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04.08.2005
 
 
         

Das Kino ist keine Scheibe
Stürzt die DVD das Kino in die Krise?

 
       
 
 
 
 

In der Ausgabe Nr. 31 der Wochenzeitung DIE ZEIT eröffnet Deutschlands Vorzeige-Filmtheoretiker Georg Seeßlen unter dem Titel "Angriff der Killerscheiben" das Feuilleton mit einem weitschweifenden Artikel, in dem – vereinfacht gesagt – der DVD die Schuld an der Krise des Kinos gegeben wird. Er schreibt darin u.a. von einer "visuellen Vertrauenskrise", vom "Auseinanderbrechen der Erzählgemeinschaft" und von der möglichen Unfähigkeit der Medien (hier: des Kinos) weiterhin Konsens in der Gesellschaft herzustellen, worauf die Gesellschaft in "geblendete Horden, verirrte Kinder, wahnsinnige Sektierer" zerfallen wird. Gerade deshalb "haben vor dem Sterben des Kinos selbst Menschen Angst, die seit zwanzig Jahren keines mehr betreten haben."

Ach was!? möchte man angesichts eines solchen Szenarios mit den berühmten Worten Loriots erwidern und wundert sich, warum man trotz regelmäßiger Kinobesuche nichts von dieser cineastischer Katastrophe bemerkt hat.
Krisendiskussionen haben in Deutschland Konjunktur (immerhin ein Bereich, dem es gut geht), darum begeben auch wir uns auf die Suche nach der Kinokrise unter besonderer Berücksichtigung der DVD als möglicher Auslöser.

Krise des Kinos? Ist damit eigentlich die Krise eines Wirtschaftszweiges, einer Kunstform, eines Mediums oder einer gesellschaftlichen Einrichtung gemeint?
Irgendwie alles zusammen und das eine ist das Symptom des anderen, die als Folge das dritte hat. Oder umgekehrt. Also besser der Reihe nach.

Wenn es um die wirtschaftliche Situation der Filmindustrie geht, sollte man gewissenhaft die Berichte der Filmförderungsanstalt in Berlin, kurz FFA, lesen (kostenlos im Internet erhältlich). Dann sieht man etwa, dass in den letzten Jahren die Besucher- und Umsatzzahlen keineswegs dramatisch gesunken sind (von 2003 auf 2004 sogar plus 5 %). Und wenn (wie Seeßlen schreibt) die Umsätze diesen Sommer tatsächlich zurückgehen, dann hat das vermutlich ganz unspektakuläre Gründe, wie dem Fehlen von großen Blockbustern oder dem generell gebremsten Konsumverhalten, unter dem viele Wirtschaftszweige leiden.

Auch ein Trend weg vom Kino, hin zum Home-Entertainment (also DVD und Video) lässt sich nur durch geschickte Interpretation der Statistiken hervorzaubern. So ist es zwar korrekt, dass das Heimkino seinen Anteil am "Gesamt-Filmbudget" (= Umsätze Video/DVD-Verleih– und –Kauf + Kinoumsätze) der Bundesbürger seit 1998 von 51 % auf 66 % (in 2004) erhöht hat (alle Zahlen wieder FFA). Das heißt aber nicht, dass deswegen weniger Menschen ins Kino gegangen wären. Vielmehr ist das Gesamtbudget erheblich größer geworden, so dass der Anteil der Kinoumsätze, bei leicht steigenden Besucherzahlen, prozentual trotzdem gesunken ist.

Wer diesen kalten, nackten Umsatzzahlen nicht traut, sollte sich vielleicht Gedanken über die aktuelle und zukünftige Motivation der Kinogänger machen.
Auch hierzu hat die FFA einige interessante Zahlen, etwa dass 2004 im Durchschnitt 60 % der Kinobesucher einen Film nach Thema und Story auswählten, 25 % wegen der beteiligten Schauspieler, 25 % weil sie etwas mit anderen unternehmen wollten, 25 % richteten sich nach dem Wunsch der Begleitperson, 12 % interessierten sich für die Special Effects und 18 % wollten den Film sehen, weil er allgemeines Gesprächsthema war (Mehrfachnennungen waren möglich).

Filmliebhabern mögen manche dieser Beweggründe als "nieder" erscheinen, doch beweisen diese Zahlen einmal mehr, dass das Kino immer in einem Spannungsverhältnis zwischen (Film)Kunst und sozialem Event, dem die Inhalte relativ egal sind, steht.
Entscheidend aber ist, dass jemand, der ins Kino geht, um etwas mit anderen zu unternehmen oder weil ihn das allgemeine Gerede neugierig gemacht hat, auch in Zukunft nicht im stillen Kämmerlein vor seinem DVD-Player sitzen wird.
Für die "echten" Kinofans wird die DVD ohnehin nie ein Ersatz (höchstens eine Ergänzung) für das Kino sein.

Wo also ist die Krise? Sicher nicht im künstlerischen Bereich (das behauptet nicht einmal Seeßlen), denn nach wie vor werden (allem Gejammere zum Trotz) jedes Jahr viele gute und einige sehr gute Filme gedreht. Das Problem besteht vielmehr darin, diese Filme auch sehen zu können. Über die Schwierigkeiten - aber keineswegs dramatischen Zustände - des aktuellen Kinoangebots habe ich mich an dieser Stelle vor einem Jahr unter dem Titel "Von Menschen und Kinos in München" bereits ausführlich geäußert, weshalb ich hier nur auf einen Punkt, den Seeßlen mit großer Emphase angeht, ansprechen möchte.

Es ist dies der wieder einmal bemühte Vergleich zwischen den teuflischen Multiplex-Kinos (die in der "Hartz IV- und working poor-Welt Orte des Unbehagens geworden sind") und den heimeligen Kleinkinos ("Orte des Zusammenrückens, der emotionalen Wärme...").
Solche Aussagen sind gutmenschliche Wunderwaffen, die das Kunststück vollbringen, dass ihnen (echte und vermeintliche) Intellektuelle vollkommen unreflektiert zustimmen, obwohl sie faktisch jeder Grundlage entbehren oder aber total am kritisierten Ziel vorbei schießen.

Etwa den Besuch eines Blockbuster-Films in einem Multiplex-Kino mit den Augen eines Cineasten zu betrachten, mag einen durchaus schaudern lassen. Doch wenn man von der Allgemeinheit des Kinos und dessen angeblicher Krise spricht, dann muss man sich auch eingestehen können, dass für die Mehrzahl der Menschen andere Motivationen als der reine, kulturelle Filmgenuss gelten und die Multiplex-Kinos für sie deshalb keineswegs "Orte des Unbehagens" sondern Orte des Freizeitvergnügens sind. Sollten man diesen Menschen vorwerfen, sie wären aus den falschen Gründen glücklich und zufrieden?

An diesem Punkt driftet Seeßlens Text schließlich vollends in die (naturgemäß schwer zu widerlegende) moralische, ästhetische, philosophische, medientheoretische Kritik ab, die dem aktuellen Kino unterstellt, nur noch nichtssagend aufgeblähte Bilder zu fabrizieren, die die Leute nicht mehr im antiquierten Kinosaal, sondern am eigenen Fernseher mit unzähligen DVD-Extras sehen wollen. Packt Seeßlen das alles auch in schwergewichtige Worte, so ist die Grundaussage doch altbekannt. Denn wenn er sich heute beschwert, dass alles schlimm und verkommen und dumm ist, dann muss es bisher bedeutend besser gewesen sein, ergo: Früher war alles besser.
Und schon stimmt der liberale Leser dieser gefühlt richtigen Allgemeinkritik wieder heftig nickend zu.

Nüchtern betrachtet kann ich aber nicht den geringsten Beleg dafür finden, warum das Kino im Jahr 2005 auch nur einen Deut schlechter (in welchem Sinne auch immer) sein sollte, als etwa das des Jahres 1985. Auch damals gab es schon hirnlose, dafür erfolgreiche Massenware und weniger erfolgreiche Qualitätsfilme, das Publikum hatte immer schon einen Hang zu Ersterem und die gesellschaftliche Relevanz des Kinos war auch damals nicht besonders (vermutlich gab es diese Relevanz ohnehin nur während einiger weniger Jahre in den 1970ern oder vielleicht gab und gibt es sie auch nur in den Köpfen von professionellen Filmmenschen). Aber als Spätgeborener lasse ich mich da gerne eines Besseren belehren.

Hinter all dem nun eine aktuelle Krise des Kinos zu erkennen, will mir beim besten Willen nicht gelingen. Vielmehr scheint diese dramatische Lageeinschätzung nur dem allgegenwärtigen Krisen-Chic zu folgen und in Abänderung des legendären 80er-Jahre-Spruchs gilt nun: Aber gut, dass wir mal darüber gejammert haben.

Michael Haberlander

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