen die Infrastruktur für eine diverse Filmproduktion geschaffen haben. In und um die großen kulturellen Zentren Montreal, Vancouver oder auch Toronto ist ein dezidiert kanadisches Kino entstanden, dass sich im Gegensatz zum gängigen US-Kino traut, die Schwächen seiner Figuren als Stärken zu begreifen, menschliche Probleme nicht als Makel zu sehen, und eine grundsätzliche Sympathie für brüchige Biografien aufzubringen. Die Protagonisten im kanadischen Kino überwinden nicht alle Hindernisse wie ihre US-Pendants; sie müssen vielmehr lernen, mit inneren und äußeren Widersprüchen zu leben.

Diese in den Filmen immer wiederkehrenden Darstellungen von Zerrissenheit, von der Suche nach einem Platz in der Welt und die Sehnsucht nach einer wenn auch fragilen Identität, spiegelt, so könnte man sagen zum Teil sicher auch die Geschichte einer noch sehr jungen Nation.

"Eine der Stärken des kanadischen Kinos", sagte andererseits der in Toronto lebende André Bennett, einer der wichtigen Independent-Produzenten des Landes, im artechock-Gespräch, "ist die Sensibilität für Regionen. Einige der interessantesten kanadischen Filme kommen gerade von Regisseuren, die keine irgendwie 'nationale Identität' repräsentieren." Kanadische Identität, das wird damit klar, ist die Idee einer multikulturellen ethnischen Identität. "Toronto ist eine der multikulturellsten Städte der Welt." ergänzt Bennett.

Auch David Cronenberg meinte im Gespräch mit artechock: "Ich fühle mich unbedingt als 'kanadischer' Regisseur! Alle meine Filme habe ich dort gedreht. Auch mein letzter Film SPIDER (ab Juni auch im deutschen Kino) wurde drei Wochen in London und immerhin fünf Wochen in Kanada gedreht. Die 'kanadische Erfahrung' unterscheidet sich stark von derjenigen der US-Amerikaner. Wir sind stark europäisch und asiatisch geprägt, stärker, als die USA. Bei uns nennen wir es Multikulturalismus, die US-Amerikaner sprechen dagegen von Schmelztiegel... Aber der nationalen Basis steht das Phänomen gegenüber, das man als Globalisierung bezeichnet. Sowohl mein Land, als auch mein Filmemachen ist natürlich sehr stark davon geprägt - sie ist gar nicht wegzudenken. Und wenn Grenzen fallen, ist das ja im Prinzip etwas sehr Positives."

Recht typisch kanadisch wirkt auch biographische Mixtur, die Person wie Werk von Atom Egoyan prägt. Mit Filmen wie EXOTICA (1994), DAS SÜßE JENSEITS (1997) und FELICIA'S JOURNEY (1999) wurde Egoyan zum nach David Cronenberg wichtigsten kanadischen Regisseur. Immer wieder geht er in ihnen auch den eigenen Herkünften nach, und macht seine "postkoloniale Identität" (Egoyan), die Wanderung über kulturelle Grenzen und die Vermischung der Einflüsse zu seinem Hauptthema.
Zu jener von Cronenberg beschworenen "kanadischen Erfahrung" gehört auch neben den neuen multikulturellen Varianten, die traditionelle Teilung des Landes in einen französischen und einen anglophonen Kulturkreis. Jahrzehntelang war das politische Selbstverständnis Kanada von den Auseinandersetzungen zwischen Separatisten und Föderalisten bestimmt. Und dass etwa Dennis Arcand, aber auch Léa Pool aus Quebec stammen, ist alles andere, als ein Zufall.

"Das kanadische Kino hat eine ganz bestimmte Nische im gegenwärtigen Weltkino besetzt." meint der Filmwissenschaftler Tom McScorley vom "Canadian Film Institute", "Das kanadische Kino bietet ruhige, kräftige Visionen der zeitgenössischen Erfahrung ... eine Gegenkultur zum Hollywood-Triumphalismus, eine bescheidene Stimme aus dem nördlichen Nordamerika, die darlegt, dass es ander Vorstellungsmöglichkeiten gibt, andere Arten zu träumen, andere Weisen, uns zu erleuchten jenseits der blendenden Lichter unseres ganz nahen südlichen Nachbarn."

Der Blick in drei Richtungen

Und wo wird das kanadische Kino in 20 Jahren stehen? Andrew Bennett meint: "Es wird noch dezentralisierter sein. Und für europäische Filmemacher und Produzenten noch attraktiver." Der Blick der Kanadier geht gleichzeitig in drei Richtungen. Neben dem Blick nach Osten, nach Europa und nach Westen zum pazifischen Raum und den großen Kinonationen Ostasiens, reicht er neuerdings auch nach Süden, zu der neuen Blüte des lateinamerikanischen Filmemacher. Bennett verweist auch darauf, was Europäer möglicherweise von seiner Heimat lernen können. In Kanada ist es nämlich längst üblich, dass TV-Sender einen gewissen Anteil am Programm für heimische Produktionen reservieren, dass US-Filme durch kanadische Verleiher vertrieben werden: "Wir Europäer und Kanadier müssen zusammenhalten. Wir müssen Kriterien etablieren, die es möglich machen, dass der Independent-Film gedeihen kann. Quoten wären nicht die schlechteste Möglichkeit."

Das erste und wichtigste Kriterium bleibt aber, dass man überhaupt die Filme kennt und er-kennt. Denn gerade anglo-kanadische Filme werden aufgrund der Sprache und Schauplätze oft als US-amerikanische Produktionen wahrgenommen - was kanadische Filmmacher häufig und zu Recht ärgert. Inhaltlich und stilistisch unterscheiden sich die meisten kanadischen Filme nämlich deutlich vom Gros der US-Produktion. Die Auswahl setzt zudem vor allem auf eher wenig bekannte Filmautoren und eröffnet auf diese Weise wirklich neue Einblicke in die äußerst vitale Filmproduktion Kanadas.

Hierfür bieten die nächsten zwei Wochen beste Gelegenheit: 15 Filme von 13 Regisseurinnen und Regisseuren - mehr Vielfalt kann man sich nicht wünschen. Sie stammen aus den Jahren 1994 bis 2002, mit einer Ausnahme: SHIVERS von David Cronenberg ist sein erster abendfüllender Spielfilm und der Beginn von dessen "Body Horror": Er zeigt die Invasion eines Hochhauses durch künstlich hergestellte Parasiten, die in den menschlichen Körper eindringen und jede Hemmung, die Sex und Gewalt betrifft, zum Verschwinden bringen.

Lynne Stopkevich, geboren 1964 und in Montreal aufgewachsen, ist mit zwei Filmen vertreten. Beide liefen bereits früher auf dem Filmfest München: KISSED erzählt von der Todesbesessenheit eines jungen Mädchens. Als Kind entwickelt Sandra bizarre Rituale, um tote Tiere im Wald zu begraben. Später arbeitet sie in einem Beerdigungsinstitut und kann viel Zeit mit toten Körpern verbringen. Dabei lernt sie den Medizinstudenten Matt kennen. Doch ihre Gefühle für den Tod sind stärker, als jene für ihn. Eine Liebesgeschichte für Nekrophile. SUSPICIOUS RIVER erzählt von einer sexsüchtigen Frau, die in einem Motel Männer aufsucht. Irgendwann lernt sie einen kennen, mit dem sie die Grenzen ihres Willens austesten kann. Gegenwart und Vergangenheit crashen mit dem Schicksal.

Léa Pools Biographie ist völlig anders. 1950 in der Schweiz geboren, wanderte sie erst 1975 nach Kanada aus. EMPORTE MOI erzählt von einer 13jährigen in den 60er Jahren. Langsam entdeckt sie ihre Sexualität, wird erwachsen. Der Film besticht durch Genauigkeit und Originalität - zudem eine Hommage an die "Nouvelle Vague".

Soweit eine erste Anregung, um weitere Filme kennenzulernen, muss man schon selber hingehen!

Rüdiger Suchsland

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