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29.06.2000
 
 
   
 

Romeo Must Fly
oder: Klar kann ein Jet fliegen!

 
     
 
 
 
 

Eigentlich müsste man darüber gar nicht diskutieren. Eigentlich ist's das Selbstverständlichste der Welt: Im Kino können Menschen fliegen. Ohne Vorankündigung und Begründung. Und ohne Aufhebens - außer dem der Schwerkraft. Das sollte man spätestens seit Georges Méliès wissen, dem großen Leinwandmagier, der schon in den allerersten Kinderjahren des Mediums zeigte, dass die Filmkamera kein einfaches Abbildungsinstrument ist, Kino keine Realitätseinfangsapparatur. Sondern dass da die Gesetze für menschliche Körper (und die Räume, durch die er sich bewegt) neu geschrieben werden.
Lange hat sich diese Erkenntnis gehalten.Im frühen Kino war sie weitverbreitet. Die Stummfilmkomiker haben sich ihrer bedient. Und als der Tonfilm das Musical mit sich brachte, hatte dieses sie bald wieder im Schlepptau. Wenn Fred Astaire tanzte, schien die Schwerkraft sowieso immer nur ein optionales Spielzeug - Nummern wie der bekannte Tanz durchs ganze Zimmer, Wände und Decke inklusive, in ROYAL WEDDING machten das nur etwas expliziter. Astaire ist es wohl hauptsächlich zu verdanken, dass das asiatische Kino in den 70ern das Fliegen und Schweben als eine dem Menschen natürlich eigene Fortbewegungsart entdeckte. In dem Maße, wie der martial arts-Film begann, seine Kampfszenen als Musicalnummern zu begreifen (und sich dabei sehr bewusst die Hollywood-Klassiker als Vorbild nahm), befreiten sich die choreographierten Tätlichkeiten auch von der Gravität.
Weil die realen Körper, die den Rohstoff für die Filmbilder liefern, aber auch bei allem Peking-Oper-Training nur an die Grenzen des physikalisch Möglichen, nicht aber darüber hinaus kommen, und weil das Hong Kong-Kino zwar durch die Magie des Schnitts viel mehr als das amerikanische leisten kann, aber eben doch nicht alles, wurden die "wire-stunts" geboren: Die Darsteller hängen an dünnen Drähten und werden über ein System von Flaschenzügen an der Studiodecke durch eine Crew am anderen Ende der Drähte durch die Luft gehievt. Das Prinzip ist einfach - die choreographisch wirkungsvolle Ausführung aber erfordert ungeheure Kunst.

Dem westlichen Kino war zu diesem Zeitpunkt das Fliegen schon fast völlig abhanden gekommen. Die Erinnerung an leichtere Zeiten war wohl im Hinterkopf noch präsent - aber ob PETER PAN, DRACULA und seine Konsorten, MARY POPPINS oder SUPERMAN: fliegende Menschen verlangten nach ausführlicher Erklärung und übernatürlicher Rechtfertigung, und immer musste das Abheben Chefsache sein, durfte nie beiläufig und selbstverständlich geschehen. Die Helden des Action-Kinos gab's nur mit voller Erdenschwere, immer muskolöser mussten deren Männerkörper werden, immer handfester ihre gewalttätige Interaktion mit Raum, Dingen und anderen Körpern um sie herum.
Wenn ausnahmsweise einmal mit Hong Kong-Kino konfrontiert, reagierte das westliche Mainstream-Publikum mit unverständigem Lachen ob der von der Gravitation begnadigten Körper dort, und mit dem bekannten allerdümmsten aller dummen "Argumente": "Das ist ja gar nicht realistisch," was stets einzig und allein heißt: "Das ist eine andere Ästhetik als die, die wir gewohnt sind, vorgesetzt zu bekommen."
Alle zaghaften Versuche westlicher FilmemacherInnen, die zu Recht von den asiatischen Höhenflügen begeistert waren, etwas davon in ihre Werke einfließen zu lassen, blieben unverstanden oder bestenfalls wirkungslos. Wie sollte das auch funktionieren?: Da waren mittlerweile zwei grundsätzlich verschiedene Konzeptionen von kinematographischem Raum und Körper zu Gange, die nicht auf halbem Wege zu vermitteln waren.
Bis die Gebrüder Wachowksi auf den Plan traten. Wie die meisten RegiseurInnen, die ihren Beruf nicht als Brotjob sondern aus Begeisterung für das Medium ausüben und deshalb auch Cineasten sind, war die in den 80ern langsam in Europa und den USA einsetzende Entdeckung des Hong Kong-Kinos über die Werke von John Woo, Tsui Hark und einer handvoll anderer alles andere als spurlos an ihnen vorüber gegangen. Sie waren Fans von wire-stunts - und fanden als erste (wahrscheinlich sogar, ohne es geplant und bewußt zu tun) den Weg, die auch für ein nur im Mainstream geschulten westlichen Publikum goutierbar zu machen. Wenn die ZuschauerInnen den künstlichen Leinwandraum und seine lokalen Gesetze für real nehmen, dann muss zur Aufhebung der Regeln halt innerhalb dieses Raums ein zweiter, virtueller her; wenn die erzählte Welt für eine echte gehalten wird, dann muss sie eben von einer anderen, künstlichen erzählen. Auftritt THE MATRIX. Da ist die Welt ein Computerspiel und die Körper Konstrukte, durch deren Adern nur Bitstreams fließen. Dass da für Faust- und Faustwaffenkampf andere Gesetze gelten, weiß man ja von "Tekken" oder "Street Fighter", und falls nicht, glaubt man's auch so.
Und plötzlich fanden es alle ganz neu und ganz toll. Neu war's nur für Menschen, die nur zeitgenössisches amerikanisches Kino gucken, und toll war's hauptsächlich deswegen, weil die Wachowskis klug genug waren, die wire stunt-Arbeit in die erfahrenen Hände von Profis aus Hong Kong zu legen, die wussten, wie man das richtig macht. Auf jeden Fall aber war plötzlich eine der in Hollywood lange vergessenen Kino-Möglichkeiten wieder präsent und salonfähig geworden. Mit einem kleinen Haken: Um diese Möglichkeit auch wieder gebührend zu nutzen, muss man sie auch noch aus den Mauern des doppelt virtuellen Raums rauskriegen. Was gar nicht so einfach ist.

Dass es in ROMEO MUST DIE eine kleine Handvoll wire stunts gibt, hat mit THE MATRIX erstmal nichts zu tun. Das liegt schlicht an dem Hauptdarsteller Jet Li, einem der zahlreichen Hong Kong-Emigranten wie John Woo oder Chow Yun-Fat. Der hat in seinem Heimat-Stadtstaat wie alle martial arts-Stars schon seit Jahren am drahtenen Faden gehangen, beherrscht die Technik spekatkulär gut und möchte sie mithin auch gerne in seiner neuen filmischen Heimat vorführen. Was er in ROMEO für Verhältnisse asiatischer Ästhetik ohnehin reichlich zurückhaltend und sparsam tut - kein Vergleich z.B. zu Jet Lis Auftritten in der ONCE UPON A TIME IN CHINA-Serie. Für ein durchschnittliches westliches Publikum aber wohl immer noch zuviel des Guten - weshalb filmisch mit Zeitlupe und Computer-Nachbearbeitung eine visuelle Erinnerungsbrücke zu THE MATRIX geschlagen wurde (die den stunts in diesem Kontext nicht unbedingt gut tut). Und die komplette Werbung an diesem eigentlich nebensächlichen und selbstverständlichen Detail aufgehängt wurde. Der halbe Trailer scheint aus den zwei, drei wire stunts zu bestehen, die der Film bietet, und als größtes Verkaufsargument soll dienen: "Vom Produzenten von THE MATRIX." Der unter unzähligem anderen auch der Produzent ist von JUMPING JACK FLASH, FATHERS' DAY, THE HUDSUCKER PROXY oder RICHIE RICH. Alles Filme, die mit ROMEO MUST DIE genauso wenig zu tun haben, wie es THE MATRIX tut. Die Angst vor dem Fliegen scheint beim hiesigen Publikum noch immer groß zu sein.
Immerhin scheint das ganze eigentlich lächerliche Brimborium aber Früchte des Erfolges zu tragen und sei damit auch entschuldigt und abgesegnet - wenn's hilft, einen weiteren kleinen Schritt zu tun zur neuen Akzeptanz der verschollenen Kunst des Schwebens, soll es uns recht und willkommen sein. Und allein so gesehen, hätte ROMEO MUST DIE schon eine wichtige Pflicht erfüllt. Er leistet aber auch noch mehr als nur dem westlichen Publikum etwas beizubringen, was das asiatische seit dreißig Jahren weiß. Zum einen führt er zwei Traditionen zusammen, die auf Distanz schon länger miteinander verbunden waren: Denn die erste große Rezeption des asiatischen martial arts-Films fand in Amerika tatsächlich schon in den 70ern statt, allerdings nur in der black community. Die Afro-Amerikaner haben spätestens mit Bruce Lee begonnen, sich intensiv mit "kung fu flicks" zu beschäftigen, und das hat seinen zumindest unterschwelligen Niederschlag (Wortwitz ausnahmsweise nicht beabsichtigt!) auch im Blaxploitation Kino gefunden. Nur geflogen wurde da selten bis nie - gewiss erstmal aus pragmatischen Gründen, weil für wire stunts keine entsprechenden Studios und trainierten Performer vorhanden waren, aber wohl auch, weil das mit der Konstruktion schwarzer (Körper-)Identität (zumal in Filmen, die großteils von Weißen für ein schwarzes Publikum gemacht wurden) damals schon schwierig genug war, ohne dass die Körper auch noch das Fliegen anfangen. Als Option war das aber im schwarzen Kino im Hintergrund schon immer deutlich präsenter - z.B. kann sich BLADE rühmen, dank Wesley Snipes schon vor THE MATRIX einen größeren (aber leider weniger gelungenen) Versuch unternommen zu haben, Hong Kong-Ästhetik in den heutigen amerikanischen Mainstream zu schmuggeln. In dieser Hinsicht ist der Kampf der afro-amerikanischen und der chinesischen Familien in ROMEO MUST DIE eigentlich eher eine family reunion.
Und noch eines leistet ROMEO: Er unterbreitet einen Vermittlungsvorschlag zwischen den so verschiedenen Körper-Konzepten, die hinter der asiatischen und der amerikanischen Action-Ästhetik stecken. Die computergenerierten Röntgenaufnahmen knackender Knochen und berstender Organe sind ein Versuch, die massive, handfeste Erdenschwere des amerikanischen Filmkörpers mit der balletthaften Leichtheit und abstrakten Unverwundbarkeit des asiatischen zusammenzubringen. Sie erfüllen das, was die Hong Kong-inspirierten Bilder der Fights von aussen nicht liefern. Sie finden unter der fremden Oberfläche das eigene wieder. Allerdings um den Preis, das nur in einem halb-virtuellen Raum tun zu können. So gesehen kehrt ROMEO den Prozess von THE MATRIX exakt um: Hier ist genau das Greifbarere, "Realere" nur über Bilder der Virtualität zugänglich. Das ist schon einen Schritt weiter als noch die Suche nach dem authentischen Schmerz im Inneren des Körpers bei THREE KINGS; ist ein noch radikaleres Zeichen dafür, wie stark sich derzeit im amerikanischen Action-Kino die Körperbilder wandeln. Die muskelbetonten Helden der 80er und 90er, Stallone, Schwarzenegger, Willis, danken nach und nach ab, und der Nachwuchs trägt zunehmend asiatische Züge. Bleibt zu hoffen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch einem amerikanischen Filmhelden das ästhetische Gen zum natürlichen Fliegen schon mit in die Wiege gelegt wurde.

Thomas Willmann

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