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16. internationales Dokumentarfilmfestival München 2001
Reihe: Das Tier im Blick

Tagesprogramme:
Fr 27.4. | Sa 28.4. | So 29.4. | Mo 30.4. | Di 1.5. | Mi 2.5. | Do 3.5. | Fr 4.5. | Sa 5.5. | So 6.5.
Filmreihen:
Alle Filme | Wettbewerb | Point of View | Das Tier im Blick | Neue Filme aus Bayern | Hommage an Boris Galanter | Land und Frieden (Palästina und Israel) | Europe in Shorts | Aspects of Future | LiteraVision 2001 | Kurzfilme | Special Screening


Alfred Machin | Hermann Hähnle | Jean Painlevé | Ulrich Karl Traugott Ferdinand Schulz | Hans Schomburgk | Hans Hass | Bernhard Grzimek | Eugen Schumacher | Heinz Sielmann | Horst Stern | Vierzig Jahre Tierfilm in der DDR

Jean Painlevé

Jean Painlevé

Der Surrealismus war gefräßig, er konnte nicht genug kriegen von der Wirklichkeit. Von der um ihn herum, dem Leben in den Vierteln von Paris, aber auch von der, die er am andern Ende der Welt vermutete - in fernen Ländern, exotischen Regionen.
Jean Painlevé, 1902 geboren, 1989 gestorben, hat seinen Surrealismus ins Meer verlegt, in die Welt der ozeanischen Gefühle. Auf den richtigen Weg gebracht hat ihn die Schulschwänzerei, eines Tages hat er sich geweigert, weiter den Unterricht zu besuchen - und um den Vater zu täuschen hat er in der Früh zwar das Haus verlassen, den Tag aber im Jardin des Plantes verbracht. Nicht daß er sich mit dem Vater nicht verstanden hätte - Paul Painlevé war ein Linker, ist Minister für Erziehung, Krieg und Luftfahrt gewesen und wurde vom Sohn immer wieder spontan vorgeschickt, wenn es galt, den Freunden zu helfen aus irgendeiner politischen Misere.
Die Schwänzerei hat den Blick, den Rhythmus geprägt für Jean, auf Lebenszeit. Das lange Warten, das geduldige Schauen - Jahre der Arbeit an einzelnen Projekten sind bei ihm in zehn Minuten Film komprimiert. Das macht die Bilder zum Platzen voll, die er seinen Zuschauern anbringt, den Kollegen in der Wissenschaft und dem Publikum der Kinos. Painlevé hat die Tiere des Meeres gefilmt, eine Kette von Einzelporträts, die irgendwie ein phantasmagorisches kleines Universum ergeben: Seespinnen und Gespenstkrabben, Asselspinnen und Seepferdchen, Süßwassermörder und
Seeigel, Garnelen und Akera: "Bei den Kugelschnecken, den Akera - Zwittern, die bei der Kopulation eine Kette bilden - übernimmt das Tier am Anfang die Rolle des Weibchens, das am Ende die Rolle des Männchens. Die Tiere dazwischen spielen eine Doppelrolle: Weibchen für das folgende Tier, Männchen für das vorhergehende."
Die Vermehrung steht immer wieder im Mittelpunkt dieser Filme, die Kopulation, die Fortpflanzung. Painlevé liebt den Überschuß, das Kino ist für ihn auch eine Kunst der Verschwendung, der unaufhörlichen Verwandlungen. Manchmal, wenn die Tierchen miteinander zu kommunizieren versuchen, scheinen die Formen sich aufzulösen, entsteht in seinen Filmen ein Gemenge von Farben und Klängen und Tönen.
Er hat wissenschaftliche Institute gleichermaßen wie filmische Organisationen geleitet in seinem Leben, hat sich für die linke Regierung vor dem Weltkrieg engagiert und in der Résistance gekämpft. Und ist Surrealist geblieben mit Leib und Seele. Und hat gezeigt, der Surrealismus war nicht nur ein verspielter Schnickschnack, ein literarisch selbstverliebtes Gesellschaftsspiel. Der Surrealismus war ein seriöses, ein wissenschaftliches Projekt. Die aquatische Tradition des Kinos, sagt Frieda Grafe: "Die Transparenz, genau die bekommt man zu sehen in Painlevés Filmen ... es ist ein positiv Unheimliches, das der Appparat ans Licht bringt", schreibt sie in ihrem Text Ein Wilderer: "Das Wasser konkretisiert, es dokumentiert das Verlangen zu sehen, die Lust des Wissenschaftlers, seine Skopophilie und, o Wunder! die Unsichtbarkeit des Unbewußten. In Sachen Wunder, schrieb Eisenstein an Painlevé, halte ich Sie für den einzigen ernsthaften Konkurrenten der Muttergottes von Lourdes."
Sehen machen, das war das große Programm für Painlevé und für das große Biotop des französischen Vorkriegssurrealismus - Breton und Cocteau, Desnos und Vigo. Als einziger von ihnen harrt er weiter der Entdeckung, der Würdigung. Mit seinem Tauchkamera-Apparat wirkt er inzwischen wieder ganz modern, wie einer der Cyberspace-Freaks heute, und manche seiner submarinen Aufnahmen sehen aus wie Fantasmen eines Tauchers, der Schwierigkeiten mit der Sauerstoffzufuhr bekommen hat.
Vor Tausenden Eiern platzende Körper, schwellende Tentakel, mit Gelatine sichtbare Qualleninnereien - die Grenzen zwischen der Wissenschaft und der Imagination, zwischen Wirklichkeit und Traum verschwimmen, und die Wirklichkeit zeigt ihre halluzinativen Momente.
Das Wasser hat einen merkwürdigen Schimmer in den Bildern von Painlevé, und man hat eine Ahnung von nietzscheanischer Klarheit. Und mitten in dem Gewimmel von Kopulation und Kommunikation, in diesem Chaos von Gebärden und Gebären plötzlich der große Einzelgänger. Der Einsame, der Solitär. Der Vampir, in dessen Kuß Schrecken und Zärtlichkeit sich mischen, und dessen Gruß unmißverständlich ist. Gefilmt im Jahr 1939, im Rhythmus von Duke Ellingtons Echos, in der Ahnung des Krieges, der kommen wird. Auch das ist Surrealismus, auch das ist Painlevé, die Vermählung von Politik und Poesie.

Jean Painlevé - Programm 1 Jean Painlevé - Programm 1 FILMMUSEUM
So. 29.4., 17:30
Jean Painlevé - Programm 2 Jean Painlevé - Programm 2 FILMMUSEUM
Mi. 2.5., 17:30
website: artechock