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16. internationales Dokumentarfilmfestival München 2001
Reihe: Hommage an Boris Galanter

Tagesprogramme:
Fr 27.4. | Sa 28.4. | So 29.4. | Mo 30.4. | Di 1.5. | Mi 2.5. | Do 3.5. | Fr 4.5. | Sa 5.5. | So 6.5.
Filmreihen:
Alle Filme | Wettbewerb | Point of View | Das Tier im Blick | Neue Filme aus Bayern | Hommage an Boris Galanter | Land und Frieden (Palästina und Israel) | Europe in Shorts | Aspects of Future | LiteraVision 2001 | Kurzfilme | Special Screening


Boris Galanter BIO-FILMOGRAPHIE
Boris Galanter

Geboren 1935 in Kiev. Studium am Dovšenko-Studio Kiev. Er erregte mit seinem ersten Film Bumerang Aufsehen.
1968 dreht er Die besten Tage unseres Lebens. Er kommt aus Kirgisien nach Sverdlovsk. Sofort bekommt er Schwierigkeiten mit den Zensoren in Moskau. Der Film wird nicht abgenommen, muß immer wieder geschnitten werden, und so bleibt es. Mit jedem seiner in Sverd-lovsk gedrehten Filme gerät er in die Mühlen der Filmbürokratie. Die Filme landen im Regal, werden nicht gezeigt. Völlig entmutigt verläßt er Sverd-lovsk und zieht nach Moskau. Er dreht noch einige wenige Filme: einen zweiteiligen Dokumentarfilm über die Tänzerin Maja Plisetskaja, er beginnt einen über den Cellisten Rostropoviè, dreht einen Spielfilm und stirbt 1990 an einer unheilbaren Krankheit.
Mit Galanter kommt eine für Sverdlovsk neue Art Auffassung von Dokumentarfilm ins Studio - der künstlerische Dokumentarfilm (siehe Interview mit Boris Šapiro). Auch seine Helden sind wie die seiner Studiokollegen einfache Leute - Bauern, Sportler, Arbeiter, Konstrukteure und Flieger. Da ist er nicht außergewöhnlich.
Außergewöhnlich ist er in seiner Subjektivität, seiner Suche nach Stoffen, die in sich einen Konflikt bergen oder einen Prozeß beschreiben, nach Helden, die sich in Entscheidungssituationen befinden und die bereit sind, sich in der Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit zu zeigen, der Nähe des Filmemachers zu den Porträtierten und in der Vielfalt seines handwerklichen Instrumentariums. Seine Filme tragen in sich immer eine Spannung und eine unbestimmbare Trauer. Sie sind poetisch und elegisch, von großer Schlichtheit und Musikalität.
Ihm blieb eine offizielle Anerkennung im Land immer versagt, und im Ausland war er völlig unbekannt.
Den Zensoren galt er als störrisch, unbelehrbar und unbeeinflußbar. Sie förderten ihn nicht, sondern behinderten ihn ständig. Aber auch auf seine Kollegen blieben seine Arbeiten anscheinend ohne Einfluß. Niemand hat seine experimentellen Versuche weitergeführt oder seine ästhetischen Herausforderungen angenommen.

Natalja Manski und Tamara Trampe


Interview von Tamara Trampe mit Boris A. Šapiro über Boris Galanter:

Boris Galanter wurde in Kiev geboren und begann seine Laufbahn im Dovšenko-Studio. Dort arbeitete er einige Zeit und bewarb sich dann am VGIK, an der Filmhochschule in Moskau. Aus einigen, unterdessen bekannten Gründen, wurde er nicht angenommen, aus Gründen, die mit seiner ethnischen Herkunft zu tun hatten, Sie wissen, was damit gemeint ist. Er blieb also im Dovšenko-Studio, bis er und seine Freunde eine Einladung vom damaligen Vorsitzenden des Staatlichen Filmkomitees Kirgisiens erhielten, in Kirgisien zu arbeiten. Kirgisien gehörte damals zur Sowjetunion, und den Vorsitz des Filmkomitees hatte ein kluger, tüchtiger und begabter Beamter übernommen, der beschlossen hatte, talentierte Filmleute in seinem Land zu versammeln. Und das machte er auch. Damals kamen nicht nur interessante Dokumentaristen nach Kirgisien, sondern auch interessante Spielfilmregisseure und Kameramänner. Andrej Konèalovski drehte dort seinen Film "Erster Lehrer", Chrabrovitski machte einen Film, Jurij Sokol war dort, ein zu dieser Zeit sehr bekannter Kameramann, der heute in Australien arbeitet - mit einem Wort, im damaligen Frunse versammelte sich eine große Gruppe begabter Künstler, die aus Moskau, aus Leningrad, aus Kiev kamen und unter den Fittichen dieses umsichtigen Beamten den kirgisischen Dokumentarfilm zu einer hohen Blüte und Reife führten. Auf den Protest seiner Kollegen, die ihm vorwarfen, aus der ganzen Sowjetunion Filmemacher einzuladen, statt die nationalen Kader zu fördern, soll er geantwortet haben: Ich werde die Leute Filme machen lassen, die Filme machen können, weil sie begabt sind und nicht, weil sie Schlitzaugen haben. - Das war zu diesen Zeiten ganz schön mutig, wie Sie sich denken können.
Boris Galanter drehte mit seinen Freunden einige sehr interessante Filme, die in der Presse und der Filmkritik Beachtung fanden, z.B. "Bumerang" war ein damals sehr bekannter Film. Zu Anfang der sechziger Jahre erreichte der Dokumentarfilm allgemein ein hohes Niveau - in Polen, in der Tschechoslowakei, bei uns. Ich erinnere mich, wir trafen uns zu Seminaren, zeigten uns gegenseitig unsere Filme und tauschten Erfahrungen aus, es war eine sehr spannende Zeit. Boris genoß bereits in seinen Kreisen einen hohen Grad von Bekanntheit und Ansehen.
Auch hier im Sverdlovsker Studio ging es mit dem Film bergauf, wie im ganzen Land. Anfangs sollten hier nur Dokumentar- und Lehrfilme hergestellt werden, doch schon während des Krieges wurde ein Spielfilm gedreht. Das Studio war 1943 gegründet worden. Nach Stalins Tod, nachdem Chrustschov an die Macht gekommen war, beschloß man, das Studio neu zu organisieren. Seine geografische Lage in der Mitte Russlands, im Ural, der Grenze zwischen Europa und Asien, verlieh ihm Gewicht und Bedeutung, es sollte vergrößert werden, jährlich acht bis zehn Spielfilme produzieren und die Produktion von Dokumentar- und Lehrfilmen erhöhen. In der Folge wurden hier regelmäßig Wochenschauen gedreht, eine Masse von Dokumentarfilmen, dieses Studio wurde zu einem einzigartigem Kombinat, in dem alle Genres des Films hergestellt wurden: Spielfilme, Dokumentarfilme, populär-wissenschaftliche, wunderbare Trickfilme, die in der ganzen Union berühmt waren und die hier heute noch gemacht werden. Der Oskarpreisträger Aleksandr Petrov und sein Film "Der alte Mann und das Meer" haben zum Beispiel ihre Wurzeln hier.
Boris wurde also eingeladen, hier zu arbeiten.
In der Leitung der Dokumentarfilmabteilung saßen damals ebenfalls kluge Beamte, die mit neuen talentierten Leuten das künstlerische Niveau des Dokumentarfilms in ihrem Studio heben wollten und sich auf der Suche nach ihnen im ganzen Lande umsahen. Da der kirgisische Film in dieser Zeit Furore machte, richteten sich alle Blicke auf ihn, und so stieß man auf Boris. Er kam her und hat praktisch länger als zehn Jahre hier gearbeitet. Er kam mit seiner Familie, seiner Frau und einem kleinen Kind, und sie richteten sich hier ein. Und so wie unser erster gemeinsamer Film hieß: "Die besten Tage unseres Lebens", so waren diese zehn Jahre die besten unseres Lebens, für ihn und für mich. Er drehte eine riesige Menge von Dokumentarfilmen, die von der Kritik hoch gewürdigt wurden. Hier erhielt sein Talent alle Möglichkeiten, sich zu entfalten. Er war schon, als er herkam, ein interessanter junger Mann, doch hier wurde aus ihm eine Persönlichkeit und ein großer Meister seines Fachs.
Soviel zu seiner Zeit hier in Sverdlovsk.


Tamara Trampe: Auf der Liste seiner Filme sehe ich drei, die zwei Titel haben. Warum haben sie zwei Titel?

Das politische Tauwetter dieser Jahre war ziemlich schnell beendet, und die Filmproduktion geriet zunehmend wieder unter das Diktat des Staatlichen Filmkomitees in Moskau. Das störte und behinderte die Arbeit vieler Künstler und verkürzte damit ihr Leben. Wir müssen nicht weit gehen und brauchen uns nur an das Schicksal Eisensteins zu erinnern.
Jetzt überschwemmte eine neue Welle der Repression das Land, und jede Filmabnahme von Boris wurde zu einem großen Problem. Die Probleme bestanden darin, daß Boris talentiert und sein Blick auf die Dinge und das Leben ungewöhnlich war. Und das paßte den Moskauer Beamten und Funktionären nicht. Da gab es z.B. einen gewissen Mifontov, er leitete die Abteilung für den russischen Film im Staatlichen Moskauer Filmkomitee. Ich weiß nicht, wer heute noch seinen Namen kennt, höchstwahrscheinlich nur seine Verwandten, während viele Menschen sich an Boris erinnern und sein Werk studieren. Dieser Mifontov hatte sich auf Boris und seine Filme eingeschossen, so wie Bolšakov zu seiner Zeit auf Eisenstein, den er gequält und gequält und schließlich vernichtet hatte. Doch wer erinnert sich heute noch an Bolšakov, während die ganze Welt Eisensteins Filme kennt!
Bei jeder neuen Filmabnahme bekam Boris eine Menge von Auflagen, er sollte den Film überarbeiten, umschneiden, Einstellungen herausschneiden... Das war, als verlangte man von ihm, einen lebendigen Organismus zu verstümmeln, seine Gedanken zu entstellen. Boris drückte sich jedes Mal davor, verschleppte diese Arbeiten so lange es ging, bis dann das Studio einschritt: Sie werden mit dem Film nicht fertig, machen Sie endlich die Änderungen, sonst erfüllen wir unseren Plan nicht, können Ihre Mitarbeiter nicht bezahlen usw. usw.


Tamara Trampe: Gab es da nicht mit seinem Film "Kosinka" eine besondere Geschichte?

Jeder seiner Filme hatte seine besondere und einmalige Geschichte. In "Kosinka" ging es darum, einen Film über einen vorbildlichen Kolchosleiter zu machen. Wir begannen zu suchen. Gerüchteweise hatten wir von einem guten Kolchos bei Perm gehört, er wurde Boris für den Film vorgeschlagen. Boris hatte in Perm Freunde und Kollegen beim Fernsehen und rief sie an: Was für ein Mensch ist der Leiter dieses Kolchos? - Oh, antwortete man ihm, das ist ein origineller Bursche, kein Durchschnitt, einer, der sich seine eigenen Gedanken macht und seine eigenen Positionen vertritt, sein Verhältnis zur Bezirksleitung ist dementsprechend schlecht. -
Zu jeder Zeit gab es in Rußland Menschen, die versuchten, ihre geistige Unabhängigkeit zu bewahren, sich der Obrigkeit nicht fügten und nach ihrem Gutdünken lebten.
Was Boris über den Kolchosleiter hörte, gefiel ihm: Ein selbstständiger Mann mit schlechten Beziehungen zur Bezirksleitung, die ihm aber nicht an den Karren fahren kann, weil er ein Held der sozialistischen Arbeit ist und sein Kolchos vorbildlich arbeitet. Er fuhr zu ihm, um ihn sich genauer anzusehen.
Begeistert kam er zurück. Der Mann hieß Aleksandr Sergeeviè - wie Puschkin, pflegte er zu scherzen. Sein spezielles Hobby waren Pferde, sein Kolchos züchtete nebenher reinrassige Rennpferde. Das brachte nicht viel ein, Geld machte der Kolchos mit Gemüse und Milchprodukten. Boris war von diesem Mann hingerissen, von seinem Auftreten, seiner Art zu denken, seinem Engagement und seiner Energie, von seiner männlichen Kraft und Schönheit, und er war fest entschlossen, ihn zum Helden seines Films zu machen.
Das Drehbuch wurde zur Produktion freigegeben. Es ergab sich, daß der Film im Winter gedreht wurde, und dieser Winter war besonders rauh, fürchterlich kalt, ein Winter, wie es ihn nur aller zwanzig Jahre gibt, Fröste von 35 bis 40 Grad.
Wir kamen also in diesem Kolchos an, Aleksandr Sergeeviè empfing uns herzlich, begrüßte enthusiastisch unsere Absicht, einen Film zu machen, stellte aber sofort eine Bedingung: Nicht über ihn! Es gäbe in seinem Kolchos viele bewundernswerte Menschen, unter ihnen sollte Boris sich seine Helden aussuchen. Am besten wäre, er würde einen Film über seine Pferdchen machen. Er sei bereit, uns auf jede Weise zu unterstützen, doch wenn wir ihm nicht gefielen, dann könne uns auch kein Minister helfen. Es war klar, wir hatten es hier mit einem eigenwilligen Charakter zu tun. Wir bemühten uns, ihm zu gefallen, und Boris mit seinem Charme gelang das.
In den damaligen Zeiten wurden Drehbücher oft so geschrieben, daß sie die eigentlichen Absichten des Künstlers verhüllten. Diese Notwendigkeit, sich verschlüsselt auszudrücken, hatte nicht nur Nachteile. Sie provozierte die Fantasie und führte zu unkonventionellen und überraschenden Lösungen. Das ist in reaktionären Epochen immer so und bringt oft interessante künstlerische Resultate.
Boris beschloß, einen Film über das menschliche Leben zu machen, über unser aller Leben, über unsere Gesellschaft. Hier ist die Elite, da ist das einfache Volk. Wer gibt wem wieviel? Hier haben wir ehrgeizige Menschen, die große Ziele verfolgen, und da die schlichten Arbeitsbienen, die ihre täglichen Pflichten erfüllen ohne daran zu denken, die Sterne vom Himmel zu holen, und auch sie sind unserer Achtung wert.
Im Zentrum des Drehbuchs stand ein Pferdepfleger, ein einfacher Pferdepfleger, dreiundsiebzig Jahre alt, ein schöner malerischer Großvater mit Bart. Er hatte ein Pferd namens Kosinka, ein einfaches Arbeitspferd, und seine Aufgabe in unserem Film bestand darin, den feurigen Rennpferden, diesen Preisträgern aller möglichen Wettbewerbe, beizubringen, rhythmisch im Schritt zu gehen.
Wir fuhren zu dem 15 km entfernten Drehort - es war wie gesagt, furchtbar kalt - und besichtigten zuerst die Pferdeställe. Zu dieser Zeit gab es in der Sowjetunion Wohnungen, die tausend Mal schlechter waren als diese Pferdeställe. Sie waren blitzsauber, gekachelt, hatten fließend heißes und kaltes Wasser, die Pferde waren gestriegelt, ihr Fell glänzte, wunderschöne Pferde.
Der Kolchosleiter empfing uns gastfreundlich, bewirtete uns mit Tee und verblüffte uns damit, daß er über die Pferde sprach wie über eine geliebte Frau. Er nannte ihre Namen, erläuterte uns ihre Genealogie, erzählte, in welche Länder sie verkauft wurden: nach Amerika, England, Deutschland... Als wir die Preise hörten, konnten wir nicht verstehen, daß die Zucht unrentabel sein sollte.
Die Dollars müßten sie abliefern, sagte der Kolchosleiter, und man dränge sie, die Zucht einzustellen, doch lieber würde er sich umbringen.
Wir drehten also einen Film über diese wunderbaren Pferde und den alten Pferdepfleger, das wurde alles sehr poetisch und reich an Metaphern. Der alte Mann war an sich sehr interessant. Er hatte noch unter dem Zaren als Soldat gedient, er erzählte viel, sang uns längst vergessene Lieder vor usw.

Der Film beginnt damit, wie die Pferde über den Hippodrom jagen. Wir drehten sie aus einem offenen Jeep. Lange wollte man uns diese "Inszenierung" nicht erlauben: es waren ungefähr 35 Grad minus, der Boden war gefroren und vereist, die Pferde entwickeln eine Schnelligkeit von 50 bis 60 km/h und hätten zu Schaden kommen können. Schließlich willigte man ein und wir drehten großartige Bilder, die Pferde rasten direkt auf meine Kamera zu, ihre Nüstern dampften, Boris trieb mich zu immer näheren Aufnahmen an, und wir erhielten Einstellungen von ungeheurer Kraft und Dynamik.
Danach Schnitt. Stille. Winter...
Boris legte immer einen ungeheueren Wert auf die Bildgestaltung seiner Filme, auf ihre Plastik. Wir beschlossen, den Film grafisch zu gestalten: die weiße Reinheit des Schnees, die jungfräuliche Unberührtheit der Natur und vor diesem Hintergrund die Pferde, ihre schnaubenden Nüstern, ihre jagenden Hufe. Der alte Pferdehüter, die großen Augen seiner Enkeltochter und das liebe Arbeitspferd Kosinka, das uns in dem Film als Spielpferd diente, d.h. "schauspielerische Aufgaben" übernahm.
Anfangs machte uns der Frost sehr zu schaffen, doch dann gewöhnten wir uns an ihn, und wenn wir abends im Hotel erschienen, klirrten wir mit unserer Kleidung wie Ritter mit ihren Schildern, wir warfen sie ab und dampften vor Kraft und Lebensfreude.
Die erste Variante des Films wurde in Moskau nicht abgenommen. Das hatte mehrere Gründe. Unter anderem warf man uns wegen der Jahrmarktszenen vor: Wollen Sie etwa darauf anspielen, daß unser ganzes Land am Halfter geführt wird? - Dann gefiel ihnen ein Lied nicht. Unser Pferdepfleger hatte ein sehr schönes altes Soldatenlied für uns gesungen: von einem jungen Burschen, der zur Armee gehen und dort 25 Jahre dienen muß, seine Braut und seine Verwandten weinen, er hat es schwer als Soldat usw. usf. Das Lied mußte entfernt werden, obwohl es sich darin um ein Soldatenschicksal aus der Zarenzeit handelte. Der Film mußte auch umbenannt werden. Er hieß erst "Šagovik" und danach "Kosinka".


Tamara Trampe: Bei den beiden Filmen "Die letzten Spiele" und "Kosinka" fallen mir die Dynamik auf, die Expressivität, mit der sie gedreht sind, und in "Kosinka " natürlich die grafische Bildgestaltung. Und die Trauer. In allem drückt sich eine unbestimmte Trauer aus: in den Pferden, dem alten Mann, der Natur, der Stille...

Nun, sagen wir, der Film ist in Moll gedreht.


Tamara Trampe: In "Die letzten Spielen" müßte diese Trauer vorhanden sein, doch da gibt es sie nicht. Für den einen Film hat Galanter das Drehbuch geschrieben, für den anderen Gureviè und noch irgend jemand. Diese beiden haben fest an dem Thema geklebt, das an sich nicht so interessant ist - die Menschen werden älter, sie sterben, na und, das ist normal - und ich hatte den Eindruck, Galanter war bemüht, dieses Thema zu umgehen, bzw. es anders anzugehen, er ist ihm mit Bewegung begegnet. Das ist das Interessanteste an diesem Film - die Kameraarbeit und der Schnitt. Und dabei stört ständig das Thema. Da sitzt immer dieser unbewegliche Mann, der sozusagen das Thema demonstrieren muß, und hält die Bewegung auf.

Ich kann Ihnen dazu folgendes sagen: Anfangs war der ganze Film etwas anders gedacht gewesen. Boris hatte sich immer für Menschen und menschliche Schicksale interessiert, die gebrochen waren oder einen bestimmten psychologischen Wendepunkt erreicht hatten; die Geologen würden sagen: die sich in tektonischer Bewegung befanden. Boris war der Überzeugung, daß sich ein Mensch in Streß-Situationen stärker entblößt und öffnet als in glatten, normalen. Das betrifft nicht nur seinen Film "Die letzten Spiele", sondern auch "Die besten Tage unseres Lebens". Hier geht es um dasselbe Thema: die Trennung des Menschen von seinem geliebten Beruf, von der Sache, die sein Leben ausgemacht hat. Es handelt sich ja nicht nur darum: Weil einer alt ist, muß er gehen, sondern darum, daß er den Inhalt seines Lebens verliert. In "Die besten Tagen unseres Lebens" wird dieses Thema in der ärztlichen Kommission abgehandelt, und als plastischen Ausdruck haben wir für das, was geschieht, frontale Kompositionen gewählt, weiße Tische, Männer in Weiß, den Göttern gleich, die entscheiden, ob dieser Mensch leben darf oder nicht. Denn wenn er nicht mehr fliegen, seinen Beruf nicht mehr ausüben darf, empfindet er das wie sein Todesurteil. Dabei geht es nicht ums Geld, obwohl er natürlich in so einem Fall auch seinen Verdienst verliert. Wie mag dem jungen Mann zumute sein, dem das ärztliche Gericht sagt: Du darfst nicht mehr fliegen, nie wieder! -
Zu diesem Thema der Trennung befragte Boris in "Die besten Tage unseres Lebens" einen ausgemusterten Flugzeugkapitän: Was werden Sie jetzt machen? - Ich weiß es nicht. Ich kann nichts. Ich kann nur fliegen, und ich will nur fliegen. - Und zu dem jungen Mann sagte er: Es gibt doch so viele Berufe, auf welchen werden Sie umsatteln? - Ich will fliegen, ich will nur fliegen! -
Also hier geht es um mehr, als nur mit einer Tätigkeit sein täglich Brot zu verdienen. Das ist das Thema von Boris: die Sehnsucht des Menschen nach etwas, das über den Alltag hinausreicht, jeder hat einen Traum, eine Vision. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie man sagt. Dieses Thema verfolgt Boris auch in "Die letzten Spiele". Nicht zufällig haben wir in diesem Film eine ganze Reihe von berühmten Sportlern, die abtreten müssen. Darüber wollte Boris noch einen Film drehen, der leider nicht zustande kam. Im Sport gibt es viele Tragödien. Um hier etwas Großes zu erreichen, muß man sich total einbringen, alles andere aufgeben, aber bereits mit 35, manchmal schon mit 25, ist man am Ende und wird aussortiert und interessiert niemanden mehr. Das ist eine riesige Tragödie.

Vor einem Monat hatte mich Nikolaj Durakov aus "Die letzten Spielen" zu einem Treffen eingeladen. Bei der Gelegenheit sagte er: "Boris hat seine Hand immer sehr sorgsam über mich gehalten, er hat immer sehr genau gefühlt, was in mir vorging." - Es gibt Menschen, die können sich sehr gut verbal ausdrücken, es gibt andere, die können es nicht. Bei ihnen muß man am Ausdruck ihrer Augen, ihres Gesichts, an ihrer Körpersprache, an vielen kleinen Nuancen erraten, was in ihnen vorgeht. Und das konnte Boris. Er hatte ja keine Schauspieler vor sich, denen er Anweisungen geben konnte, sondern mußte mit den Menschen umgehen, die sozusagen das Leben selbst vor seine Kamera gestellt hatte. Er hatte die wunderbare Begabung, sich in jeden Menschen einfühlen zu können. Bei Nikolaj hatte er sofort begriffen: Der wird nicht viel sagen, aber was hat er für ausdrucksstarke, traurige Augen! Also Großaufnahmen, Großaufnahmen. Doch in diesem Menschen verbarg sich außerdem eine unheimliche explosive Kraft. Er war Champion im russischen Hockey. Er begann langsam, langsam, aber wenn er einmal losstürmte, konnte ihn keiner einholen. Ausgehend von diesen Gegebenheiten, wählten wir also unsere künstlerischen Mittel, diesen Menschen darzustellen.

Ich muß noch einmal betonen, daß Boris immer sehr viel Wert auf den plastischen Ausdruck dessen legte, was er zeigen wollte. Wir grübelten und suchten immer sehr lange nach den geeigneten optischen Mitteln. Schon bei unserem ersten Film "Die besten Tage unseres Lebens" war das so. Lange wußten wir nicht, wie wir den Flugplatz drehen sollten, wie wir erreichen konnten, daß die Flugzeuge wie lebendige Vögel wirkten und der Flugplatz wie die Welt, die die Menschen eigentlich nicht verlassen wollen. Wir drehten schließlich die Episode, sahen sie uns auf der Leinwand an und sagten: Nein, das ist es nicht! - Wir drehten die ganze Episode noch einmal. Vorher hatten wir Gemälde und Bilder studiert, doch die Episode gelang uns erst, als wir den Einfall hatten, sie mit langer Brennweite zu drehen. Sie wissen, damit erreicht man den Eindruck einer verkürzten Perspektive und schwebenden Bewegung. Wir drehten auf dem Flugplatz Vnukovo. Wir verlängerten die Brennweite immer mehr und hatten schließlich den gewünschten verfremdenden Effekt: die großen silbernen Vögel, einander überlagernd und freigebend, eigenartige Bildkompositionen entstanden, wir hatten uns eine Fülle neuer plastischer Ausdrucksformen geschaffen. Ich will mich nicht loben, doch ich glaube, ich bin einer der Ersten, der Flugzeugstarts und -landungen mit langer Brennweite gedreht hat. Später konnte man das oft sehen, in Spielfilmen wie in Dokumentarfilmen, doch wir machten das im Jahr 1964.
Auch bei "Die letzten Spiele" befriedigte uns das anfänglich gedrehte Material nicht. Irgend etwas fehlte uns. Boris sagte: Ich muß einen Weg finden, die Schnelligkeit, die Dynamik dieses Menschen Nikolaj Durakov sichtbar zu machen.
Unser Studio besaß zwei Objektive von Carl Zeiss, Kriegsbeute, mit denen hatte sicher schon Leni Riefenstahl die Nürnberger Aufmärsche gedreht, nun, wenn nicht mit denen, so doch mit ähnlichen. Es handelte sich um Objektive mit einer 450iger Brennweite und einer 650iger Brennweite, und sie hatten ein Diafragma. Bei uns gab es solche Objektive erst viel später. Mit diesen Objektiven erreichte man eine vielfache Beschleunigung der Bewegung, und wir erhielten die Effekte, die wir brauchten.


Tamara Trampe: Ich habe den Eindruck, daß Boris Galanter in seinen Filmen immer versuchte, die Grenzen des Dokumentarfilms zu überschreiten.

Natürlich, natürlich. Boris lehnte die Kategorisierung in Dokumentar- und Spielfilme ohnehin ab, für ihn waren beide Formen, wenn sie gelangen, Kunstwerke, und er sah den Unterschied zwischen ihnen nur darin, daß in den einen Schauspieler und in den anderen keine Schauspieler vor der Kamera standen. Deshalb war er der Meinung, Dokumentarfilme verlangten nach den gleichen Spielregeln und dem gleichen künstlerischen Aufwand wie Spielfilme. Auch im Dokumentarfilm existieren unterschiedliche Genres, gibt es Komödien und Tragödien, kann man ebenso bewegend Liebe, Freundschaft und Haß, Geburt und Tod darstellen wie im Spielfilm, im Theater oder in der Literatur. Boris war ein Vertreter des künstlerischen Dokumentarfilms. Daher rührte die große Aufmerksamkeit, die er dem Standpunkt und der Bewegung der Kamera schenkte, der Plastik seiner Bilder, jedes Detail in seinen Einstellungen war durchdacht, nichts war zufällig. Er achtete auf die Kleidung seiner Helden und darauf, vor welchem Hintergrund er sie drehte, auf die Beleuchtung und die Bildkomposition - Dinge, um die man sich üblicherweise nur im Spielfilm kümmert. Sein Film "Jahrmarkt" wirkt wie ein echter Spielfilm. Er bekam vom zentralen Fernsehstudio den Auftrag, ein buntes Programm zum Neuen Jahr zu drehen. Daraus wurde etwas völlig Unerwartetes. Dieser Film war wie die erste Schwalbe, die erste Verheißung eines pantomimischen Musicals. Boris hatte versucht, aus der sonst üblichen Aneinanderreihung von musikalischen, pantomimischen und Ballettnummern ein neues Genre zu schaffen, indem er sie miteinander verflochten hatte. Wir haben voller Begeisterung am "Jahrmarkt" gearbeitet, wir hatten erstklassige Szenenbildner, die uns ein fantasievolles, luftiges, großzügig interpretierbares Bühenbild schufen. Sie schminkten sogar die Schauspieler selbst.


Tamara Trampe: Verfilmte Bühnenstücke wirken in der Regel immer irgendwie tot. Man fühlt immer die Distanz zwischen Bühne und Zuschauer. Wie ist es Boris gelungen, aus diesem Bühnenprogramm einen richtigen Film zu machen?

Ich sagte es schon: Wir haben die Kamera nicht einfach hingestellt und gedreht, was man uns angeboten hat. Ein guter Ballettmeister - er ging später nach Frankreich - hatte das Programm inszeniert. Wir waren bei allen Proben dabei, die übrigens ein Genuß für uns waren, und haben dann das Geschehen mit rein filmischen Mitteln aufgelöst und miteinander verbunden, so daß ein neues eigenwilliges Filmgenre entstanden ist.


Tamara Trampe: Welche Eigenschaft von Boris war für Sie in Ihrer Zusammenarbeit mit ihm am wichtigsten? Und wenn Sie heute jungen beginnenden Dokumentaristen etwas mit auf den Weg geben könnten - was würden Sie als das Wichtigste in diesem Beruf bezeichnen?

Zuerst möchte ich einige Worte über die menschlichen Qualitäten von Boris sagen, sie sind ja untrennbar mit seinen Qualitäten als Künstler verbunden.
Er gehört für mich zu den reinsten, talentiertesten und klügsten Menschen. Er war sehr gütig. Sein Verhältnis zu anderen war bestimmt von Takt und Verständnis. Ich weiß nicht, ob er Feinde hatte, ich kann es mir nicht vorstellen, denn er war absolut uneigennützig und half allen, die ihn darum baten. Viele von denen, die heute gestandene Meister ihres Berufs sind, hat er bei ihren ersten Arbeiten unterstützt. Und wie er sich über die Erfolge seiner Kollegen freuen konnte!
Diese wunderbaren menschlichen Eigenschaften, die Boris besaß, bestimmten natürlich auch unser Verhältnis, und ich bin sehr schnell seinem Charme verfallen. Schöpferische Diskussionen gab es bei uns immer, und besonders bei unserem ersten gemeinsamen Film wollte ich meine Positionen durchsetzen. Doch unsere Diskussionen waren immer bestimmt von der Achtung vor dem anderen und der Achtung vor dem Film, d.h. keiner von uns beiden sagte: Ich will es eben so! - Boris als Regisseur hätte das durchaus machen können! - sondern wir bemühten uns immer, einander zu überzeugen und kannten keine persönliche Eitelkeit, wenn der andere überzeugender war.
Wenn wir den Drehort verließen, hörten wir nicht auf zu arbeiten, wir wohnten in den Hotels zusammen, und unsere Diskussionen über den jeweiligen Film gingen pausenlos weiter.

Jungen Filmemachern würde ich raten: Denkt 24 Stunden am Tag an eure Arbeit! Und nicht: jetzt habe ich abgedreht und gehe Wodka trinken.
Zwischen Boris und mir war es durchaus üblich, daß wir uns nachts anriefen und weckten, wenn einer von uns ein Problem oder einen Einfall hatte, d.h. unsere gedankliche Auseinandersetzung mit unserem Thema hörte nie auf.
Boris besaß das Talent, sehr fein und taktvoll zu erklären, warum er etwas so und nicht anders haben wollte. Wenn meine Argumente ihn überzeugten, nahm er sie an, wenn nicht, überzeugte er mich immer auf eine Weise von seinem Standpunkt, die nie kränkend für mich war. Ich fühlte mich auch dann von ihm geachtet und bestätigt. Es ist nur zu einfach zu verstehen, daß ich ganz im Bann des Talents und Charme dieses Menschen stand.
Aus unserer Zusammenarbeit wurde mit der Zeit Freundschaft, unsere Familien und Freunde befreundeten sich miteinander, man kann sagen, am Ende war unsere Leben miteinander verflochten wie das liebender Ehepartner. Wir liebten einander in einer echten festen Männerfreundschaft.

Übersetzung von Iris Gusner, August 2000
(Teilabdruck im Katalog des 43. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, Oktober 2000)

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