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Filme von: Molly Dineen - Nurith Aviv - Gisela Tuchtenhagen



Molly Dineen

Molly Dineen

Sie hatte ihr Filmstudium an der National Film and Television School noch nicht beendet, als sie ihren ersten Film Home from the Hill drehte. Seit 1988 arbeitet sie für BBC 2 und Channel Four. Sie erhielt unzählige renommierte Preise.
Ihr Werk umfaßt bisher neun Filme, wovon wir die sechs wichtigsten Werke zeigen.
Diese junge Filmemacherin und Produ-zentin nimmt sich Zeit für beharrliche und eindringliche Beobachtungen an Ort und Stelle, sie fragt und diskutiert, um der Komplexität von Mikrokosmen mit ihren Ritualen, Regeln und Reichtümern gerecht zu werden.
Es geht ihr um eine behutsame und differenzierte Annäherung an die britischen Identitäten, ihre sozialen Verhaltensmuster und Wertvorstellungen.
Als der Westdeutsche Rundfunk im Oktober 1997 fast das gesamte Werk Molly Dineens ausstrahlte, erschienen in den Filmzeitschriften hymnische Kritiken. Leider wurden die Filme jedoch - wie üblich - zu so später Stunde programmiert, daß nur Insider Molly Dineens Werk kennenlernen konnten.
Wir zeigen ihre Filme in Deutschland zum erstenmal auf einer Leinwand.
Obwohl Molly Dineen bis vor kurzem auf 16 mm-Film gedreht hat, sind ihre Filme elektronisch nachbearbeitet und fertiggestellt worden. Wir können sie daher nur als Betacam-Kopien zeigen. Wir hoffen, daß Dineens exquisite Kameraarbeit auch auf der Kinoleinwand sichtbar wird.

Aus dem Leben der Alpha-Männchen

Als Alpha-Männchen bezeichnet die Verhaltensforschung jene dominanten Tiere, die die Geschicke der Sippe lenken und eine Menge Privilegien genießen, deren Leben jedoch auch durch einen hohen Streßfaktor belastet ist. Die englische Dokumentaristin Molly Dineen befaßt sich seit Mitte der achtziger Jahre mehr oder weniger mit diesen "Alpha-Menschen", porträtiert mit Einfühlungsvermögen und Charme typisch englische Eigenheiten, beschreibt Zustände, wie sie nur im Mutterland der Demokratie denkbar scheinen, stellt neben den Menschen immer auch die Systeme vor, die ihnen Arbeit, Sicherheit und Lebenssinn geben.

Der Kolonialoffizier, der nach fast 50jähriger Abwesenheit aus Kenia nach England zurückkehrt, sich zwar auf dem Poloplatz aber nicht in seiner Küche zurechtfindet und nachfragen mußt, wie ein Ei gekocht wird; die alte Dame, die noch immer auf ihrer Farm in Kenia mit ihrem Hunderudel lebt, die Kinder ihrer Landarbeiter zu Weihnachten huldvoll beschenkt und der Nationalhymne zu Sylvester zu Tränen gerührt lauscht; die Londoner Vorstadt-Undergrundstation Angel, in der geordnetes Chaos herrscht und deren frustrierte Mitarbeiter sich englisch-freundlich mit dem berühmten Spleen geben, jedoch kein Wort über die vorindustrielle Maloche verlieren, die nächtens im Tunnel-Labyrinth von weiblichen Reinigungskräften und irischen Gleisarbeitern geleistet wird; Tiefbauarbeiter in London, in der Mehrzahl nordirische Leiharbeiter, die als Billiglohnkräfte der Perspektivlosigkeit ihrer Heimatinsel entfliehen wollen; die Angestellten des Londoner Zoos, die Anfang der 90er Jahre mit einem neuen (Miß-) Management konfrontiert werden und plötzlich Erträge erwirtschaften sollen, an Personal und Tieren "schlanker" werden müssen; last but not least eine Eliteeinheit der englischen Armee, ein Regiment, das dem Prinzen of Wales, besser bekannt als Prinz Charles, unterstellt ist, und dessen 100 Soldaten in einem weitgehend ruhigen nordirischen Flecken den Schutz von acht Polizisten sicherstellen.

Molly Dineen, hierzulande weitgehend unbekannt, versucht, eine Gesellschaft im Umbruch darzustellen, zwischen Tradition und einer nicht klar umrissenen Zukunft. Eine Gesellschaft, die trotz aller Brüche und Widersprüche auch immer ihre liebenswerten Seiten hat, deren Mitglieder sich trotz aller Veränderungen fest im Gefüge ihrer jeweiligen Klassen wähnen, auch wenn von dieser selbst gar nicht mehr so viel übrig geblieben ist. Vergangenheit ihres Landes in all ihren Facetten aufzuarbeiten, ist das große Thema ihrer Filme, dem Vermächtnis des englischen Empires gilt Dineens Interesse. Das können Gespenster sein, die eher skurril auf den Plüschsofas hocken; drückende Altlasten, die soziale Kluften und Abgründe schaffen; der Schrecken, der in IRA-Heckenschützen Gestalt annimmt. Kolonialismus heißt das zentrale Thema von Dineens Filmen und sie spürt dieses Thema in den scheinbar entlegensten Ecken auf. Im Londoner Zoo etwa, der 1826 gegründet wurde, um die Artenvielfalt des Weltreichs zu demonstrieren und zugleich für Artenschutz zu sorgen. Heute herrschen desolate Verhältnisse; Panda-Bärin Ming Ming sorgte zwar für einen enormen Besucherandrang, brachte aber nicht den erhofften Nachwuchs zur Welt und blockierte indirekt andere For-schungs- und Artenschutzprogramme. Dineen zeigt die Angestellten des Zoos vor der großen Entlassungswelle, zeigt ihre Angst und ihre Hoffnung und die absurden Folgen der Sparmaßnahmen. Etwa wenn der Pfleger, der sich seit 30 Jahren um Ziervögel kümmert, plötzlich angstschlotternd im Löwenkäfig aushelfen muß. Oder aber das Schicksal der Royal Welsh Gards, deren Kommandeur sich im Laufe der achtmonatigen Dreharbeiten als Freigeist und Musenfreund zu erkennen gibt, den aber Patriotismus und der Glaube an Eigenschaften wie Disziplin und Stolz seine Einheit mit harter Hand führen lassen. Die Armee scheint noch am ehesten der Mikrokosmos zu sein, in dem koloniales Erbe überleben kann. Eine von sich selbst überzeugte Männergesellschaft, die nach festgefügten Regeln funktioniert, nur nach ihnen funktionieren kann. Eine Gesellschaft aus Alpha-, Beta- und Gamma-Männchen.

Mit ihren Filmen ist Molly Dineen ein unglaubliches Paradox gelungen: sie legt den Finger auf Wunden, bringt zugleich Verständnis für die jeweilige Misere auf und es gelingt ihr immer wieder, zur Vertrauensperson ihrer Gesprächspartner zu werden, die freimütig über ihr Leben und ihre Träume berichten: sie wissen, daß sie von dieser einfühlsamen Filmemacherin nicht spätestens im Schnei-deraum vorgeführt werden. So behält bei aller Kritik der alte Chauvi-Kolonialist ebenso seinen Charme wie die äußerst bigotte Lady in Kenia, die englische Besatzungsarmee wird mit ihren Problemen ebenso verstanden wie der irische Malocher, der in London das - für seine Verhältnisse - 'große Geld' macht und sich halbherzig nach seiner grünen Insel zurückträumt. Und die vier Stunden über den Londoner Zoo sind einfach ein Glücksfall für den Dokumentarfilm, da sie an einem relativ überschaubaren System ge-samt-ge-sell-schaft-liche Zusammenhänge deutlich machen und wunderbare Menschen mit ihren großen und kleinen Sorgen zeigen, aber auch die Freude an einer sinnvollen Arbeit vermitteln. Ein kleiner Staat im Staat, regiert von inkompetenten Repräsentanten, kontrolliert von einer zerstrittenen Gesellschaft, am Leben erhalten von treusorgenden Pflegern, und bevölkert von Tieren, die Tag für Tag ihr Publicity-Image unter Beweis stellen müssen - für die fast kostenfreie Aufzucht einer so gut wie ausgestorbenen Schneckenart ist da keine Zeit und kein "Geld" mehr. Aber Dineens Filme zeigen auch, daß Widerstand erfolgreich sein kann, vielleicht nicht gerade in der Armee, aber im Zoo, dessen engagierte Mitarbeiter immerhin den neu eingesetzten Direktor per Mehrheitsentscheid und Kampfabstimmung seines Amtes entheben konnten.
Eine Reihe ebenso reizvoller wie interessanter Filme, die sich nicht nur durch ihre Sachkompetenz, sondern auch durch ihren Sinn für hintergründigen (Überlebens-) Humor und verschrobenen Witz auszeichnen. Filme, die nie diffamierend, aber unglaublich unterhaltend sind und die erneut unter Beweis stellen, daß das wirkliche Leben viel interessanter sein kann als die Kopfgeburt hochbezahlter Drehbuchautoren.
Hans Messias in film-dienst 21/97

BIO-FILMOGRAFIE
Molly Dineen

Filmstudium an der National Film and Television School, für den sie ihren ersten Film Home from the Hill drehte. Seit 1988 arbeitet sie für BBC 2 und Channel Four.
Sie erhielt unzählige renommierte Preise.
Wir zeigen ihre sechs wichtigsten Werke.

Filme
1985 HOME FROM THE HILL
1988 OPERATION RALEIGH, THE MOUNTAIN, THE VILLAGE
1988 MY AFRICAN FARM
1989 HEART OF THE ANGEL
1990 THE PICK, THE SHOVEL AND THE OPEN ROAD
1993 THE ARK
1995 IN THE COMPANY OF MEN
1997 TONY BLAIR - "THE MOVIE"
1999 GERI