18.02.2015
65. Berlinale 2015

Niemand zu sehen

Charlotte Rampling in »45 Years«
Charlotte Rampling in einer Geistergeschichte: Andrew Haighs 45 Years
(Foto: Piffl Medien GmbH)

Edelmann & Willmann auf der 65. Berlinale

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Menschen in fest­li­cher Trau­er­klei­dung begeben sich in Positur – lassen die Hand auf der Lehne eines leeren Stuhls ruhen, setzen sich ohne Gegenüber mit sehnendem Blick an einen Tisch. Mit blen­dendem Blitz konser­viert der Photo­ap­parat den Moment, den sich die Hinter­blie­benen mit der Leere teilen, die die Verstor­benen in ihrem Leben hinter­lassen haben.

Wie von Geis­ter­hand aber scheinen die Toten dann ins Reich des Sicht­baren zurück­ge­rufen: Sche­men­haft gesellt sich ihr Abbild zu den Trau­ernden in die für sie frei­ge­hal­tenen Bildräume.

So beginnt Mitchell Lich­ten­steins Angelica: Seine Titel­se­quenz beschwört das zu Hoch­zeiten des vikto­ria­ni­schen Spiri­tismus populäre Phänomen der »Spirit Photo­graphy«, der Geis­ter­pho­to­gra­phie. Insze­nie­rungen, die mittels Doppel­be­lich­tung die Sehnsucht nach einem letzten Zusam­men­sein bedienten.

Der Film selbst bewegt sich dann – letztlich nicht ganz über­zeu­gend – zwischen B-Picture und psycho­lo­gi­schem Drama: Nach Kompli­ka­tionen bei der Geburt ihrer Tochter wird der jungen Ehefrau Constance (Jena Malone) von ihren Ärzten jeder weitere sexuelle Kontakt mit ihrem Ehemann untersagt. Die Unter­drü­ckung körper­li­chen Verlan­gens speist ihre latenten Angst­phan­ta­sien, bis diese in Cons­tances Wahr­neh­mung physische Gestalt annehmen. Dieses CGI-Monster freilich weckt eher Erin­ne­rungen an übliche Genre-Kollegen und lässt die Grenzen des Budgets erahnen – obwohl an entschei­dender Stelle, bei Kamera und Musik, nicht gespart wurde. Dick Pope malt mit einer großen Palette von Schwarz- und Schat­ten­tönen; Kies­low­skis Stamm­kom­po­nist Zbigniew Preisner zeichnet die Seelen­zu­stände oft fein­ner­viger als das Drehbuch. Immerhin wider­steht Angelica der Versu­chung, tatsäch­lich über­na­tür­liche Mani­fes­ta­tionen als Erklärung zu bieten, sondern belässt es bei rein psycho­lo­gi­schem Horror – und insze­niert nicht weibliche Sexua­lität an sich als monströs, sondern illus­triert die Schrecken der Repres­sion.

Die Anfangs­se­quenz jedoch gibt ein schönes Sinnbild für ein Thema, das durch viele Filme dieser Berlinale geisterte. Im Zentrum der Geschichte standen bemer­kens­wert oft Abwesende, deren Fehlen den Prot­ago­nisten zum Antrieb diente.

An den ersten beiden Festi­val­tagen begegnete man bereits zwei Damen aus der vikto­ria­ni­schen Zeit, die sich, von einem Mann verlassen, auf Expe­di­tion in einsame, wüste Land­schaften begeben.

Juliette Binoche lieferte den Start­schuss für den Wett­be­werb mit dem verzückten Ausruf: »Ich habe meinen ersten Bären!« Die erfolg­reiche Eisbä­ren­jagd in der Anfangs­se­quenz war aber auch schon das Einzige, was Nobody Wants the Night als Eröff­nungs­film quali­fi­zierte. Isabel Coixets Polar­phan­tasie, basierend auf einer Episode aus dem Leben von Josephine Peary, blieb in jeder Hinsicht lauwarm, ließ weder wahr­haf­tige Emotionen aufflammen, noch den lebens­be­droh­li­chen Eishauch ihres Schau­platzes spüren.

Kurz vor Herein­bre­chen der Polar­nacht eilt Mrs. Peary (Juliette Binoche) ihrem Mann entgegen, der sich seit Monaten auf einer Expe­di­tion zum Nordpol befindet. Doch sie wird von Schnee­stürmen und Dunkel­heit eingeholt und findet letzten Unter­schlupf im Iglu einer Inuit (gespielt von der Japanerin Rinko Kikuchi – weil: Haupt­sache irgendwie ethnisch), wo die beiden Frauen bis zur Rückkehr der Sonne ums Überleben kämpfen. Dies wird auch zum zwischen­mensch­li­chen Terri­to­ri­al­kampf, als sich heraus­stellt, dass Allaka die Zweitfrau von Mr. Peary ist und sein Kind in ihrem Leib trägt.

Sehr naiv kolo­nia­lis­tisch erzählt der Film, wie sich die »weise Wilde« opfern darf, damit die weiße Ameri­ka­nerin ihre Sinnkrise bewäl­tigen kann. Er ist damit letztlich nicht weiter als der älteste Film des Festivals: The Toll of the Sea von 1922, aus der »Tech­ni­color«-Retro­spek­tive – der seine Inspi­ra­tion selbst schon von »Madame Butterfly« bezog. Auch hier gebiert eine »exotische« Geliebte einem fremd­ge­henden Ameri­kaner ein Kind – aber zumindest erlebt man das aus ihrem Blick­winkel und mit ihr als emotio­naler Instanz. Und das Zwei­streifen-Tech­ni­color, die Stummfilm-Stili­sie­rung heben das auf eine Ebene der bewussten Künst­lich­keit, opern­hafter Größe – während Coixet sich erfolglos an einem Natu­ra­lismus versucht, der aber gefangen bleibt in der Enge der zu erah­nenden Wände und zerfließt in der Hitze des Studios auf Teneriffa.

Das ist das Eine, was Werner Herzogs ebenfalls – und aus durchaus nach­voll­zieh­baren Gründen – auf wenig Kritiker-Gegen­liebe gestoßener Wett­be­werbs­bei­trag Queen of the Desert unbe­streitbar voraus hatte: Wie immer, bleibt Herzog auch im Spielfilm im Grunde eine Doku­men­ta­rist. Wenn ein Film in der Wüste spielt, dann wird er in der tatsäch­li­chen Weite der Wüste gedreht. Wenn während der Dreh­ar­beiten am Straßen­rand ein photo­gener Aasgeier Herzogs Aufmerk­sam­keit erregt, darf er kurz darauf untrai­niert in einer Szene nach Nicole Kidman und James Franco picken. Der Film zeigt nicht Kulissen und Statisten, sondern Orte und Einhei­mi­sche.

Und selbst wenn er von den hoch­pro­ble­ma­ti­schen Macht­spielen der Kolo­ni­al­mächte im Nahen Osten um den Ersten Weltkrieg herum handelt, bemüht er sich dennoch um eine respekt­volle Darstel­lung der Kultur der Region.

Die Heldin dieses Films ist die Aben­teu­rerin, Autorin, poli­ti­sche Beraterin und Spionin Gertrude Bell (Nicole Kidman). Die große Schwäche des Films ist, dem soviel Raum zu geben, was sie in die Wüste treibt: Der Verlust zweier geliebter Männer. Selbst wenn Werner Herzog grund­sätz­lich ein Regisseur für Liebes­szenen und zärtliche Momente wäre, ist es fraglich, ob er der selbst­ver­liebten Teil­nahms­lo­sig­keit James Francos einen Funken Anzie­hungs­kraft hätte entlocken können. Doch auch der ungleich über­zeu­gen­dere Damian Lewis als spätere große Liebe kann nichts daran ändern, dass Queen of the Desert deutlich inter­es­santer wäre, läge sein Fokus mehr auf dem Wirken Gertrude Bells. Herzogs Drehbuch kapi­tu­liert vor der histo­ri­schen Perspek­tive mit den bis heute reichenden Folgen der damaligen geopo­li­ti­schen Schach­züge.

Viel­leicht auch wegen der – in Verhältnis zu der Kraft der Motive – diesmal oft eher blassen Bilder von Peter Zeit­linger, spürt man aber auch generell wenig von Herzogs Wagnis und Nähe zum Wahnsinn. Es sind über­ra­schen­der­weise eher kleine, häusliche Szenen, in denen etwas unver­wech­selbar Bizarres auffla­ckert: Die wohl herzogschsten Momente des Films sind ein fami­liäres Abend­essen, bei dem der Vater den Tisch zur »no-cry zone« erklärt und gewagte Theorien über den mensch­li­chen Flüs­sig­keits­haus­halt äußert. (»If you would cry more, you'd have to pee less.«) Und eine rätsel­hafte Hirschkuh, die vor dem Garten­fenster im engli­schen Herren­haus bravourös ihren Gast­auf­tritt als Symbol absol­viert.

Peary und Bell finden sich wieder in Land­schaften, die als Spiegel dienen für die Extrem­zu­stände ihrer Psyche – die gleichsam Monumente sind der Absenz.

In drei anderen Wett­be­werbs­filmen mussten die Prot­ago­nisten ebenfalls einen Weg finden, mit einem trau­ma­ti­schen Verlust zu leben. Doch sie entkamen äußerlich nicht ihren gewohnten Umge­bungen, die auch zur Falle für die Gedanken werden können.

Wim Wenders versucht in Every Thing Will Be Fine aller­dings, solch alltäg­li­chen Räumen etwas Außer­ge­wöhn­lich­keit abzu­trotzen, indem er sie in 3D filmt. Eine zunächst über­ra­schend schei­nende Entschei­dung für ein derar­tiges Drama – doch durchaus schlüssig in jenen verein­zelten Momenten, wo die Räum­lich­keit tatsäch­lich innere Zustände insze­niert. Umso enttäu­schender ist, dass dies sich nicht als funda­men­tales Prinzip durch den ganzen Film zieht, sondern eher spora­disch einge­setzt wird. Über weite Strecken tritt das 3D dann wieder völlig in den Hinter­grund; an anderen Stellen wirkt es, als wäre nicht die Drama­turgie, sondern lediglich die situa­tiven Gege­ben­heiten des Drehorts Auslöser für die stereo­sko­pi­sche Gestal­tung gewesen.

Ohnehin leidet der Film an einer gewissen Orts­lo­sig­keit, da die Inte­ri­eurs weniger in Kanada behei­matet scheinen als austausch­baren inter­na­tio­nalen Design­ma­ga­zinen entsprungen. Die Lebens­welt, die Wenders sich für Schrift­steller, Illus­tra­toren, Über­set­ze­rinnen vorstellt, ist abge­kop­pelt von jeder lokalen und ökono­mi­schen Realität. Es ist ein Look, der auch den Schmerz abfedert: Er macht es einem – von einer raffi­niert über­rum­pelnden Anfangs­se­quenz abgesehen – nicht leichter, mitzu­fühlen mit den dezent narziss­ti­schen Seelen­nöten des Autors Tomas Eldan. Über zwölf Jahre hinweg verfolgt man sein Ringen mit der Schuld, ein Kind totge­fahren zu haben. Sein Leben bleibt durch das Unglück verknüpft mit dem der Hinter­blie­benen; seine Bezie­hungen zu Frauen bleiben davon geprägt.

Als größte Leer­stelle in dem Film prangt jedoch nicht das verlorene Kind, sondern die Abwe­sen­heit des Haupt­dar­stel­lers: James Franco ist nicht mehr als ein talen­tiertes Licht­double. Allein schon die ersten Sekunden! Weniger über­zeu­gend als ihn hat man wohl noch nie jemanden auf der Leinwand im Bett aufsitzen und seufzen sehen. Und an seinem ausdrucks­losen Gesicht scheitern permanent – 3D hin oder her – alle Versuche des Films, Tiefe abzu­bilden.

Sowohl Małgorzata Szumowskas mit dem Regie­preis ausge­zeich­neter Body (Cialo) als auch Andrew Haighs 45 Years begnügen sich visuell mit zwei Dimen­sionen, arbeiten in der Raum­in­sze­nie­rung aber mit größerer Präzision, mit einem genau bemes­senen Spiel mit Enge und Distanz.

In Body erwächst daraus nicht nur ein eindring­li­ches Bild der Wohnung, in welcher der Unter­su­chungs­richter Janusz (Janusz Gajos) und seine Tochter Olga (Justyna Suwała) seit dem Tod der Mutter neben­ein­ander her wie Gefangene leben. Sondern er gewinnt dadurch trotz des zerknir­schend klin­genden Themas einen wunderbar trockenen Humor, behält ein waches Gefühl für die kleinen Absur­di­täten.

So ist es am Ende auch ein gemein­sames, befrei­endes Lachen, das den Ausweg in ein echtes Leben nach dem Todesfall andeutet. Zuvor inter­na­li­siert jeder der beiden auf eigene Art die unver­ar­bei­tete Trauer. Die buli­mi­sche Tochter versucht, die Konturen ihres Selbst deut­li­cher greifbar zu machen, indem sie allen für sie über­flüs­sigen Körper weghun­gert. Der Vater – der seinen Leib wahllos mit fettigem Fraß und Fusel füttert – bemüht sich entgegen seiner ratio­nalen Weltsicht, den esote­ri­schen Glauben an körper­lose Seelen zu finden.

Das ist im Film alles feiner, dichter und viel­schich­tiger gewoben, als es die knappe Beschrei­bung ahnen lassen kann. Zur uner­war­teten Mittlerin zwischen Vater und Tochter, zwischen Körper- und Welt­flucht wird dabei Anna (Maja Osta­szewska), die zugleich Olgas Thera­peutin und eine Freizeit-Spiri­tistin ist, die medialen Zugang zum jensei­tigen Reich des Unsicht­baren verspricht. Der Film koket­tiert bis zum Schluss mit der Verheißung von etwas Über­sinn­li­chem, offenbart aber im letzten, char­manten Moment: Er wusste die ganze Zeit über, dass die einzig wahre Lösung im Akzep­tieren der Tatsachen liegt.

Nichts in 45 Years mutet an, als gebe es auch nur die Möglich­keit des Über­na­tür­li­chen. Und doch ist er im Grunde ein Gespens­ter­film.

Kurz vor ihrem 45-jährigen Hoch­zeits­ju­biläum beginnt die ehemalige Lehrerin Kate Mercer (Charlotte Rampling) zu begreifen, dass ihre – durchaus glück­liche – Ehe von Anfang an von einer Toten heim­ge­sucht wurde: Sie wusste zwar vom Unfalltod der vorhe­rigen Partnerin ihres Mannes Geoff (Tom Courtenay). Doch erst als deren vermisste, von den Zers­törungen der Zeit fast unberührte Leiche aus dem abtau­enden Glet­schereis der Alpen wieder auftaucht, stellt sich nach und nach heraus, wie sehr Kate eventuell für Geoff nur eine Art Wieder­gän­gerin von Katja war, die so passgenau wie möglich die Lücke füllen sollte, welche die Verstor­bene hinter­ließ. Es ist für sie fast, als wäre sie die ganzen Jahre unwis­sent­lich besessen gewesen von deren Geist. Und auch wenn es für eine Weile in der von beiden Seiten offenen Konfron­ta­tion mit ihrem Mann so aussieht, als könne sie ihre subjektiv immer gefühlte Eigen­s­tän­dig­keit behaupten, muss sie – in dem unwahr­schein­lich starken Schluss­bild des Films – erkennen, wie unent­rinnbar sie in jener Phantasie ihres Mannes gefangen ist.

Erst rück­bli­ckend wird einem als Zuschauer wirklich bewusst, wie sehr 45 Years durch­ge­hend subtil als Horror­film insze­niert ist. Er bedient sich unter­schwellig zahl­rei­cher klas­si­scher Stil­mittel, Techniken dieses Genres, verwan­delt das vertraute Heim in ein Spukhaus. Da ist der Hund, der etwas Unheil­volles wittert und sein Frauchen auf eine unsicht­bare Präsenz hinweisen will. Da ist die zunächst noch uner­klär­liche Verän­de­rung des Manns, als habe etwas von ihm Besitz ergriffen. Da ist eine Glie­de­rung des Films durch Wochen­tage wie in Shining – die das beklem­mende Gefühl aufkommen lässt, dass alles ein unschönes Ende nehmen wird. Da ist das Sound­de­sign, das dem Ticken der Wanduhr eine über­na­tür­liche Klarheit, eine Unaus­weich­lich­keit gibt. Und das Geoffs Schritten auf dem Speicher eine bedroh­liche Resonanz verleiht; das den Luftzug von dort nach einem Hauch aus dem Jenseits klingen lässt.

Als Kate schließ­lich ihren Mut zusam­men­nimmt und den wie ein verbo­tener Raum aus »Blaubart« oder »Jane Eyre« fungie­render Dachboden betritt, mate­ria­li­siert sich dort für sie zum ersten Mal wirklich Katja: Zunächst in Fotoalben, dann zum Schein­leben erweckt auf Super-8-Filmen.

Kate stöbert nach einem Projektor, impro­vi­siert mit einem Bettlaken eine Leinwand, löscht das Licht – und ruft die gespens­ter­hafte, seit fast fünf Jahr­zehnten in der Zeit erstarrte Erschei­nung Katjas herbei.

Ohne ein einziges über­na­tür­li­ches Moment ist 45 Years auf seine Weise ein Film über Geis­ter­pho­to­gra­phie.